Kategorie: Mare Più

Galiziens wilde Küsten. Durch den Nebel nach A Coruna. Zum ältesten Leuchtturm der Welt.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus unterwegs, 
um einhand für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas 
bis in die Bretagne zu segeln. 
Fast bis Ende Juli war ich in Portugal unterwegs, bevor ich Spaniens Nordküste erreichte.

Kap Finisterre. Das Ende der Welt. Es gibt viele Kaps in vielen Sprachen, die diesen Namen tragen.

Meine Reise entlang Portugals Küste bis Mitte Juli war klimatisch so ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte mit vielem gerechnet. Hitze. Hohe Wellen. Starkwind und gleißendes Licht. Stattdessen war ich meist bei Windstille unterwegs. Und in Dunst und diesiger Sicht. Selbst den Portugiesen war ihr Wetter nicht geheuer: Seit Mai war kaum ein Sommertag, wie sie es eigentlich gewohnt waren.

In Nordspanien war das Wetter nicht anders. Im Gegenteil. Die Grenze, die Portugal von Nordspanien trennt, war nicht erkennbar. Nördlich von Vigo, am Kap Finisterre, das spanisch Cabo Fisterra heißt und Spaniens äußerster westlichster Zipfel ist, steuerte ich stundenlang durch dichten Nebel. Galizien, Spaniens regenreichste Ecke, hieß mich willkommen. Fahren war nur mit Radar möglich. Es sah, was ich nicht sehen konnte. Das Kap vor mir. Und ein Boot, das wenige 100 Meter im Nebel verborgen mich begleitete. Ich sah es nicht, doch es wich nicht, wie ein treuer Hund. Nach einer halben Stunde wurde es mir unheimlich, wie es einem unheimlich ist, wenn man eine Grenze überschritten hat. Ob es in Nordspanien Piraten gab? Das Boot blieb mein Radarschatten, es folgte mir. Als für einen kurzen Moment der Nebel aufriss, sah ich, dass es ein Segler war, der wie ich auf Cabo Fisterra zuhielt.

Das Kap selbst fand ich nur auf dem Radar: Eine gelb geriffelte Linie, die das Auge des Radars sah und auf den Bildschirm zeichnete, auf die ich zuhielt. Als ich näherkam eine Handvoll Felsen, die aus dem Nebel hervor wie Gespenster lugten. 

Wie so oft am Abend, lichtete sich der Küstennebel. Ich erreichte die Bucht von Camarinhos, ein traumhafter Platz, geschützt vor einem Sandstrand.

Am Morgen lag dichter Nebel über der Bucht. Kein Geräusch war von der noch am Abend lebhaften Kleinstadt am Ufer zu hören. Keine Lärm aus dem Hafen. Oder vom Volksfetsplatz. Alles war still, als wäre die Welt nicht nur in Nebel, sondern dick in Watte gehüllt.

Nur die Sonne war zu sehen, die an diesem Morgen irgendwo über den Wolken auf Levjes taunasses Deck schien. Taubehangene Spinnweben am Seezaun. Als wäre ich im September in meiner Heimat in Bayern unterwegs. Doch dies hier war zweifellos Spanien. Ich hatte es anders erwartet.

Als ich Camarinos am nächsten Mittag verließ, wurde das Wetter schlechter. Der Nebel verschwand nach kurzer Aufheiterung, Regenwolken zogen von Nordwesten heran. Der Himmel verdüsterte sich, die Sicht verringerte sich. Am späten Nachmittag zog ich mir Seestiefel und Regenjacke an. Feiner Nieselregen setzte ein, der englischen Herbstregen glich, während der Regenwind Levje weiter nach Nordosten Richtung A Coruna trieb, auf ein großes Bauwerk zu, das ich schon von weitem durch den Niesel sah. Und das irgendwie drohend im Grau aussah.

Es war Abend, als ich die Stadt erreichte. Genauer gesagt: Ich sah ihre Silhouette querab. Erst die Hochhäuser. Dann im Inneren einer Bucht den langen, nach Norden zugewandten Sandstrand. Und dann eine vorgelagerte einsame Insel, auf der jener riesige Turm stand, den ich seit Stunden vor mir durch den Nieselregen gesehen hatte.

Erst in den folgenden Tagen sollte ich ihn bei Tageslicht sehen. Und herausfinden, dass es der älteste Leuchtturm der Welt war, der noch in Betrieb war. Ich sollte herausfinden, dass der „Torre de Hercules“ Corunas Wahrzeichen war. Die Römer hatten den Turm errichtet, wenige Jahre, nachdem

im Osten ein Mann namens Jesus von Nazareth hingerichtet worden war. Davon wusste vermutlich im römischen Brigantium – so hieß die kleine Hafenstadt an der inneren Bucht – kaum jemand. Auch der Architekt nicht, den man mit dem Bau beauftragt hatte, Gaius Sevius Lupus. Er stammte aus Aeminium, dem portugiesischen Coimbra, und ließ in den 65 Meter hohen Bau alle Bau-Raffinesse seiner Zeit mit einfließen. Nicht ein einziger Turm sollte es werden, um dem Bauwerk Stabilität zu geben. Sondern an diesem extremen geografischen Punkt der römischen Welt, an der der Schiffsverkehr aus Gibraltar nach Britannien und zu den Rhein-Provinzen verlief, sollte etwas Dauerhaftes entstehen. Zwei Türme ersann der Architekt, beide von quadratischem Grundriss, doch ineinander gesteckt. Und verbunden durch eine Rampe, die zwischen dem Inneren und dem Äußeren Turm nach oben lief und die zugleich ähnlich einer Treppe als stufenloser Weg nach oben führte. 

Man weiß nicht, wieviele Sklaven nötig waren, wie lange sie schufteten, um das gigantische Bauwerk fertigzustellen. Roms Wirtschaft war eine Sklavenwirtschaft, die fortwährenden Kriege an den Grenzen spülten immer neue Sklaven ins Reich. Sie waren in Hülle und Fülle vorhanden. Ihre Geschichte kennt man nicht.

Heute führt der Weg über normale Treppen nach oben, von der früheren Rampe, die nach oben führte, haben die Jahrhunderte nichts übrig gelassen. Doch das Licht des römischen Leuchtturms, das ist noch vorhanden. Eine überdimensionale Öllampe, groß wie ein Wagenrad, die man bei Ausgrabungen

vor ein paar Jahren entdeckte. Ein Stein wie ein Mühlstein. Eine Mulde in der Mitte, deren Öl die Lichtquelle war und die über einen großen Hohlspiegel aus der Turmkammer nach draußen geleitet wurde. Versuche von Studenten ergaben, dass das Licht auf eine Distanz von 10 Seemeilen gut sichtbar war. Dass man hier derartigen Aufwand hatte einen guten Grund: Eine Seekarte im Museum des Torre de Hercules zeigt hunderte von Wracks, die unmittelbar vor den Kaps Galiziens liegen. Schon die Römer müssen die Verluste gespürt haben, die an dieser wilden Küste entstanden.

Nach den Römern verfiel das Gebäude. Weder die Germanenstämme, Sueben und Westgoten, die nach den Römern kamen, noch die Mauren hatten die Kraft oder das Interesse, den Turm instand zu halten. Die Schifffahrt, wie die Römer sie gekannt hatten, Massengütertransport und Massentransportweg für Waren, neue Ideen und Religionen: Diese Art von Schifffahrt brach zusammen. Was sich danach an Seefahrt erhielt, blieb für 1.000 Jahre das gefahrvolle Geschäft einzelner. Bis man sich im Zeitalter der Entdeckungsfahrten auch am Kap wieder an den Turm der Römer als Leuchtturm erinnerte. Und gelegentlich nachts einen eisernen Korb mit brennenden Kohlen an die Turmspitze hängte.

Das Bauwerk verfiel. Der Außenturm wurde als Steinbruch genutzt fürs nahe Coruna, seine Kirchen,  seine Festungen. Erst mit Napoleon kam das Interesse an einem Leuchtturm wieder in die Welt. Und seither ist das Licht auf dem Torre de Hercules nicht mehr erloschen. Allen Nebeln zum Trotz.

Durch den Nebel. Durch die Lagunen von Aveiro.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus unterwegs, 
um einhand für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas bis in die Bretagne zu segeln. 
Seit Anfang Juli bin ich in Portugal unterwegs. 
Durch Zufall verschlägt es mich in die Lagunen von Aveiro.

Seit Gibraltar war es vorbei gewesen mit dem Mittelmeer-Sommer. Ein ungewöhnlicher Sommer, sagten selbst die Portugiesen. Das Wetter war grau und dunstig, meist startete ich Levjes Motor im windstillen Grau irgendeines Flusshafens, der träge von den Gezeiten durchspült wurde. Die Sonne, die am Morgen den Dunst über mir zum Leuchten brachte. In Figueira da Foz auf dem anderen Flussufer eine Feldlerche, die unsichtbar gebettet im milchigen Licht über den Marschwiesen ihr endloses Lied sang.

Ich fuhr weiter nach Norden. Es blieb grau tagsüber. Die Wellen als große Roller von Nordwesten, majestätische Hügelketten, die Levje sanft anhoben, um sie danach ebenso sanft in eine Wellental gleiten zu lassen, bis aus dem Grau die nächste Hügelkette sanft anrollte. Atlantikwelle – so ganz anders als die Wellen des Mittelmeers.

Am Nachmittag plötzlich vor mir hohe Molen im Nebel. Ein kurzer Blick in die Seekarte: Ria de Aveiro stand da. Und dahinter war ein war eine Marschlandschaft eingezeichnet, durchzogen von Adern, die alle der einen großen Arterie zustrebten, an deren Ende ich jetzt stand. Eine Lagune. Ich beschloss, einzulaufen, spontan dem größten der Flüsse zu folgen, und legte Ruder auf die Einfahrt. Kaum hatte ich die Molen passiert, setzte die Strömung ein. Der Fluss strömte mit fast drei Knoten dem Meer entgegen, wo Levje eben noch mit sechs Knoten dahinfuhr, zeigte das GPS nur nur 3 Knoten. Und Wirbel. Und Zipfelmützen. Und Strudel. Wasser, das auf breiter Front wirbelnd zur Mündung drängte, achtlos, ob da jetzt jemand drauf fuhr oder nicht. Vom einen Moment auf den anderen Levje einfach so in einem der großen Wirbel aus dem Kurs drehend, als wäre sie ein Spielzeug auf einer Drehscheibe. Ob ich dort vorne in der Einfahrt vor dem Sandstrand ankern sollte? Ein Fischer gab die Antwort. Er überholte uns rechts außen, was sollen Ebbe und Flut, er gab einfach Gas und stampfte langsam gegen die Strömung an.

Wir kamen mit 2-3 Knoten zwischen den hohen Steinmolen voran. Es machte nichts. Ein paar Angler  warfen aus ihren kippeligen Booten ihre Ruten aus. Auf dem Sandstrand, der Praia da Barra, Sommerfreuden von Strandurlaubern im lichtlosen Grau. Ein hoher Leuchtturm. Nach einer halben Meile hatten wir den gröbsten Sog der Mündung hinter uns. Der Fluss lag hinter uns. Ein Frachter der uns folgte.

Lagunen. Immer wieder zogen sie mich an. Von Gezeiten, Flüssen und Kanälen durchzogenes Marschland am Meer. Ich kenne die Lagunen im Mittelmeer, ich habe viel Zeit in den Lagunen der Nordadria verbracht, als ein langes Wochenende alles war, was ich an Zeit hatte. Erst die Lagunen von Grado. Dann die von Marano und Lignano. Und dann so oft es ging, in die Lagunen von Venedig, selbst im Winter auf dem Boot. Lagunen gibt es auch in Griechenland, im Golf von Patras in Mesolonghi, wo sie den Rogen der Meeräschen ernten, einsalzen und zu Brotlaiben geformt als Delikatessen verkaufen. Und hier in Portugal ganz im Süden die Lagunen von Faro. Jetzt also die Lagunen von Aveiro.

Lagunen. Sie erzählen die Geschichte eines ungeahnt reichen Lebensraums. Und die von Salz und Fisch. Und manchmal gerät eine Fahrt durch die Lagunen zu einer Reise durch die Geschichte, sie sind wie ein offenes Buch, das berichtet, wie sie einst besiedelt wurden.

Wir haben noch immer zwei Knoten Strom gegen uns. Doch der Fluss ist nun ruhiger geworden, Strudel und Wirbel, wo der Fluss aufs Meer trifft, sind nun ein gleichmässigen Strömen gewichen. Levjes Motor wird nun von Süßwasser durchspült, denke ich, während wir am Ufer langsam an den Schlickbänken entlanggleiten, vor denen Sammler von Steckmuscheln ihre einfachen Boote vertäut haben.

Lagunen. Wahrscheinlich beginnt ihre Geschichte genau damit: Mit Jagen und Sammeln. Mit den Fischern in ihren kippeligen Booten. Und den Sammlern. Mit denen, die früh entdeckten, dass die Lagunen Nahrung in Hülle und Fülle boten, die die Gezeiten jeden Tag freilegen. Im Brackwasser gedeihen alle Arten von Fischen und Krebsen. Aber vor allem die freiliegenden Schlickbänke ziehen immer wieder die Muschel-Liebhaber an. Während Levje gegen zwei Knoten Strom flussaufwärts anmotort, passieren wir sie wieder und wieder, wie sie barfuss im Schlamm des Flusses waten und tiefgebückt nach Muscheln stochern. Soweit man es weiß, fing damit alles an in den Lagunen: Mit dem „Ernten“ dessen, was sie hergaben. Vorausgesetzt, man war bereit, ein Leben zu leben, das dem eines Wasservogels ähnlicher war: Sommer wie Winter auf dem Wasser, Umgeben vom Geruch nach Werden und Vergehen.

Eine Flussbiegung. Dahinter mündet einer zweiter Fluss. Auf der freiliegenden Schlickbank ist eine ganze Familie, die dort ihr Boot vertäut hat und jetzt im Flusschlamm nach Muscheln stochern. Hinter ihnen sehe ich weitläufige flache Gevierte, in denen Wasser steht. Salinen. Ob man die immer noch zur Salzgewinnung nutzt, denke ich, während ich im trägen Strom Ruder lege.

Auch dies gehört zur Geschichte der Lagunen: Nach dem Sammeln kam die Salzproduktion. Weiter hinten, wo vor der Stadt Alveiro die Industriebetriebe längst den Marschwiesen gewichen sind, liegen die einfachen Gevierte in den sumpfigen Marschwiesen, in die man mit der Flut das Meerwasser einströmen lässt. Dann abriegelt. Und es dann einfach über Wochen verdunsten lässt. Das „Fleur du Sel“ ensteht so, der feine auskristallisierte Salzschaum, der so kostbar ist. Und das grobkörnige Salz auch. Salz war der Grundstoff, um Fisch zu konservieren. Am Anfang wahrscheinlich nur den für den eigenen Bedarf, den die Lagunen hergaben.

Salz: Es war das Konservierungsmittel der Antike bis weit in die Neuzeit. Salzfleisch. Salzhering, Ancovis in Salz, Kapern in Salz: Ohne Salz wäre die Menschheit nie so weit gekommen, wie sie kam. Salz wurde erst abgelöst als Konservierungsmittel durch eine Erfindung, die vermutlich mehr Menschenleben rettete als die ganze Pharma-Industrie zusammen: Durch die Entdeckung der Kühlung von Lebensmitteln durch Eis. Und die nachfolgende Erfindung des Eisschranks. Aber das ist noch nicht so lange her.

Eben zieht wieder der Nebel über den Fluss. Wir haben immer noch zwei Knoten Strom gegen uns, doch ein leichter Wind weht vom Meer her über die Marschen. wir kommen damit gut voran. Ein Silberreiher steht auf einem Bein im Wasser und beobachtet uns reglos.

Irgendwann stellten die Fischer fest, dass sie mehr Salz und mehr Fisch produzierte, als sie selber verbrauchten. Sie begannen, mit dem Salzfisch zu handeln, wo er doch nun haltbar war und gleich in zwei Tagen gegessen werden musste. Weil es vor allem in den umliegenden Städten, im Binnenland, in Coimbra, in Porto dankbare Abnehmer gab, bauten sie dieses Geschäft aus. Und fischten nicht mehr nur in den Lagunen, sondern auch draußen auf dem Meer. Die Produktion von Salzfisch wurde umfangreicher. Und der Handel dehnte sich weiter aus.

Im Nebel tauchen am rechten Ufer Schemen auf: Ich steuere Levje näher heran. Drei Trawler liegen vor den Fischfabriken vertäut, als wäre dies der Ort, an dem ihre Fahrt endete. Sie waren sicher mal stolze Trawler, die auf weite Fahrt gingen und portugiesische Namen und Orte an weit entfernte Orte trugen: São Rafael, der Name des Erzengels, den so viele portugiesische Schiffe trage, weil er der portugiesische Heilige der Seefahrenden ist. Praia da Eriçeira, benannt nach dem  vor Lissabon – und nach dem Hafen, der einst einer bedeutendsten Portugals war. Muryosa. Mit ihren breiten Hecköffnungen waren sie vermutlich Kabeljaufischer, die meistens weit im Nordatlantik und Nordpolarmeer unterwegs waren. Auch ihre Geschichte beginnt mit dem Salz, das die Lagunen im Überschuss produzierten. Das eine war: Den Fisch fangen. Das andere: ihn haltbar zu machen. Erst dann konnte man ihn zu Geld machen, indem man damit handelte. Die Geschichte des Bacalao, des gesalzenen Stockfischs, ist die, wie man nicht nur den Fang aus den Lagunen mit dem Salz konservierte, sondern immer weiter hinausfuhr, weiter und weiter. Dorthin, wo schon die Pilgerväter auf ihrer Mayflower schwärmten, dass man den Fisch mit einem Eimer aus dem Meer schöpfen konnte, so sehr wimmelte es dort. Gemeint ist der Kabeljau. Und gemeint sind die Gebiete zwischen Island und Neufundland. Aber was half es, wenn es dort Fisch im Überfluss gab, den man nur hier zu Geld machen konnte? Also nahmen sie auf ihre Fahrten Salz mit. Um den Fisch gleich an Ort und Stelle einzusalzen, haltbar zu machen. Und als Bacalao, als eingesalzenen und getrockneten Stockfisch sackweise verkaufen zu können. Die Hallen und Firmengebäude, erzählen samt der davor liegenden rottenden Schiffen, wovon die Gegend um Aveiro einst reich wurde und wovon sie heute noch lebt. Vom Fisch, der irgendwo anders gefangen und noch an Bord verarbeitet wird.

Ein stählerner Rahsegler, der an Leinen voller grünem Seetang am Ufer rostet. Was wohl seine Geschichte ist? Ob der Viermaster mal ein Passagierschiff war? Ob er auf einen findigen Unternehmer wartet, der ihn grundsaniert, Kairos tauft und für Reisen an historische Orten einsetzt? Ob er auf seine letzte Reise nach Indien zur Verschrottung wartet? Die Dinge gehen ihren Weg.

Der Fluss wird enger. Nach dem Tidenkalender müsste der Strom jetzt langsam schwächer werden. Wir haben jetzt fast Ebbe. Ich bin mit Levje allein auf dem Fluss unterwegs, am Ufer liegen die Schlickbänke vollends frei. Die Kronen der Schilfhalme rascheln im Nebel im schwachen Wind erhaben auf ihrem schlammigen Buckel. Verfallende Backsteingebäude am Ufer, Wasser, was durch ein dickes Rohr aus einem Salinengeviert in den jetzt tief liegenden Fluss herabstrudelt. Es ist gut, dass wir genau zur Ebbe vor Aveiro ankommen. Denn zwischen mir und der Stadt ist in der Seekarte eine Starkstromleitung über den Fluss eingezeichnet. Levjes Mast misst vom Wasser bis zur Spitze 16 Meter, ich weiß nicht, wie hoch die Leitung über den Fluss führt. Das fehlte jetzt noch, ein kurzer Stromschlag in Levjes Mast. Oder die heruntergerissene Stromversorgung einer Siedlung. Ich frage einen Segellehrer, der in seinem Schlauchboot die Kinder in ihren Optis auf dem Fluss begleitet, in mageren Portugiesisch, wie hoch die Leitung 100 Meter weiter flussaufwärts ist. Doch er zuckt nur die Schultern. Besser so als eine falsche Auskunft nur aus Höflichkeit, es hätte üble Folgen. Ich rufe noch mal in der Marina an. Endlich hebt jemand ab. Vivaldi heisst er. Und Vivaldi sagt, ich könne beruhigt sein: Die Leitung liefe bei Ebbe mindestens 22,50 Meter über den Fluss. Doch beruhigt bin ich noch nicht, als ich die Leitung im enger und enger werdenden Fluss erreicht habe. Von unten bin ich hilflos, kann meine Höhe vor den Leitungen nicht einschätzen, also schaue ich hinüber zu den drei Fischern am Ufer, die miteinander palavern. Ob sie gleich in Geschrei ausbrechen, weil ich den Leitungen zu nahe komme? Nein, sie schenken mir keine Beachtung. Alles frei. Ich gebe Gas. Und erreiche die Marina.

In die Stadt? Als mir Vivaldi hilft, Levje im leicht strömenden Fluss fest zu vertäuen, sagt er, es wären keine 20 Minuten entlang am Kanal und der alten Saline von Aveiro. Ob ich nur eine Nacht bleiben wolle? Er lächelt. Das  würden die meisten sagen, bevor sie Aveiro gesehen hätten.

Und tatsächlich ist dieses Aveiro ein munterer Ort. Schon auf dem Kanal begegnen mir die langen, bunt bemalten Kähne, die barcos moliceiros. Früher benutzte man sie zu Ernte und Transport des Seetangs, den man als Dünger wie überall im Mittelmeer von den Sandstränden auflas und auf die Felder schaffte. Heute finden auf ihnen Ausflugsfahrten bis zur Schleuse und der dortigen Saline statt. Die Schiffe sind fast so lang wie der Kanal breit ist. Das Wenden im Kanal ist ein Kunststück, für das ich die Steuerleute bewundere wie für ihre Boote, die sie mit Liebe bemalt haben. Häufig sind sie am Bug oder am Heck mit Geschichten aus der Geschichte geschmückt, die irgendeinen Bezug haben zu jenem Ort, aus dem ihre Eigner stammen.

So wie der Bug des Kahnes, der sich O L’Ameirense nennt. Eigentlich will ich ja nur die schmucken Giebelhäuser entlang des Ufers fotografieren, die stummen Zeugen, wie sehr diesem Aveira aus Salz und Fisch, aus der Nähe von Meer und Land über viele Jahrhunderte immer wieder Wohlstand erwuchs. Aber Garantie für Wohlstand auf alle Ewigkeit war das keine. Als um 1575 herum die Mündung ins Meer – dort wo heute noch der Sandstrand in der Einfahrt ist – für ein paar Jahre verlandete, war Aveiro plötzlich abgeschnitten. Vom Meer. Aber das blieb nicht lang so.

Heute? Ist Aveiro ein geschäftiger Ort. Und nicht nur wegen des Tourismus, der sich vor allem im Zentrum der Stadt um die Kanäle herum abspielt und wo meine geliebten Sardinendosen gleich schaufensterweise nebeneinander in ihren bunten kunstreichen Verpackungen angeboten werden. Er spielt die kleinste Rolle. Nein, Aveiro geht es gut, dank Hafen, dank Firmen wie Bosch und anderen. Auch wenn das mit dem Salz und dem Fisch keine so große Rolle mehr spielt, kann es sich doch ein Fischer aus Aveiro heute leisten, seine Tage als gebräunter alternder Gigolo im schwarzen Hemd nebst Sakko und Einstecktuch auf seiner Bank vor dem Sardinen-Schaufenster zu sitzen. Und den Touristen hinter der stylischen Sonnenbrille entspannt lächelnd zuzusehen, wie sie durch sein Aveiro schwärmen. 

Aber auch ich gerate ins Schwärmen. Spätestens in dem kleinen Fischlokal auf der anderen Seite des Kanals, wo mich der Kellner begeistert anschaut, als ich zwischen frittierten Scampi und frittiertem Aal mich für Letzteres entscheide. Als er mich voller Freude über meine Entscheidung aufklärt, in wievielen Gerichten seiner Küche der Aal eine Rolle spielt, ahnt er ja nicht, dass es einst die Fischer im slowenischen Isola waren, auch so einem alten Salinenort, die mich vor vielen Jahren zum gegrillten Aal bekehrten. Die frittierten kleinen Aal-Enden, die ich in der Marisqueira Mare Cheia von Aveiro bekomme: Sie sind zum eiskalten Vinho verde ein Gedicht.

Hat schon was. Dieses Aveiro. Und seine Lagunen.

Bis hin zum Singen des Windes in den Wanten und dem leichten Gluckern und Glucksen des Flusses unter Levje, während ich einschlafe.

Am Kap de Peniche. Der Leuchtturm von Cabo Corveiro.

Mitte Mai bin ich in Sizilien aufgebrochen, um einhand 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Seit Anfang Juli bin ich in Portugal unterwegs. Und heute in Peniche, 
einer Hafenstadt nördlich von Lissabon. 

In Peniche stand ich vor der Wahl: Sollte ich nach links abbiegen? Aufs Meer hinaus? Und weiterziehen?Oder nach rechts? Und bleiben? Und meine Tage in Peniche verlängern?

Es waren die Menschen, die ich in Peniche traf und die den Ausschlag gaben. Carlos, der sanfte Hafenmeister mit den traurigen Augen, der hilfreich war, womit immer ich ankam, ob es das durchgebrannte Birnchen in Levjes Kompass war oder der gelegentlich qualmende Motor. Carlos, der mich begrüßte mit den Worten: „Thomas. Was für ein schöner Name. So schön, dass mein Sohn auch diesen Namen trägt.“ Oder meine Bootsnachbarn, Françoise und Max. Max ist 80 und seine Frau 75. Doch davon merkt man nichts. Die beiden sind so jugendlich und neugierig auf ihrer 35 Fuß Yacht unterwegs, als gäbe es kein Alter und ab 75 keine Beschwerden. Nur Francoise ist traurig. Nach zwei Jahrzehnten kehrt ihr Schiff zum ersten Mal wieder zurück in seinen Heimathafen nach Frankreich, nach Capbreton an der Atlantikküste. 20 Jahre bereisten sie darauf das Mittelmeer vom einen Ende zum anderen. Waren im Libanon und Syrien in der hintersten Türkei. Kennen Zypern. Haben die Friedhöfe des I. Weltkriegs auf den Dardanellen gesehen wie das Schwarze Meer und die Küsten Portugals. Noch drei Wochen später sollte ich jeden Morgen von Françoise und Max ein eMail erhalten, eine Art morgendliches Bulletin in drei Zeilen, wo sie, die vor mir abgefahren waren, gerade steckten. Ob in den Nebeln vor Galizien oder den Regenschauern und Kreuzseen Asturiens.

Und dann war da noch Gilles auf seiner Alcor. Gilles sieht aus, als wäre er Mitte 40, dabei ist er Mitte 60. Doch das hat nicht nur mit seinem hageren Äußeren zu tun. Es ist, als wäre er im Leben der jüngste Sohn seiner Mutter gewesen, das Nesthäkchen der Familie, und wäre es für immer geblieben. Der Kleinste und der, bei dessen Anblick der Mutter das Herz immer ein klein wenig mehr aufging. Das Leben war für ihn vor allem eines: Federleicht, aller irdischen Schwere entrückt. Genau so hatte das Leben ihn auf seiner Alcor nach Peniche verschlagen. Ein geplatzter Kühlwasserschlauch, der mit nachfolgendem Kolbenfresser Gilles Motor draußen vor dem Hafen von Peniche ein hartes Ende setzte. „Alles komplett verrottet und verrostet“, sagte Gilles, als würde er über den Sonnenschein am Strand erzählen. Gilles, der 65 ist, wird nun für einige Monate nach Frankreich zurückkehren, nach Lyon, woher er stammt, um etwas Geld für einen neuen Motor zu verdienen. Schließlich will er jetzt, dem drei Frauen im Leben nicht reichten und der darum vier Töchter in die Welt setzte, nach Senegal an die Küste Westafrikas. „Mein Großvater war da in der französischen Armee und ist dort auch bestattet. Ich möchte da nach seinen Spuren suchen. Daran denke ich seit Jahren.“ Tagsüber sehe ich Gilles nie. Doch er ist da, er sitzt auf seiner Alcor und schreibt an seinem Roman. „Es wird ein Buch über das Paradies“, überrascht mich Gilles eines Abends bei einem Glas Bier. „Es ist die Geschichte 

eines Mannes, der die Welt bereist. Und mit jeder Begegnung, mit jeder Erfahrung, die er macht, klüger wird und klüger. Es geht so lange, bis er am Ende gelernt hat, was zu lernen war. Und wird, wie ein Kind.“ Ich konnte nicht anders, als ihn zu fragen, ob denn auch das Inferno in seinem Buch vorkäme, denn das Paradies sei nichts ohne das Inferno. Doch Gilles ließ sich nicht beirren. Das Paradies war sein Gegenstand. Und das Schreiben seine Profession. Sein dritter Roman sollte es jetzt werden, einen Verleger hätte er auch schon, und als ich nach den ersten beiden fragte, antwortete er ohne Reue. Sie wären ihm nicht gut genug gewesen. Als sie vollendet waren, habe er sie leichten Herzens in den Mülleimer gegeben. 

Es ist ein buntes Völkchen, das sich im Hafen von Peniche trifft. An französischen Seglern schätze ich immer wieder, dass ein Boot weniger das schmückende Acessoire ihres Erfolgs im Leben, sondern Werkzeug ist, ein Leben zu leben, wie sie es es sich vorstellen. Mag das Schiff auch noch so schlicht sein und betagt wie Gilles Boot: Das einfache „Ich lebe, wie ich will. Also bin ich.“ strotzt diesen Seglern aus jeder Pore, sie gehen unbeirrt auf ihren einfachen Schiffen auf lange Fahrt, wo einem sonst in Häfen nur allzu oft jenes „Ich kann Dinge kaufen. Also bin ich.“ begegnet.

Und noch eines fesselt mich an Peniche. Auf einer Wanderung entlang der Ufer von Peniche entdecke ich, dass die Stadt nicht nur eine Insel war, sondern immer noch eine ist. Ganz im Westen, wo die letzten Häuser von Peniche längst hinter mir liegen und auch das Land beim Leuchtturm am Cabo Corveirho wie abgeschnitten endet, ist Peniche nur noch Felseneinsamkeit. Die Klippen fallen senkrecht hinunter wie die Cliffs of Moher im Westen Irlands, zu denen ich unbedingt noch einmal reisen will. Wo mich sonst die Höhenangst plagt, stelle mich an die Felskante und schaue hinunter, wo sich unter mir nicht bloß Wellen brechen, sondern mächtig anrollende Gebilde, die irgendwo aus den Weiten des Atlantik heranrauschen, vollgesogen mit Kraft und Wucht und all dem, was dort draußen an unbändiger Wildheit ist.

Ich schaue hinüber zum „Nau de Corvos“, dem „Schiff der Krähen“ genannten Felsen, hinter dem die Sardinenfischer von Peniche hinausziehen aufs Meer, als hätten sie sich zu einem kurzen Ausflug um dieselbe Stunde an diesem späten Nachmittag verabredet. Wie viele Schiffe wohl am Krähenschiff zerschellt sind und dort unten liegen? Es müssen einige sein. Denn mit dem Bau des Leuchtturms begann man früh, noch zu Zeiten vor Napoleon, lange vor der Dampfschiffahrt. Doch das ist sicher nicht die ganze Wahrheit. Oft ist unser Hirn zu klein, uns vorzustellen, wieviel Vergangenheit manche Dinge und Orte besitzen. Ich bin mir sicher, dass auf den Klippen der einstigen Insel Peniche, die an dieser Stelle mehrere Kilometer weit in die Unwirtlichkeit des Atlantik hineinragt, schon viele Feuer brannten. Neolithische Spuren finden sich am Cabo Corveiro ebenso wie an den anderen Kaps an der portugiesischen Westküste. Was Menschen hierher in die Unwirtlichkeit zog, bleibt ihr Geheimnis. Doch ich vertraue spätestens auf die Römer, die dem Schiffsverkehr im Binnenland und auf dem Meer ungeheures Augenmerk schenkten und die die ersten waren, die – uns ähnlich – konsequent technisch alles und jedes machten, was eben notwendig und machbar war.

Ein paar Schritte nördlich des Leuchtturms geben die merkwürdigen Felsformationen Rätsel auf. Mannshohe Stücke verwitterten grauen Gesteins voller Rundungen und Kurven, die verworren daliegen wie die Teile eines Puzzles. Als warteten sie, endlich wieder zu einem Bild zusammengesetzt zu werden. Als wäre ein unverständliches und längst vergessenes Ornament in die Felsen gehauen, das jene uralte Geschichte überliefert, wie diese Welt entstand. Doch ich kann dies Ornament der Erdgeschichte nicht lesen, verstehe nur, wie alt dies alles ist und sehe das riesige Muster, in dem die beiden Reisenden, die mitten darin sitzen, sich verlieren wie wir in der Welt.

Noch ein Blick aufs Krähenschiff. Und hinüber zu den Inseln der Berlengas, von dem eben das letzte Ausflugsboot zurückkehrt. In den Hafen von Peniche. Ich glaub, ich bleibe noch.

Jäger und Gejagte. Bei den Sardinenfischern von Peniche. In der Sardinen-Bar in Berlin.

Seit Mitte Mai folge ich nun einhand segelnd für mein neues Buch den Küsten und Inseln West-Europas. Von Sizilien zu den Balearen. 
Über Südspanien durch die Straße von Gibraltar nach Portugal. 
In Peniche treibe ich mich am Hafen bei den Sardinenfischern herum.

Als ich ein Kind war, war ich ein heikler Esser. Es gab wohl eine Phase im Alter von vier oder fünf Jahren, wo ich mich erinnere, dass meine Mutter weinend vor mir saß, weil ich mal wieder nichts essen wollte. Kinder sind so. Ich weiß nicht mehr, was die Ursache war. Doch war mir Essen gleichgültig. Ich weiß noch, wie diese Phase endete. Eines Tages fand sie heraus, dass ich Camembert über alles liebte. Und gebackene Forellen. Und: Sardinen aus der Büchse, auf einem Teller mit etwas Zwiebel und Essig zerdrückt. Ab da: War ich wieder in der Welt.

Vielleicht ist das so. Wozu wir ein Leben lang neigen, entwickeln wir sehr früh. Noch bevor wir beginnen, in der Schule zu lernen, wissen wir schon, was wir wollen. Vergessen es vielleicht kurzzeitig, doch verlernen tun wir es nie mehr. Gegrillte Sardinen jedenfalls begleiteten mich auf meiner Reise quer durch die Ägäis. Und auch jetzt in Portugal fröne ich jeden Abend, den ich nicht auf Levje koche, im Restaurant über einem Teller mit Fisch.

Peniche im Juli. Der Fischereihafen liegt abgesondert vom übrigen Hafen. Doch schon von weitem erkennt man das Gebäude ganz leicht: Ein riesiger Möwenschwarm kreist immer darüber, schreiend, kreischend. Kommt man näher, nimmt das Geschrei zu. Und der Fischgeruch auch. Doch richtig intensiv wird alles, sobald ich im umzäunten Geviert des Fischereihafens an der Pier stehe, dann, wenn die Sardinenfischer ihren Fang anlanden. Einem Schwarm Fliegen gleich, schlagen die Möwen zum Greifen nah über den Männern, die gebeugt über den Bottichen stehen, in denen sie ihren Fang in Eiswasser konservierten. Und während die Männer ihre Beute aus dem Eiswasser in Kisten verteilen und ein Gabelstapler die Kisten in die Auktionshallen bringt, verwandeln sich die Möwen in nackte Gier.

Ein Fischer, der ein Stück wertlosen Beifangs achtlos auf die Pier wirft. Zwei Möwen, die sich mit sieben anderen ekstatisch darauf stürzen. Den Fisch erreichen, ihn packen an beiden

Enden und zerren und zu zerreißen suchen mit aller Kraft und Gier, deren ihre wütenden Organismen fähig sind. Eine jede der anderen erbitterter Feind. Eine jede kennt nur noch den Kampf. Und sich selbst. Bis es der einen gelingt, den Fisch in sich zu würgen, ihn zu schlingen. Und die anderen sich augenblicklich und kreischend neuer Beute zuwenden.

Was die Männer da aus dem Meer holen, ist zu groß für die Büchse. Und als „Ölsardine“ ungeeignet. Anders als in Deutschland werden in Spanien und Portugal Sardinen wie in Griechenland eher frisch auf dem Grill geschätzt, mit grobem Meersalz und etwas Kräutern auf den Holzkohlengrill gelegt. Das passt zu ihrem kräftigen Geschmack am besten.

Sardinenfischerei. Sie ist alt. Und nahm vor allem seit der Industrialisierung enorm zu. Noch 1964, dem Jahr, in dem meine Mutter für mich die erste Sardinendose öfnete,  holten portugiesische Fischer fast 160.000 Tonnen Sardinen aus dem Meer – das war Landesrekord. Dosensardinen ernährten ganz Europa. Heute sind es keine 15.000 Tonnen im Jahr mehr. 200 Kilo Sardinen darf so ein roter Trawler jetzt an einem Tag noch nach Haus bringen zum Schutz der Bestände – nicht mehr als die 10 Körbe voll, erzählt Carlos, der Hafenmeister mit den traurigen Augen. Sie führen jetzt am Tag nur noch wenige Stunden hinaus, die Fischer. Und kämen am Abend bald wieder zurück. Die Sardinen stehen praktisch vor dem Hafen im Wasser. Oder nur wenige Stunden entfernt vor der Küste. Man erkennt die Sardinenfischer an dem mitgeschleppten Beiboot, in dem oft schon auf dem Anmarsch die Männer sitzen, die mit seiner Hilfe den unter der Wasseroberfläche stehenden Schwarm vom Fischkutter aus mit einem Netz einkreisen, das der Fischkutter dann an Bord hievt und sofort wieder in den Hafen zurückkehrt.

Manchmal konnte ich, während ich die Küste an windstillen Tagen hinauf motorte, träge Möwen beobachten, wie sie über dem offenen Meer kreisten. Kurz niedergingen. Und schon mit einer Sardine im Schnabel wieder in die Luft verschwanden. Schlaraffenland, so scheint es.

Doch nicht für die Männer. Die sind allesamt zähe, sehnige Kerle, wie sie in ihren Wat-Hosen vor mir stehen und mit bloßen Händen den Fang mit einem Handnetz aus dem Eis-Bottich heben. Kurz sortieren. Und in die weiße Kiste für den Gabelstapler zur Auktionshalle füllen. Sie haben mehr mit Bergsteigern gemein, und ich wundere mich nicht zum ersten Mal, warum ich eigentlich in den vielen Häfen, in denen ich war, noch nie einen korpulenten Fischer getroffen habe. Selbst die Älteren in Peniche, die, die nicht mehr hinausfahren, selbst die erkennt man, wenn sie durch den Ort schlurfen, an ihren dürren, sehnigen Gestalten. Ob es das Leben auf dem Meer macht? Oder doch eher ihre Ernährung? Ich weiß es nicht. Wie wohl eine Statistik ausfiele, die typische Krankheiten nach Berufsgruppen darstellte? Fischer versus Vertriebsleiter? Was käme dabei heraus? Die einen mehr Rheuma? Die anderen mehr Herzinfarkte?
Ist der Mensch mehr, was er isst? Oder ist er mehr das, was er sein Leben lang tut?

Aber auch die Sardine neigt in ihrem Leben, wenn man sie lässt, ebensowenig wie ihre Jäger zum dick werden. Einzelgängertum ist ihr fremd. Sie lebt im Schwarm. Sie ist gern mit anderen zusammen. Vom ersten Moment an, indem ein Mutterleib seine 50.000 Eier irgendwo in Küstennähe ablegt. Bis zur Büchse. Dabei hat sie die Geringschätzung, mit der wir sie als „Ölsardine“ bezeichnen, einfach nicht verdient. Dafür ist ihr Leben zu komplex, von dem wir viel zu wenig wissen. Nachts im Schwarm auftauchen. Tagsüber eher in mittleren Tiefen leben. Als 50.000 Eier in ein-Millimeter-Größe den Mutterfisch verlassen. Nach wenigen Tagen als vier Millimeter große Larve entschlüpfen. Geschlechtsreif sein nicht irgendwann gleich nach der Fischwerdung, sondern nach satten zwei Jahren. Lebensalter, wenn man sie in Ruhe lässt, wie der Dackel meiner Oma: 15 Jahre.

Geschlechtsreif nicht irgendwann gleich nach der Fischwerdung, sondern nach satten zwei Jahren. Das ist lang. Und es ist der Grund dafür, dass eine EU-nahe Kommission vor einiger Zeit empfahl, den Sardinenfang an der Atlantikküste ganz einzustellen, und zwar für nicht weniger als für 15 Jahre – genau die Zeit, die die Sardinenschwärme bräuchten, um sich wieder richtig zu erholen. Nun waren plötzlich die Jäger zu Gejagten geworden. Ein Sturmlauf der portugiesischen Fischer setzte ein. 15 Jahre Pause? Das überlebt keine Branche. Sie wüssten doch mittlerweile selber sehr gut, wie die ökologische Uhr des Ozeans ticke. Und anders noch als in den wilden 60er Jahren würden sie ja nun nicht mehr ganzjährig rausfahren, sondern im Winter zwei Monate Ruhe geben. Und auch die leidigen Fangquoten einhalten.

Wir sollten also, wenn wir die nächste Dose mit Sardinen öffnen, ein wenig respektvoller mit Bruder und Schwester Sardine umgehen, die darin liegen. Was die Portugiesen übrigens längst tun, indem sie ihre Sardinendosen grafisch zu kleinen Kunstwerken aufpeppen – siehe dazu auch die Fotos meines Posts vor wenigen Tagen: Hier klicken – die man zwischen Portimao und Porto prominent in jedem Supermarkt bekommt. Und die es auch in Berlin in der „Sardinen.Bar“ in die mediale Spitze der Gastronomie gebracht haben. Dort kann man dinieren, aber halt anders: Eben portugiesische Sardinen, die mit hervorragendem Weißwein, doch standesgemäß in der Dose so serviert werden:

Winter 2017 in Berlin: Da bekam ich portugiesische Sardinen vorgesetzt in Berlin. In der Sardinen-Bar. Und nur in der Dose…

Vielleicht. Vielleicht war die Büchse mit Sardinen, mit der meine Mutter mich 1964 köderte, eine, auf der „Product of Portugal“ stand? Die Chancen wären nicht schlecht gewesen, dass sie aus Peniche stammte. Alles hängt schließlich irgendwie mit allem zusammen.

Der Himmel über Peniche.

Seit Mitte Mai folge ich nun einhand segelnd für mein neues Buch den Küsten und Inseln West-Europas. Von Sizilien zu den Balearen. 
Über Südspanien durch die Straße von Gibraltar nach Portugal. 
Und entdecke immer wieder Orte, von denen ich nie zuvor etwas hörte. 
Doch vielleicht ist gerade das das Geheimnis.

Es mag weiß Gott schönere Städte geben in Portugal als Peniche. Das wehrhafte Obidos, ein paar Kilometer landeinwärts. Coimbra. Doch mir gefiel Peniche von der ersten Sekunde an. Ich fühlte mich zuhause. Es war, als wäre ich hier in der Bretagne angekommen. Der kleine Flusslauf mit seinen Schleusen vor der Stadtmauer. Die einfachen Bistros und Cafes entlang der kopfsteingepflasterten Hauptstraße. Der rauhbeinige Charme des Fischereihafens östlich der Marina, über dem werktags  eine Sirene heult, ganz wie über der Ziegelei in dem kleinen Ort im Schwäbischen, wo ich als Kind meine Ferien verbracht hatte. Das Schreien der Möwen, die endgültig hier an diesem Ort anders lärmten als noch ihre schmächtigeren Vettern drüben im Mittelmeer. Ein Geschrei, das mir unmissverständlich sagte, dass ich angekommen war im Atlantik. 

Vor allem aber hatte es mir gleich nach meiner Ankunft der Himmel über Peniche angetan. Duftige Wolken, die gleich Landschaften über dem Ort im blauen Leuchten des Abendhimmels über dem Kastell schwebten, um sich dann irgendwo in der Weite des Blau zu verlieren. Sobald die Leinen fest waren, nahm ich meine Kamera. Und ging auf die Jagd, ohne zu wissen, wohin sie mich führen würde.

Kaum, dass ich das rostige Gitter des Hafens hinter mir gelassen hatte, stand ich auf der Pier und schaute auf den Ort. Ein fast bretonisches Gewirr kleiner Häuschen, die sich in Reih und Glied den schmalen Hügel bis zum wuchtigen Kirchturm hinaufzogen. Einfache Restaurants und Tavernen, die alles andere versprachen als ein 5 Sterne Menü. Ein alter Fischer, der an der Festungsmauer lehnte

und blaue Handzettel für ein Restaurant mit dem Namen eines Fisches verteilte, während ich den Hügel hinauf strebte, um nur ja den besten Punkt, den günstigsten Moment zu erwischen, in dem der Himmel besonders Blau und die Wolken besonders mächtig waren.

Warum bewegt uns ein Anblick, ein Bild? Welche Zahnräder, welche Säfte setzt unser Hirn beim Anblick des tiefen Blau und der Weite in Bewegung, dass das aufkommt, was wir „Begeisterung“ nennen und „Staunen“, zwei der wertvollsten Gefühle, die ich kenne und die man nur allzu leicht im Geschiebe und Getriebe immergleicher Tage verlernt?

Zum Zauber des Reisens gehört die Gabe der Begeisterung. Und ein Stück Nicht-Wissen. Nicht zu wissen, was Dich erwartet, wenn Du eine Stadt betrittst, als wärest Du ein Entdecker aus einer anderen Welt. 

Als ich ankam, wusste ich nichts über Peniche – außer dass mir der Klang dieses Namens gefiel. Peniche, das man weich mit kurzem e und dafür mit endlos langem i aussprach: P’nie:sch. Ich wusste nicht, dass der Fluss mit den Schleusen vor der Stadtmauer kein Fluss war, sondern der Rest eines Meeresarms, der davon erzählte, dass Peniche noch vor ein paar hundert Jahren eine Insel gewesen war. Dass Peniche im Grunde ein Anhängsel der vor der Stadt liegenden Inseln der Berlenguas war. Ich hatte keine Ahnung, dass die Stadt einst wie heute vom Sardinenfang lebt und die zweitgrößte Sardinenflotte Portugals im Hafen liegen hatte. Scheinbar verlassen und vergessen, wie der alte Ort am Abend vor mir lag, hatte ich noch nicht begriffen, dass Peniche von zwei Arten Schwärmen lebt: Den Sardinen- und den Besucherschwärmen, letztere kamen der Sanddünen wegen hierher und 

wohnten in den großen Hotels am langen Sandstrand südlich der Stadt. Ich hatte keine Ahnung, dass die verlassen daliegenden kleinen Häuschen in respektvollem Abstand zur Festung die einstigen Behausungen der Fischer waren, die in diesem ärmlicheren Viertel der Stadt gelebt hatten. Wer mit dem Boot in einer Stadt ankommt, hat stets das Glück des Ahnungslosen, der seine Bekanntschaft mit der schönsten Seite eines Orts macht. Oft ist wie bei der ersten Begegnung der Anflug des Verliebens, der Moment, in dem man nicht mal mehr bemerkt, dass man sein Gegenüber aufmerksamer und aufmerksamer betrachtet, darin versinkt und sich selbst vergisst.

Und manchmal erzählen Mauern etwas über ein Leben. Wie so viele Befestigungen an Portugals Küste verdankt die Mauern von Peniche ihre Entstehung einem Engländer. Sir Francis Drake, der Held meiner Kindertage, war in den 1580ern an dieser Küste unterwegs. Auf der Suche nach einem Stützpunkt, um der spanischen Armada gleich vor ihren Heimathäfen zu begegnen, damit sie gar nicht erst Englands Gewässer erreichen könnte. Zerstörend, weil er den Feind schädigte, wo er es nur konnte und nach und nach eine Art persönlichen Krieg gegen Philipp II. von Spanien und seine Statthalter nicht nur in der Neuen Welt führte. Plündernd, weil es vor allem ums Geldverdienen ging. Er war Unternehmer, genauer gesagt: Freibeuter, der mit dem Kaperbrief ihrer Majestät, doch vor allem mit dem Geld seiner Investoren der Londoner City etwas Gewinnbringendes anstellen musste. Am Interessantesten waren da natürlich die Transporte aus den Gold- und Silberminen Südamerikas nach Spanien. Er griff sie sich, wo er konnte: In der Karibik. Im Pazifik vor der Küste Südamerikas auf seiner Weltumsegelung. Und hier, vor  der Küste Westspaniens und Portugals, in Cadiz. Vor Cabo São Vicente oder vor Lissabon.

Die Kolonialmacht Spanien wirklich aus dem Geschäft drängen? Dafür reichten seine Kräft nicht. Aber den Beginn der Seemacht Großbritanniens markieren. Und dafür sorgen, dass Spanien – um den ungeheuren Gold- und Silberstrom aus Südamerika nicht zu gefährden, seine Küsten schützen und viel Geld für die Sicherung der Transporte ausgeben musste und den Handel empfindlich zu stören: Das konnte er. Und das tat er hingebungsvoll bis an sein Ende.

Und Peniche? Ich werde ein paar Tage bleiben. Und den Geheimnissen des Ortes weiter nachspüren.

Unter Segeln: Nachts nach Lissabon. Der widerspenstige Fluss. Die Stadt. Und ihre Musik.

Seit Mitte Mai segle ich nun für mein neues Buch entlang den Küsten Europas. Von Sizilien zu den Balearen. Über Südspanien durch die Straße von Gibraltar nach Portugal.
Und jetzt von Sines nach Lissabon. Doch die Route hat ihre Tücken.

Wieder einmal hate ich die Gezeiten unterschätzt. Oh ja: Diesmal hatte ich meinen Tidenkalender studiert. Niedrigwasser in Lissabon um 23.45 Uhr. Das hieß: Bis dahin starker Strom genau gegen mich aus der Stadt hin zum Meer. Ab Mitternacht alles still und keine Strömung mehr. Deshalb hatte ich auch meine Ankunftszeit auf kurz vor Mitternacht verlegt. Und mir einen Hafen ausgesucht, bei dem ich nicht mühevoll gegen den Ebbstrom flußauf motoren müsste. Die Marina von Oreias schien mir am geeignetsten. Nicht so weit von Lissabon entfernt wie das westlich gelegene Cascais. Zudem konnte ich nach Oreias meinen Nordkurs einfach beibehalten und einfach vor Mitternacht den fallenden Strom des Tejo queren. So hatte ich mir das jedenfalls gedacht.

Vor dem Tejo legte der Wind in der Dunkelheit zu. Nicht viel. Nur 15 Knoten. Doch das reichte, um den auslaufenden Ebbstrom der vier Kilometer breiten Mündung in ein gischtendes Gebrodel zu verwandeln. Wind gegen Strom, hatte mir vor Jahren ein italienischer Segler erzählt, der seine Hallberg-Rassy von Southhampton ins Mittelmeer überführt hatte, das könne „lethal“ sein. Tödlich. So schlimm war es nicht, doch beeindruckend allemal, wie die 15 Knoten Brise, die mich den Nachmittag und Abend bis Lissabon geschoben hatten, plötzlich dass braune Flusswasser zu einem wirren Mix aus Strudeln, Zipfelmützen, aufgeworfenen Wellen und an der Bordwand brechenden Wogen werden ließen, dass Levje trotz Vollzeug von einer Seite auf die andere geigte. Und ein ums andere Mal von einem Strudel aus dem Kurs gedreht wurde. Verstärkt wurde das Ganze durch ein Flach, dessen mittendrin liegendes Leuchtfeuer der Insel Bugio war mir ein Trost in der Dunkelheit, während ich den Tejo und damit auch das Fahrwasser der Großschiffahrt im rechten Winkel zu kreuzen suchte. Prompt kam von linkss ein Containerfrachter auf, er tat sich leichter als ich, gegen den Strom anzumotoren, und eh ich mich versah, war der schwarze Bug bedrohlich groß und die sieben hell erleuchteten Stockwerke der Aufbauten bis auf eine halbe Meile an Levje heran. 

„Jetzt aber fix“, rief ich mir zu, während ich den Zündschlüssel drehte und richtig Gas gab, obwohl wir mit vollen Segeln liefen. Ich hatte Glück, denn auch der Frachter drehte beim Leuchtfeuer Bugio nach Süd, ich war aus dem Schneider. Doch kaum das Fahrwasser gequert, kam die nächste Herausforderung. An der Nordseite des Tejo, in Sichtweite der Marina Oreias, setzte der Strom besonders stark. Die Maschine lief. Die Logge zeigte knapp vier Knoten Fahrt durchs Wasser. Doch das GPS zeigte 0 Knoten über Grund. Wie jetzt?! Das Wasser rauschte doch an der Bordwand entlang? Ich gab mehr Gas. Langsam kam die Anzeige. Bei normaler Marschfahrt hatten wir endlich jämmerliche 2 Knoten auf der Logge. Beeindruckend, welche Kraft der über 1.000 Kilometer lange Tejo an der Mündung entwickelt. Ich machte mir Sorgen, wie ich das gewundene enge S der Einfahrt in die Marina Oreias nehmen könnte – zeigte es doch genau in die Strömung. Zwei Mal tief durchatmen. „Du schaffst das! Du wirst jetzt nicht Deine Levje auf die Kaimauer setzen. Denk nach, wie Du’s machst!“ Ich nahm Anlauf. Levje schoß mit sieben Knoten auf die enge Einfahrt zu. Um dem wirbelnden Strom zu entgehen, beschloß ich, die Fahrt im Schiff zu halten und die Einfahrt mit Speed frontal anzusteuern. Noch zehn, noch fünf Meter. Da, die brutal hohe Steinschüttung links und rechts. Hart Ruder nach links, auf die Steuerbordmole zu. Jetzt gibts kein Zurück mehr. Kurz vor der Steuerbordmole hart Backbord auf die Backbordmole zu. Ich erwischte in der Strömung genau die Mitte der Einfahrt. Verflixt eng ist das. Oder scheint es mir jetzt um Mitternacht nur so? Jetzt wieder Steuerbord, dem S folgen. Und plötzlich – Windstille! Und kein gischtender Fluss mehr, sondern Stille. Reglose Stille wie auf einem Dorfteich. Ich war in der Marina. Und deren Vorhafen war tatsächlich kaum größer als ein Dorfteich. Schnell stoppte ich Levje auf. Da hinten am Steg F leuchtete eine Taschenlampe auf. Da war Miguel, der Marinero, mit dem ich telefoniert hatte, ob ichs wirklich wagen könnte. Und wies mich ein. Als ich den Motor abstellte, spürte ich ein leichtes Zittern in den Knien. Und unendliche Erleichterung. 

 

Am nächsten Morgen lag die Insel Bugia, deren grünes Leuchtfeuer mir nachts den Weg gewiesen hatte, friedlich in der Mündung des Tejo, die ich in der Nacht zuvor gequert hatte. Als wäre nichts gewesen. Von der Marina aus wandere ich den Paseo da Mar flußaufwärts und dann zur U-Bahnstation. 


Nach vielen Tagen auf See trifft mich die Großstadt wie eine Keule. Auf dem Weg zum nautischen Museum muss ich tief durchatmen. Nach der Weite draussen nun die Enge. Nach dem langsamen Gleiten nun Beschleunigung. Nach dem Anblick von Felswänden und gleichförmigen Wellen jetzt die Welt in all ihrer Buntheit und Geschwindigkeit, die das Hirn lockt und neckt und kitzelt…

Lissabon ist Auf und Ab. Das Bairro Alto, das Ausgehviertel, liegt auf halber Höhe, ich schlendere die Calçada de Combro entlang zur Praça Luis de Camãos, einem der zentralen Plätze. Jede Stadt hat ihre Musik. Man kann sie schon hundertmal gehört haben. Doch nirgendwo entfaltet Musik mehr Kraft als an dem Ort, an dem sie entstand und dessen Lebensgefühl sich in ihr spiegelt. Ein Bodran-Spieler in einem irischen Pub auf der Dingle-Halbinsel. Sinatra im vorweihnachtlichen New York. Vivaldi an einem Nebeltag über den Sestiere Venedigs. Edward Elgars Pomp & Circumstance klingt nirgendwo ergreifender als in Paddingon Station, West London, gespielt nach Feierabend von den Eisenbahnern selbst. Und jetzt, in Lissabon, spült mich eine Band von den Kapverden mit einem Song von Cesaria Evora vor dem Convento do Carmo, dem beim Erdbeben von 1755 verwüsteten Kloster der Karmeliterinnen, einfach weg.

Doch immer ist Steigerung möglich. Eine Bühne im Bairro Alto. Eine Sängerin mit Band, die einfach den Fado singt, bis sich diese Mischung aus Freude und Trauer auch über mich legt, bei der man nie sicher weiß, ob nun das eine oder das andere die Oberhand gewinnen wird. Nichts kann diese leise Trauer und den Mix dieser Stadt aus Europa und Westafrika besser spiegeln als der Fado an diesem Ort.

In den Straßen von Sines. Die Geschichte eines Entdeckers. Und die eines Restaurantbesitzers.

Mitte Mai bin ich in Sizilien aufgebrochen, um einhand 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Seit Anfang Juli bin ich in Portugal unterwegs. Und heute in Sines, 
einer Hafenstadt südlich von Lissabon. 

Sines. Als ich von Süden her auf den Ort zusegelte, zeigte er mir erst seine unschöne Seite. Raffinerien vor der Stadt im Südosten. Auf Reede ankernde Tanker und Spezialschiffe, zwischen denen ich Levje hindurchschlängeln musste. Dann durch den weiten Industriehafen, um den eigentlichen Stadthafen zu erreichen. Doch Sines ist, wie mancher Mensch auch, etwas für den zweiten Blick. Der erhabene Felshügel, der den weitläufigen Sandstrand wie ein archaisches Heiligtum in zwei Hälften teilt, geworfen wie Ayers Rock in den Sand. Die Festung oben vor der Stadt, die den Hafen bewacht. Und in der vermutlich jener in Portugal landauf, landab verehrte Vasco da Gama geboren war. Vasco da Gama, der das Kap der guten Hoffnung umsegelt und die Portugiesen erst ins ostafrikanische Mosambik und dann nach Indien gebracht hatte.

Die Sonne war fast untergegangen, als ich mich im Abendwind von der Marina in den Ort oben hinter der Festung aufmachte. Die leere Promenade am Sandstrand entlangging, wo nur ein einsamer Jogger seine Runden drehte und nichts von dem üblichen Getriebe und Geschiebe zu sehen war, das man sonst im Juli an Stränden kennt. Eine schmale Straße nach oben durch Schilfhalme, die sich im Wind wiegten, bis ich vor den Mauern der Festung stand. Auch da lag der Ort bis auf ein paar Touristen verlassen.

Ein paar Schritte weiter stand ich vor einem eigentümlichen Gebäude. Adega de Sines stand darauf. Ob es die eigenwillige Typografie über der Tür war, in der der Schriftzug Adega de Sines prangte, die mich neugierig machte? Oder die in Weiß und Blau aufgemalten Jugendstil-Ornamente im Putz? Oder das Emblem im Dachfirst, das eine Majestät ankündigte wie der Kopfschmuck eines Pharao? Wie der Ort schien auch die Adega de Sines mit dem aufgemalten Wellenmuster einer anderen Epoche anzugehören. Doch die Farben waren frisch. Das Gebäude gepflegt. Nicht sie waren es, die alt waren. Da liebte und pflegte jemand, was Teil eines früheren Lebens gewesen war, als wäre dies frühere Leben immer noch da.

Als ich eintrat, war da ein hoher Raum, in dem zwei Reihen Holztische standen. Zum Sitzen waren kleine Hocker da, aus schwerem Holz, kantig wie Melkschemel. Die mit vergilbtem Marmor verkleidete Rückwand war mit einem Altar bunter Flaschen verziert, deren Etiketten den Eintretenden ebenso erwartungsvoll ansahen wie die Dinge, die sich im Lauf der Jahrzehnte dort oben versammelt hatten, um der Zeit beim Verfließen zuzusehen. Oder nur, um den Gästen der Adega die Auswahl leichter zu machen? 

Doch das war nicht nötig. Die Speisekarte auf der Tafel an der Wand war einfach. „Cabrito“, ein Zicklein aus dem Ofen. „Febra de Letaio“, mageres Spanferkel vom Grill. „Sardinha asada“, gegrillte Sardinen. Und „o frango“. Grillhähnchen.

Als ich schüchtern fragte, wo ich mich setzen dürfte, wies die Wirtin lächelnd mit offener Hand über die Tische. Zwei Pärchen saßen da und aßen. Während ich mir einen Platz mit Blick auf die Altarwand suchte, füllte sich das Lokal. Weitere Paare. Und zehn Schülerinnen nach einem Wettkampf mit ihren Betreuern. Plötzlich war die eben noch leere Adega voller Stimmengewirr. Geschrei aus der Küche hinter der Altarwand, das unter der hohen Decke der Adega hängen blieb.

Adega. Ich sollte erst später erfahren, dass das Wort „Weinkeller“ bedeutet. Wegen des Weins kamen die Gäste längst nicht mehr. Die Adega de Sines steht in der Gunst der Einwohner hoch, und auch die Internetbewerter katapultieren das Lokal in Sines regelmäßig an die Spitze. Das hatte mit dem Mann zu tun, der im weißen T-Shirt und mit abgearbeiteten Händen an einem der Tische saß. Und gelassen auf Gäste wartete. Tag für Tag, Sonntags ausgenommen, steht Luis Delmar Rodrigues am Grill neben dem Fenster zur Straße. Und grillt Sardinen. Doch vor allem „o frango“, jene plattgedrückte portugiesische Variante eines Hähnchenstücks, zu der dann Luis‘ Frau Edite Pommes mit Salat reicht, über die sich die Schülerinnen am Nebentisch dann auch gleich ausgehungert hermachten.  

Vielleicht ist dies das Geheimnis von Sines, was diesen Ort attraktiv macht. Irgendwie bleibt die Zeit stehen an einem Ort wie Sines und in der Adega. Sie ist nicht „hipp“. Und auch nicht „in“. Und doch ein Ort, an dem man gerne weilt, weil die Dinge Geschichten von einem Leben und anderen von Zeiten erzählen.

Für mich also „o frango“ an diesem Abend. Und die Geschichte von Luis, Edite und der Adega de Sines. Sie ist schnell erzählt. 1976 verließ Luis zusammen mit Edite ihre bisherige Heimat Mosambik. So ruhmreich der landauf, landab verehrte Vasco da Gama und seine Entdeckungen waren, so schwer tat sich Portugal in den Siebzigern und Achzigern, von seiner Idee als Kolonialmacht Abschied zu nehmen und seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Erst Kriege einer hochgerüsteten europäischen Seemacht gegen die sich militarisierenden Unabhängigkeitsbewegungen. Kaum war die ersehnte Unabhängigkeit da, verheerende Bürgerkriege in den Kolonien. Rechts gegen Links. Ultras gegen Kommunisten. Reiche gegen Arme. Mosambik versank im Strudel. Luis Delmar Rodrigues hatte dort ein Hotel geleitet. Er hat es in den Wirren des Bürgerkriegs verlassen. Die Geschichte will es, dass Luis und Edite ausgerechnet in diesem Sines landeten, dem Geburtsort des Entdeckers von Mosambik, wo ihre ersten Schritte sie vor das alte Weinlokal mit Namen „Adega de Sines“ führten. Das war 1976, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Tio Luis, „Onkel Luis“, wie ihn die Einwohner von Sines längst nennen, beschloß, das Lokal zu übernehmen und machte daraus, was es heute ist. Drinnen. Und draußen.

Vielleicht ist dies die tiefere Wahrheit. „Wir sterben nicht, wo wir geboren sind.“ Wir müssen wandern. Unterwegs sein. Und manchmal finden wir unser Glück ganz unverhofft an einem Ort, von dem wir es uns nie zuvor hätten träumen lassen.

Und Vasco da Gama? Auch er starb nicht, wo er geboren wurde. Nicht in Sines. Sondern weit, weit weg. Auf seiner dritten Fahrt nach Indien. Und ausgerechnet dort, wohin er bahnbrechend den Weg hin geöffnet hatte. Seine Entdeckung dieses Weges war, wonach Silicon Valley wie Startups heutzutage gieren und was man neudeutsch eine „disruptive Innovation“ nennt: Eine Innovation, die die bisherigen Marktführer überflüssig macht. Und einfach ersetzt.

Gewürze, Pfeffer, Seide, Weihrauch, Stoffe. Alles, was 4.000 Jahre nur auf dem langen Weg über die Seidenstraße nach Konstantinopel und von dort übers Mittelmeer in die Städte Zentraleuropas gelangt war, erreichte Westeuropa nun auf direktem Weg von Indien aus. Ohne Zwischenhändler. Und nur auf einem einzigem Transportmittel. Einem einzigen Rahsegler, der die Strecke zwischen Indien und Portugal in einigen Monaten zurücklegte.

Vasco da Gama krempelte mit seiner Entdeckung die Welt um. Er machte sein Portugal reich. Und das Mittelmeer, das 4.000 Jahre das Zentrum und die Wiege Europas gewesen waren, zu einer Sackgasse. Die großen Handelsströme: Die liefen ab jetzt anderswo. Und am Mittelmeer vorbei. Mit gravierenden Folgen. Aber das: Ist eine andere Geschichte als die des Luis Delmar Rodrigues. 
Oder doch nicht?

Der Leuchtturm am Ende Europas. Cabo de São Vicente.

Es ist ein windstiller und dunstiger Morgen, an dem ich von meinem Ankerplatz vor den Klippen von Sagres aufbreche und das ein paar Seemeilen entfernte Cabo de São Vicente ansteuere. Wie die Spitzen eines Hufeisens ragen die beiden Kaps weit nach Südwesten hinaus und markieren zusammen Europas einsames südwestliches Ende.

Von See aus ist der Leuchtturm von Cabo São Vicente an diesem Morgen unverkennbar. Der markante, fast 20 Meter hohe Felsen vor dem eigentlichen Leuchtturm, den die Fischer „Gigante“, der Riese, getauft haben und der den Leuchtturm wie ein Wächter bewacht. Das Plateau selbst, zu dem die buckligen Klippen fast 70 Meter weit aufragen. Das gedrängte Gewirr kalkgeweißter Häuser, über dem sich der eigentliche Leuchtturm rot erhebt. Als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass der rote Leuchtturm ebenso wie seine Fenster, die die Linsen schützen, im Vergleich zu den umliegenden Gebäuden irgendwie überdimensioniert wirkt. Die vergitterten Fenster, durch der Leuchtturm nachts sein Licht schickt, ragen weit über die Turmbasis hinaus. Tatsächlich besitzt der Leuchtturm, der hier steht, eines der weittragendsten Feuer in Europa: 32 Seemeilen weit trägt es, fast 60 Kilometer und reicht damit weit über des 11 Seemeilen entfernte Verkehrstrennungsgebiet vor dem Kap hinaus. Denn hier, vor dem Cabo de São Vicente trifft sich alles: Der von Nordeuropa laufende Schiffsverkehr nach Südeuropa und Afrika. Und der aus dem Mittelmeer ins 6.000 Kilometer entfernte Nordamerika.

Es ist ein einsamer Ort, nicht nur von See aus. Wer von Sagres den Weg auf der gut ausgebauten Straße den Klippen entlang mit dem Wagen unternimmt, ist entlang der Klippen auf dem baum- und strauchlosen Plateau keine Viertelstunde unterwegs. Europa endet am Cabo de São Vicente winzig, kaum ein halbes Fussballfeld misst die Fläche auf dem schmalem Sporn, auf dem merkwürdig viele Gebäude samt Leuchtturm stehen.

Doch so verlassen und einsam der Ort auch immer scheinen mag: Wirklich verlassen war er wohl nie, dafür ist der Punkt zu markant. In der Steinzeit setzten die Menschen hier Steine. Die Phönizier kannten ihn, und für die Griechen endete die Welt, so schreibt es jedenfalls mein guter Herodot, der mich immer begleitet, mit dem am westlichsten lebenden Volk der Kyneter und ihren nördlichen Nachbarn, den Kelten. Dabei hatten die Kyneter  – dank der Phönizier – bereits eine eigene Schrift, während andere noch im Dunkeln tappten, was Herodot nicht wissen konnte, portugiesische  Archäologen aber seit ein paar Jahren wissen.

Nicht nur einmal war das Cabo Sao Vicente ein Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde. Seinen Namen erhielt es vom Märtyrer Vincentius, wie Georg oder Nikolaus oder Katharina Opfer der 10 Jahre währenden großen Christenverfolgung unter Diokletian. Die Sage will es, dass der Leichnam des Märtyrers in eine Tierhaut eingenäht genau an dieser Stelle angespült würde, weshalb die hier lebenden Christen ihm oben auf dem Felsen einen Schrein errichteten. Noch ein arabischer Reiseschriftsteller aus der Zeit der Mauren-Herrschaft berichtete etwas gruselnd, der Schrein des Heiligen werde stets von Raben bewacht, die das kleine Heiligtum umschwirrten.

Aus dem Schrein wurde ein Kloster, doch dem Heiligen ließ man keine Ruh. Im 13. Jahrhundert, kurz nach der Reconquista, der Rückeroberung der Algarve und des Alentejo von den Mauren, holte man, was von den Knochen noch übrig war, aus deren Grab. Und transferierte die sterblichen Überreste vom Cabo Sao Vicente nach Lissabon, woran noch heute die beiden schwarzen Raben auf dem Segelschiff in Lissabons Stadtwappen erinnern – einer Stadt, in der es nebenbei bemerkt weder Raben gab. Noch gibt.

Mit dem Umzug des Heiligen in die Großstadt war dessen Karriere keineswegs zu Ende. Er wurde Patron der Seeleute. Und Winzer. Und Holzfäller. Des Federviehs. Der Dachdecker. Und Patron Portugals. Und wem etwas gestohlen wurde, der richtete sein Gebet an den Heiligen, damit der ihm zu seinen Sachen wieder verhülfe. Mindestens zwei Inseln sind nach ihm benannt. Und wie beliebt der Heilige schon bald nach seinem gewaltsamen Tod unter den Händen römischer Folterer war, davon zeugen die 12 weiteren Heiligen, die nach ihm alle ebenfalls Vinzenz heißen.

Vom Kloster aber sind oben, an dem einsamen Ort, heute nur noch die Gebäude zu sehen. Die Mönche verließen den Ort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als alle Klosterorden in Portugal aufgelöst wurden. Doch nicht alles, was endet, ist darum auch schon zu Ende. Keine 10 Jahre nach dem Exodus der Franziskanermönche errichtete man 1846 ein erstes Leuchtfeuer. Wir befinden uns im Zeitalter der aufkommenden Dampfschiffahrt. Und ab da erlosch das Licht oben auf dem Cabo de São Vivente nicht mehr. Und ebensowenig der männliche Vorname Vinzenz, der unter den 33.740 männlichen Vornamen aus aller Welt aktuell immerhin in Deutschland Platz 629 belegt.

Ankern, wo Europa endet. Das Kap von Sagres. Und die verflixte Tide.

Seit Mitte Mai segle ich nun nach Westen. Von Sizilien kommend erst zu den Balearen. 
Und dann durch die Straße von Gibraltar die spanische Küste entlang an die Südküste Portugals. 
Das Kap von Sagres ist ein markanter Punkt – nicht nur auf der Landkarte.

Sagres. Die Welt sieht regnerisch aus an diesem Abend, an dem ich in der Bucht von Sagres angekommen bin. Und regnerisch sieht es auch noch aus, als die untergehende Sonne die Regenwolken von unten beleuchtet. Strudel und Wirbel von Wolkenfetzen über dem Strand, am Himmel ein Ringen, und noch ist nicht klar, wie es ausgeht.

Ich schaue kurz in Google Maps. Dort bin ich jetzt gerade ein kleiner blauer Punkt ganz im äußersten Südwesten Portugals, der gleichzeitig auch der äußerste Südwesten Europas ist. In Maps ist der kleine blaue Punkt da, wo das Grün des Festlands endet. Und das endlose Blauschwarz des Atlantiks sich bis zu beiden Amerikas erstreckt. Bis hierher führte mich mein Kurs um Europa herum immer westwärts. Ab hier geht es nur noch nordwärts.

Sagres ist ein kleiner Flecken am Ende der Welt. Knapp 2.000 Einwohner. Ein paar Restaurants. Ein Postamt, eine Apotheke, ein Supermarkt. Und zu Füßen des Orts der Fischereihafen, durch eine gewaltige Betonmauer geschützt. Der Ost sei hier der gefährliche Wind, sagte ein alter Marinero vor ein paar Tagen zu mir, und man sieht es der Mauer an, was er damit meinte. 

Doch ein Ort am Ende der Welt war Sagres beileibe nicht immer.  Sagres und die wenige Seemeilen benachbarten Häfen Lagos, Portimao und Faro: Sie waren nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Welt.

Sagres. Es ist lange her. Vor fast vierzig Jahren, ein Novembernachmittag in der staubtrockenen Luft der Universitätsbibliothek einer deutschen Stadt. Ich hatte keine Lust, zu lesen, was ich sollte. Ich schmökerte lieber. Und versank in alten Bänden, die von Sagres erzählten. Wie ein Mann namens Dom Enrique el Navegador von Sagres aus, diesem weit nach Südwesten in den Atlantik ragenden Sporn Schiff um Schiff auf Entdeckungsfahrt aussandte. Wie der Mann, wieder und wieder erwartungsvoll auf der Klippe steht. Und Abend für Abend auf die Rückkehr seiner Schiffe wartet. Mit diesem Bild im Kopf endete mein Novemberabend in der Bibliothek. Und mit ihm war ich im ersten Schneetreiben des Jahres nach Hause gewandert. 

Das Bild des Mannes auf der Klippe verschwand auch danach nicht in meinem Kopf. Sagres, fast 40 Jahre später. Ein scharfer Nordwest hatte mich von Portimao herübergeweht. Er hatte sanft begonnen und hatte schneidender und schneidender über die Klippe am Horizont geblasen. Der Himmel hatte sich grau überzogen, ich hatte mir den Sommer in Portugal anders vorgestellt. Vor den wenigen Häusern über dem Hafen hatte ich beigedreht und die im Starkwind knatternden Segel geborgen, um im Hafen zu ankern. Daraus wurde nichts. Denn hinter der Betonmole liegen Trawler, Fischkutter, Schlauchboote wild und wirr durcheinander. Mir verging die Lust, Levje zwischen dem Durcheinander aus Bojen und Booten hindurch an einen der schartigen Stege zu steuern.

Stattdessen mühte ich mich, nördlich davon zu ankern. Doch wie ich es auch anstellte, mein Bügelanker, der sonst sofort fest zubeißt, wollte und wollte nicht halten. Dann war plötzlich die Dämmerung da. Ich gab entnervt auf und steuerte eine Meile weiter nördlich vor einen Sandstrand, wo einsam ein Katamaran lag. Und ich

auf die Insel schauen konnte, die im weichen Licht des Abends dalag wie ein gestrandeter Blauwal. Dort versuchte ich vor dem Sandstrand mein Glück mit dem Ankern erneut. Diesmal hielt er sofort. Ich hatte auf 3,50 Meter Wassertiefe geankert. Das Licht war zu wenig, um noch zu sehen, wo er wirklich hingefallen war. Im Dunkeln geht es, anders als am Tag, nur darum, dass der Anker hält. Das tat er. Alles fein. Jetzt was Warmes zu essen. Ein Topf heißer Kartoffeln? Mit zerlaufener Butter? Und grobem Meersalz darüber? Eine allerletzte Flasche des italienischen Bieres war auch noch im Kühlschrank. Ich verschwand unter Deck und setzte den Schnellkochtopf auf den Gasherd.

Eine halbe Stunde später. Der Wind war verschwunden. Die Sonne auch. Über dem Strand erleuchtete sie ein letztes Mal von unten die wirren Wolkenwirbel. Abschlussfeuerwerk und einzigartiges Meereskino während des Abendessens. Alles war gut. 

Wäre nicht… ja: Wäre nicht eine halbe Minute später mein argloser Blick auf Levjes Tiefenmesser gefallen. Ich musste zweimal hinsehen. Dann noch einmal genau: 2,80 Meter zeigte der. Ich Esel. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, seit drei Tagen in einem Tiedengewässer unterwegs zu sein. Wenn ich jetzt bei Flut auf 3,50 Meter geankert hätte und der Tidenhub 2 Meter beträgt, dann: Gute Nacht – säße Levjes 2-Meter-Kiel demnächst auf dem Grund. Im Ipad den Tidenkalender aufrufen, „Niedrigwasser Sagres“ suchen: Das geschah in ein und demselben Augenblick. Niedrigwasser. Aha. Erst in einer Stunde. Das war die schlechte Nachricht. Und die gute? In dieser Stunde würde der Pegel nur noch um 10 Zentimeter fallen. 2,70 Meter. Also mindestens 70 Zentimeter Wasser unterm Kiel. Wenns dumm käme und der Wind uns gen Sandstrand trieb, würden uns mit etwas Glück immer noch die berühmte Handbreit Wasser unterm Kiel bleiben.

Über eine Stunde blieb ich wach. Und beobachtete den Tiefenmesser, bis mir die Augen zufielen. Wie hatten sie das gemacht? Die Seeleute, die Dom Henrique ausgesandt hatte? Ohne iPAD. Ohne sofort verfügbaren Tidenkalender? Ohne Kenntnisse der Winde, der Strömungen? Ich dachte an den Mann, der von dort oben, wo heute die steinerne Windrose oben in den Klippen eingelassen war, seine Schiffe weit nach Westen Richtung Amerika und nach Süden die afrikanische Küste hinunter ausgesandt hatte. War er wirklich auf der Klippe hinter mir gestanden?

Ich weiß, ich werde es herausfinden. Für mein Buch. Wie die Geschichte des Mannes wirklich geht. 

Von Cadiz nach Faro. Von Spanien nach Portugal.

Seit Mitte Mai segle ich nun nach Westen. Von Sizilien kommend erst zu den Balearen. 
Und dann durch die Straße von Gibraltar die spanische Küste entlang. 
Und heute steuere ich mein Schiff einhand Richtung Portugal.

Cadiz am Morgen. Ein Harfenton weckt mich. Es ist dunkel um mich. Und ich mag die Augen noch nicht öffnen. Ich öffne kurz die Augen, sehe auf dem Bildschirm 5.10 Uhr. Draußen ist alles still. Der Westwind, der in Cadiz in diesem Sommer immer nachmittags auffrischt, ist abgeflaut. Ich überlege kurz, mich umzudrehen und weiterzuschlafen. Doch in meinem Hirn macht sich der Gedanke breit, dass ich mich, wenn ich nicht jetzt lossegle, mitten auf der Strecke Nachmittags um 15 Uhr jener starke Westwind überfiele. Die Vorstellung, mich bis Mitternacht bei Starkwind übermüdet in einen unbekannten portugiesischen Lagunenhafen wie Faro hineintasten zu müssen, lässt mich schnell wach werden. Nein. Lieber jetzt aufstehen. Und ablegen. Überraschungen wirds auf der 100 Seemeilen langen Strecke, für die ich 20 Stunden auf See sein werde, sicher genug geben.

Ich werfe einen kuzen Blick aus Levjes Heckfenster. Im Liegen kann ich die Hafenmole und die neue Brücke über den Hafen von Cadiz sehen. Alles ist noch an seinem Platz. Was bedeutet: Levje ist noch an ihrem Platz. Das ist keine Selbstverständlichkeit.

Draußen an Deck erwacht meine Lust, aufzubrechen. Im Osten das erste Grau. Cadiz ist noch das Reich der Lichter – der Tag ist noch nicht da, die Nacht noch nicht vergangen. Ich bitte Miguel, den Marinero mit dem netten kleinen Hund, den er rasiert hat wie Idefix, der diese Woche die Nachtschicht hat, doch an der Tankpier auf mich zu warten. Ich möchte Levje noch betanken, wer weiß, wann ich in Portugal an eine Tankstelle rankomme. Der Griff der Zapfpistole ist eiskalt, als mir Miguel den dicken Schlauch aus drei Metern Höhe herunterreicht. Auch die Stahlleiter ist klamm und feucht wie die Hafenmauer dahinter, als ich die drei Meter nach oben zu Miguel und Idefix klettere, um zu bezahlen. Noch ein Händedruck. Dann klettere ich die Leiter wieder vorsichtig hinunter. Ic fürchtet als Segler die großen Stürme. Und weiß doch, dass Unheil in jeder kleinen, achtlos ausgeführten Bewegung auf einer rutschigen Leiter stecken kann.  Segeln zwingt mich zur Achtsamkeit.

Dann werfe ich die nassen Leinen Los. Stoße Levje vom Land aus ab. Mache eine großen Schritt an Deck. Und lege den Gang ein. Ich mag den Moment, wo sich mein Schiff langsam, ganz langsam in Bewegung setzt. An den schlafenden Schiffen, an der Kaimauer ruhen, majestätisch langsam vorbeigleitet. Dann bin ich draußen.

Ein Kreuzfahrtschiff läuft im Halbdunkel ein. INDEPENDENCE OF THE SEAS steht groß auf ihrem Bug. Auf den 12 Stockwerken blitzen vereinzelt Lichte auf, ein Zeichen, dass manche Kreuzfahrtgäste das „Reich der Lichter“ drüben auf der Insel ebensosehr geniessen wie ich. Und es fotografieren. Ein Sardinenfischer mit seinem kleinen Beiboot im Schlepp kehrt möwenumschwirrt nach langer Nacht in seinen Heimathafen zurück.

Es dauert zwei Stunden, bis ich Levjes Motor abstellen kann. Es hat jetzt stabil 10 Knoten draußen, aus Nord. Da sollten Levjes Segel genug Kraft entwickeln, uns durch die widerlichen Kreuzseen an diesem Morgen zu ziehen. Kreuzsehen: Sie sind der Kater im Kopf des Seemanns. Wellen aus unterschiedlichen Richtungen, die das Boot ausgerechnet morgens so unangenehm schaukeln lassen, dass man sich am Morgen so fühlt, als hätte man drei Abende lang zuviel getrunken und geraucht. Kaum ist der Motor aus, rummst Levje immer noch jeden Augenblick wie ein ungefederter Präriewaggon samt seinem seinem Hausrat scheppernd in jedes Wellental, das sie zielsicher findet, wie in ein Schlagloch, während das Schiff vom Kiel bis zur Mastspitze hart vibriert.

Stunden später. Der Wind weht jetzt mit 15 Knoten. Gottseidank. Weg sind die widerlichen Kreuzsseen, der Nordwest hat sie weggebügelt. Geblieben sind Schaumkronen, die aus Nordwest anrollen. Vorboten, dass der Wind zunehmen wird – die Wellen ziehen schneller als das sie verursachende Windfeld. Der Wind ist angenehm frisch geworden, eine Brise, die lange über den Atlantik gestrichen ist und sich vollsog mit mit Salzduft, mit Gischtluft, mit dem unachahmlichen Geruch des Meeres.

Eben habe ich eine Viertelstunde geschlafen. Meine Schwachstelle als Einhandsegler ist der Schlaf. Ich weiß, wo mein Limit liegt. Ich brauche acht Stunden, um frisch zu sein. Letzte Nacht waren es keine fünf. Um auf mein Pensum zu kommen, muss ich jetzt mehrfach tagsüber schlafen. Der Autopilot segelt das Schiff nach einem vorgegebenen Winkel zum Wind. In Levjes Radar-Schirm habe ich einen Kreis im Abstand von eineinhalb Meilen um uns markiert. Sobald etwas diesen Kreis berührt, löst das einen Alarmton aus. Ich mich in Lee auf die Cockpitbank gelegt, wie ich bin. Und lasse mein Schiff einfach laufen. Der Wind hat zugenommen. Wir segeln jetzt sehr schräg. Das letzte, was ich vor dem Einschlafen durch die die Seitenscheibe sehe, ist, wie unter mir Gischt spritzen und Wellen durchziehen und unbeirrt weiter Richtung Kimm laufen. Geborgenheit im Unwirtlichen.

Eine Viertelstunde später bin ich wach. Der Wind hat zugelegt. Benommen einem Jollensegler-Reflex folgend, setze ich mich auf die andere Seite, um die Schräglage auszugleichen. Doch Levjes siebeneinhalb Tonnen und der Winddruck von mehreren Tonnen auf Segel und Mast sind unbeeindruckt. Noch 52 Seemeilen. 100 Kilometer bis Faro.

Am Nachmittag scheint es, als wolle eine geheime Kraft verhindern, dass wir unser Ziel erreichen.  Konstant weht der Wind jetzt aus der Richtung, in der Faro liegt. Man kann nicht gegen den Wind steuern. Nur an ihm entlang. Also liegt der Punkt, auf den ich jetzt zusteuere, etwa 35 Seemeilen östlich. Zusätzlich zu meiner Fahrzeit werde ich also 6 Stunden länger brauchen. Es wird Mitternacht werden. Eine Stunde später hat der Wind die 20, 22 Knoten erreicht. Es bläst jetzt richtig. Zu den Windstößen schlägt ein Fall sein hektisches takk-takk-takk-takk-takk an den Mast, als wollte es mich wie mein Wecker erinnern. Ich bin jetzt zu müde, um noch irgendetwas zu denken, zu tun, zu entscheiden. Ich stelle den Radaralarm an, suche noch einmal den Horizont ab. Alles frei. Und bin schnell eingeschlafen. Noch im Einschlafen denke ich, ich sollte noch einmal den Tiefenmesser kontrollieren und die Seekarte, ob irgendwelche Untiefen vor uns liegen. Ich sollte aufstehen, nachsehen, doch der Drang nach Schlaf ist übermächtig.

Eine halbe Stunde später bin ich wieder erholt. Der Wind hat nachgelassen und die Wellen auch. Unter ihren Reffs schleppt Levje sich lahm durch die Wellen. Ich löse beide Reffs, schon sind wir wieder mit über sechs Knoten hoch am Wind unterwegs. Trotzdem wird es Mitternacht werden.

Der Abend ist wie immer die schönste Stunde. Es gibt Inseln und Küsten, die kann man meilenweit von See her riechen. Allen voran die Küste Korsikas und ihr Duft nach Heidekräutern. Der Geruch von Griechenlands nördlichster Insel Othonoi in der Straße von Otranto, wenn der über die Insel streichende Nordwind sich so erhitzt, dass die Augen brennen. Und der Geruch der heißen Felsen in die Nase steigt. Die Tremiti-Inseln mit ihrem harzigen Kieferduft. Und eben jetzt die Küste südöstlich von Faro, während der Nordwind über sie streicht. Es ist ein faszinierender Duft. Hölzer, Kräuter, Heideblumen, auf Sand erhitzt, vom Wind fortgetragen. Ich rieche es, spüre den Aromen nach, während hinter mir breit der Vollmond aus dem Meer steigt. Ich möchte gerade nirgendwo anders sein.

Doch mein Versuch, noch vor der Dunkelheit einen halbwegs sicheren Ankerplatz an der langen Sandküste Portugals zu finden, misslingt. Zu unruhig sind die Wellen dort, als dass man ruhig die Nacht verbringen könnte. Also weiter. Womit ich nicht gerechnet hatte, sind die zahlreichen Muschel- und Fischfarmen, die dicht an dicht vor dieser Küste liegen. Die meisten von ihnen sind spärlich oder  beleuchtet – oder gar nicht. Eine Nachlässigkeit, die Levje schnell in Gefahr bringen kann, wenn ihr Propeller sich in einer der Leinen verfängt. Ich lasse das Radar mittlerweile immer mitlaufen – ich

möchte diese Erfindung an Bord nicht mehr missen, erkenne ich doch schon Meilen voraus die einzelnen Bojen an ihrem Radarschatten. Ohne das und eine aktualisierte  Seekarte würde ich hier schnell in der Dunkelheit ins Unheil geraten.

Kurz nach Mitternacht. Ansteuerung der Lagune von Faro. Ich folge dem Leuchtturm. Um keinen Fehler zu machen, folge ich einfach dem Fischer, der mich eben überholte. Ich lasse ihn eine Meile voraus fahren. Und folge ihm. Auf dem Radar und in der elektronischen Seekarte zeichnen sich die Konturen der Einfahrt und die Tonnen, die in der Dunkelheit das Fahrwasser markieren ab. Ich folge dem Fischer in die Einfahrt. Dann ist er, genauso wie die Lichter der Fahrwasserbefeuerung, vor den Lichtern Faros nicht mehr auffindbar. Aber mit Radar und Seekarte gehts auch. Ich folge dem Kanal ein Stück – dort, wo er nach links abzweigt, ist in der Seekarte ein Ankergrund verzeichnet. Als ich nach vorn gehe, um den Anker klar zu machen, sehe ich plötzlich Zipfelmützen auf dem Wasser. Und etwas Gischt. Strömung! Eine Untiefe, auf die ich zulaufe? Schnell bin ich im Cockpit. Drehe Levje auf dem Teller mit Vollgas. Doch der Sog gibt uns nur langsam frei. An dieser Stelle ist bei Flut eine schnelle Strömung. Sie gibt uns nur langsam frei. Adrenalin pur – jetzt nach Mitternacht in der Strömung noch auf Grund laufen! Ich steuere zurück ins Fahrwasser, diesmal finde ich daneben liegenden Ankerplatz sofort. Drei langsame Kreise in der Dunkelheit gedreht, und das Terrain unter Wasser auf Felsen abzusuchen. Dann lasse ich den Anker fallen. Räume das Deck auf. Schalte Ankerlicht und Rotlicht an. Schaue noch einem Moment meinem Schiff zu, dessen Ankerkette sich in der Flut straff spannt. Höre einen Moment auf die Geräusche der Nacht. Ich bin in Portugal.

Dann falle ich auf mein Bett. Und weiß am  nächsten Morgen nicht mehr, dass ich vermutlich noch im Fallen einschlief.

Portimão. Ein Fluss. Ein Storch. Eine Entschuldigung. Und: Sardinen in der Dose.

Seit Mitte Mai bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne – einmal um die Küste Westeuropas herum.
Zum ersten Mal Portugals Festland betrete ich in Portimão, 
einem typischen Hafen an der Algarve.

Im Dunkeln war ich in Portugal in den Lagunen von Faro angekommen und hatte von der Küste noch wenig gesehen. Erst als ich früh am Morgen aus den Lagunen aufbrach und weiter nach Westen segelte, bekam ich einiges mit. Lange Sandstrände. Schmucke Feriendörfer, die sich wie fehlende Puzzlestücke in die Felslandschaft zwischen Faro und dem 40 Seemeilen weiter westlich gelegenen Portimão einpassten.

Sandstrände brauchen zu ihrer Entstehung meist  – Flüsse. So hatte ich es in der Adria erstmals bemerkt, wo die großen Sandstrände der nördlichen und westlichen Adria ihre Entstehung den Flüssen verdanken. Dem Isonzo, dem Tagliamento, der Piave und vor allem dem Po. Die Flüsse waschen Gesteinsmehl aus den Bergen zur Mündung. Die Gegenuhrzeiger-Strömung an den Ufern der Adria verteilt den Sand an deren Nord- und Westküsten. Tatsächlich liegen die Häfen Portugals überwiegend an Flüssen. Faro und sein Lagunendelta. Lagos am Bensafrim. Lissabon am Tejo. Und Portimao, mein Tagesziel am Arade. Die schmale Einfahrt in den Fluss zwischen den Felsen führt in die Marina. Und dann drei Kilometer flussaufwärts in die Stadt und den Hafen.

Neugierig auf Portugal brach ich, kaum dass die Leinen in Portimão fest waren, in die Stadt auf. Portimão ist anders als es die etwas schniecke, an ein Edelresort erinnernde Marina erwarten ließ. Nach einer halben Stunde kam ich in einstiges Industriestädtchen, das wohltuend einfach geblieben war und sein ehrliches Gesicht nicht verbarg. In der Innenstadt stehen viele der Fliesenbedeckten Häuserfronten leer. „Alugar-se“- und „Vende-se“-Schilder („Zu vermieten“, „zu verkaufen“) allenthalben. Um einen Ort kennenzulernen, muss ich ihn zu Fuss durchwandern. Ich brauchte eine Stunde, über den Fluss in die große Bootswerft auf der anderen Flusseite zu kommen. Genoss es, im Schatten eines Baumes auf dem Werftgelände ein Bier zu trinken und dem weichen Portugiesisch der Fischer und Werftarbeiter zuzuhören. Ich wanderte über den Fluss zurück in die Stadt, wo sich halb unter die Flussbrücke gekauert Portimãos Restaurantviertel verbarg. Auf dem Kamin eines Restaurants hatte ein Storch wenige Meter neben der vielbefahrenden Flussbrücke sein Meisterwerk von Storchenest errichtet und putzte hoch über dem Restaurantviertel und neben der Autobahnbrücke sein Gefieder. 

Ich wanderte vorbei am kleinen Bahnhof, aus dem ein älterer Farbiger trat, kleingewachsen, mit kurzem grauen Haar unter der braunen Kappe, und meinen Weg einschlug. Er trug eine braune Hose und ein Sakko, das von Größe und Farbe so gar nicht passen mochte zum restlichen Erscheinungsbild des Mannes – es war vielleicht ein Geschenk. Als ich schnelleren Schrittes an ihm vorbeiging und wir fast zusammenstießen, was sicher nicht die Schuld des Mannes war, entschuldigte er sich so höflich und würdevoll, als hätte er lange und anders, als seine Kleidung es vermuten ließ, in einem guten Haus gearbeitet. Seine Entschuldigung war formvollendeter als die meine, ich war berührt, und überlegte wie so oft, ihn anzusprechen. Doch die Frage, die Parzifal nicht wagte zu stellen, dies „Herre, wie wirret iuch?“, das einfach teilnahmsvolle Fragen, auch ich wagte es nicht. Und trage es wie Parzifal als Schuld auf meinen Aventiuren durch die Welt.

Den Alten von Portimão, der die Kunst der Entschuldigung beherrschte, werde ich nicht vergessen. Ich war noch von der Begegnung bewegt, als ich mein eigentliches Ziel, die Shopping Mall von Portimão erreichte. Zu den Dingen, die das vereinte Europa teilt, gehören die Shopping Malls. Moderne Einkaufszentren an Stadträndern schwappten aus USA zu uns herüber. Ich traf sie vom östlichen Kreta über Athen, das nicht gerade prosperierende Brindisi bis Sizilien. Immer wenn ich in ein neues Land komme und andere Telefondienstleister meinen bisherigen Internet-Zugang enwerten, suche ich sie auf. Sie sind der sicherste Ort, um an eine neue Datenkarte ranzukommen. Auch dafür werde ich Portimão preisen: Nach 3 Minuten verließ ich den Telefonladen mit einem funktionierenden Internet-Zugang.

Noch schnell in den Supermarkt. Und da stehe ich plötzlich vor einem mehr als fünf Meter langen Regal mit – Sardinendosen. Fasziniert bleibe ich stehen. Und betrachte die vielen Ettiketten. Fast alle enthalten sie – Sardinen.

Was denken wir zum Beispiel über die gelbe Schachtel. Sardinen in Zitronensaft. Das Etikett bewegt sich irgendwo zwischen ökologisch und gesundheitlich wertvoll. Aber ist mir heute nach Zitrone? Eher nicht. Ich glaube, ich bin heute eher klassisch drauf.

Ob das nicht was für heute Abend wäre? Minerva? Seit 1942? Das würde auf einer deutschen Verpackung niemals stehen. Welcher Hersteller wäre in Deutschland denn schon stolz darauf hinzuweisen, womit er 1942, im Jahr des Untergangs der Stalingrad-Armee, sein Geld verdiente? VW. Seit 1942?
In Portugal ist man da fein raus. Am weltweiten Morden beteiligten sich in Europa nur Portugal, Spanien und die Schweiz nicht. Für Portugiesen ist 1942 eine unbescholtene Zahl. Also Minerva: Sardinen geräuchert? In Öl? Mit einem Hauch Limettensaft? 

Oder wie wäre es mit dem Herrn mit dem Backenbart: Thunfisch von den Azoren mit getrockneter Tomate und „Manjerição“? Ich muss erst nachschlagen, um herauszufinden, dass Manjerição das portugiesische Wort für Basilikum ist. Auch keine schlechte Wahl.

Und was bringt uns die Santa Catarina? Katholisch wie ich bin, löst die Farbe natürlich pfingstliche Gefühle in mir aus, wenn der Priester zu m Fest der Erleuchtung nur noch ein Messgewand in dieser Farbe trug. Nochmaliges Nachschlagen im Internet erleuchtet mich, dass es sich beim Inhalt dieser Dose um Thunfischfilets von den Azoren handelt. Wunderbarerweise mit „Alecrim“. Nein, nicht mit Babynahrung, sondern mit Rosmarin.

Und Sardinen in scharfer Tomate? Nein, nicht heute.

Doch eines ist klar. Sardinenkonserven haben in Portugal eine ganz andere Tradition als bei uns. Aber wann und wie fand der Fisch eigentlich den Weg in die Dose?

Der Zeiger von Levjes Borduhr zeigt jetzt Mitternacht. Die Geschichte, wie die Sardine ihren Weg in die Dose fand, muss fürs heute ungeschrieben bleiben. Doch ich werde sie schreiben. Ganz bestimmt.

In Cadiz beim Bäcker. Heute. Und vor 2.800 Jahren.

Seit Mitte Mai Wochen bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne – einmal um die Küste Westeuropas herum.
Nach der Straße von Gibraltar erreichte ich Cadiz, den alten Hafen im Südwesten Spaniens. Doch wie alt der eigentlich wirklich war, sollte ich erst hier begreifen.

Als ich von Tarifa lossegelte, dauerte es lang, bis der Sog der Straße von Gibraltar uns losließ und nicht mehr zu spüren war. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas unter dem Schiff hing, was uns bremste. So hoch ich den Motor auch drehen mochte: mehr als vier Knoten waren nicht drin, solange ich mich von der Meerenge wegbewegte. Sobald ich testweise kehrt machte und auf die Meerenge zuhielt, schossen wir mit 7 Knoten dahin. Erst als wir am frühen Nachmittag Cabo de Trafalgar mit seinem türkisen Wasser und dem verführerischen Sandstrand erreichten, ließ der Sog der Meerenge nach. Gegen Mitternacht erreichte ich den Hafen von Cadiz. Ein freundlicher Marinero mit einem Hund, der in der Dunkelheit wie Idefix aussah, nahm meine Leinen an.

Cadiz hatte mich bei der Ansteuerung neugierig gemacht. Nicht nur, dass die Stadt am Ende einer schmalen Landzunge wie eine Insel vor der spanischen Küste liegt, nein. Auch der Hafen ist – ungewöhnlich genug – nicht dem Meer zugewandt, sondern dem Land. Die Stadt war ein Hufeisen und ihr natürlicher Hafen bietet Schutz, wie nur wenige andere. All das hätte mir auffallen sollen, ich kenne ich kaum einen zweiten Hafen, der so angelegt ist.

Am Morgen ging ich in die Stadt. Cadiz, die Inselstadt, hat fast 120.000 Einwohner. Stadtbusse rumpeln übers Pflaster, in den engen Gassen der Innenstadt ist an diesem Morgen schon auf den Beinen, wer auf den eigenen Rädern nicht unterwegs sein wollte. Und weil mein Herz nunmal für Bäckersfrauen schlägt, führte mich, als hätte als dies anders nicht sein können, mein erster Weg in eine Bäckerei. Mein innerer Kompass sucht, während ich die Cadiz‘ Straßenschluchten entlanglief, das Wort „horno“ – den spanischen Begriff für Ofen, aber eben auch für Bäckerei.

Und so stand ich plötzlich vor Anna in der Bäckerei der Antonia Butrón. In ihrer schwarzen Kochmütze hantierte sie an ihrem Ofen, aus dem sie gerade ein Blech herausholte, bedeckt mit einem duftenden Blätterteig-Fladen. Anna wusste etwas übers Leben. Und über Männer auch. Obwohl wir uns nie zuvor begegnet waren, hatte sie mit einem Blick nicht bloß erfasst, wes Geistes Kind ich war. Sondern auch die Leidenschaften, die wir im Leben teilten. Ohne ein Wort zu verlieren, nahm sie das große Messer. Holte das Tablett aus der Vitrine vor meinen Augen. Säbelte nach kurzem Bedenken ein Stück des in der Vitrine liegenden Blätterteig-Gebäcks ab. Und reichte es mir über die Theke.

„Dein Laden ist eine Sünde“, radebrechtete ich unter Aufbietung all meines Spanisch-Wortschatzes. Sie grinste im Wissen einer Frau über hungrige Männermägen. „Probier das“, sagte sie trocken. „Eine Empanada, gefüllt mit geröstetem Jamon und lauwarmer Dattel.“ Ich schloß die Augen. Eine lauwarme Geschmacksexplosion von süß und salzig auf meiner Zunge. „Aber falls Du nichts Salziges magst, hab ich auch das hier.“ Sie deutete grinsend auf die Schnitten, zwischen deren knusprigen Blätterteig mich ein dicker Belag aus Nutella erwartungsvoll anblickte. Als hätte sie in meiner Aura gelesen, dass es eine meiner Kinder-Heimlichkeiten war, mich mit einem Löffel über das Nutella-Glas herzumachen, wenn ich einmal allein zuhause war.

Bildunterschrift hinzufügen

Doch das mit dem Nutella ist lange her. Geschmäcker ändern sich, doch Leidenschaften bleiben. Ich entschied mich für die warme Dattel. Und für eine Empanada Lauch und Roquefort – bloß um zu sehen, ob sowas eigentlich unmögliches zusammen funktionieren konnte. Und für noch etwas – um mich am Mittag zu überraschen. Mit einer Empanada in der einen und einem Espresso in der anderen verließ ich Anna’s Laden, nicht ohne mir zu versprechen, am Abend zu den Empanadas zurückzukehren.

Mein zweiter Weg in Cadiz führte mich wenige Minuten von Anna’s Bäckerei entfernt ins YACIMIENTO ARQUEOLOGICO GADIR. Der Bau sah aus wie ein modernes Theater, ich löste ein Ticket an der Kasse. Wie in einem alten Kino umfing mich gleich hinter dem Eingang das Halbdunkel des Raums, aus dem mich eine Platzanweiserin mit Taschenlampe über eine dunkle Rampe in die Tiefe führte. Und in die Vergangenheit führt. Denn plötzlich stand ich im Dunkel einer säulengetragenen Halle. Ich nahm die Sonnenbrille ab. Erkannte Einzelheiten. An der Wand lief im Hintergrund ein Film. Meeresrauschen, Möwengeschrei. Zwei kleine Inseln, kahl und unbewohnt. Und ein antikes Schiff, das in den Sund zwischen den beiden langgestreckten Inseln einlief. Die Halle hatte keinen Boden. Stattdessen führten Steg darüber hinweg. Und darunter erkannte ich lehmgelbe Grundmauern. Wege. Kreisrunde Lehmringe im Boden. Bruchsteinmauern. … Ich stand nicht nur im ältesten Teil von Cadiz, sondern in einer der ältesten Städte Westeuropas. Älter als Athen. Älter als London. Älter als Rom. Dem Teil, den Menschen vor fast 3.000 Jahren gegründet hatten. Ich stand in der Stadt der Phönizier, die unter dem heutigen Cadiz liegt. In Gadir.

                                                             ––––––––––––––

Wie Cadiz, wurden viele Orte an der Südküste Spaniens und vor allem in Portugal nicht von eingewanderten Stämmen, sondern von Seefahrern gegründet. Von Reisenden, die in einem ganz anderen und weit entfernten Teil der frühantiken Welt zuhause waren. Es waren Händler aus dem Libanon, die die Küstenorte weit hinter dem Ende ihres Meeres, eben in Südspanien und Portugal, gegründet hatten. Seefahrer, die den 4.000 Kilometer langen Weg vom Ostende des Mittelmeers bis an die Küsten der Pyrennäen-Halbinsel nicht bloß einmal zurückgelegt hatten. Es ist eine der großen Fragen, was sie bewog, einfach ihre Heimatstädte Tyros, Byblos, Sidon auf ihren Schiffen zu verlassen und nach Westen zu Segeln. War es ein einzelner gewesen, ein König, der sie ausgesandt hatte? Um die Küsten nach noch mehr Rohstoffen abzusuchen – nach Kupfer und Zinn, denn beides im richtigen Verhältnis gemischt ergab Bronze? Nach den gedrehten Meeresschnecken, aus deren Saft man unter Lichteinwirkung den intensiv roten Farbstoff herstellen konnte, für den die Leute ein Vermögen auf den Tisch legten, um Kleider zu färben und Lippen zu bemalen? Nach Quarzsand zu finden, für die Produktion bunter Gläser? Um Gold zu suchen? Und Sklaven? Und Blei? Und Felle? Und Straußeneier, um sie den Toten als Symbol für ewiges Leben ins Grab zu legen. Und alles, was es sonst noch gab.

Sie waren Seefahrer. Und Händler. Händler sein, heißt: Etwas sammeln, wovon am einen Ort Überfluss herrscht. Es zu einem Ort bringen, wo daran Mangel herrscht. Vielleicht erklärt das die Unrast, die Neugier, mit der sie sich weiter und weiter nach Westen vorgewagt hatten, weiter als all die anderen frühen Seemächte des Mittelmeers.

Irgendwann um das Jahr 900 erreichte ein phönizisches Schiff auch jene Inseln, die eineinhalb Tagesreisen von jenem Ort lagen, an dem sich das weite Meer zu einem strömenden Gewässer verengte und den die Griechen „die Säulen des Herakles“ nannten. Immer weiter getrieben von der Suche nach Neuem, hatte ein Schiff die Inseln vor dem Festland angesteuert. Vielleicht hatten sie Sie hatten ihr Schiff den langen Sandstrand hinaufgezogen. Und weil die Insel sie an ihre Heimatsstadt im Libanon erinnerte, die auch alle Inseln waren, weil es Stämme in der Nähe gab, die gute Felle herstellen konnten und ihnen auch einen Silberklumpen gezeigt hatten, hatte die Hälfte der Mannschaft beschlossen, zu bleiben. Und  an diesem Ort einen Handelsposten zu errichten.

Was sie taten, taten sie gründlich. Oben auf dem Gipfel der Insel bauten sie die ersten Häuser. Aber nicht irgendwelche, sondern exakt so, wie die Häuser in ihren Heimatstädten im Libanon aussahen. Zwischen den Häusern legten sie zur Bucht hinunter Straßen an. Aber nicht irgendwelche. Sondern auf eine Schüttung aus mittelgroßen Steinen folgte eine Schicht aus Lehm, den sie mit einem Holzstampfer festklopften. Von der Stelle aus, wo ich stehe, erkenne ich die Hufabdrücke von Rindern im Lehm der Straße.

Steinhäuser. Sie bauten Kuben aus Steinen, mit Lehm verschmiert. Wenige Fenster. Ein auf Balken ruhendes Dach, das einen große Terrasse bildete. Darunter ein großer Raum. Eine kleine Küche daneben. Leben fand hauptsächlich im Freien statt.

In der Küche eines jeden Hauses befand sich ein Lehmofen. Er war zu ebener Erde errichtet und hatte die Form eines Bienenstocks, nur größer. Die Menschen, die im achten Jahrhundert vor Christus dort kochten, taten das im Sitzen:

und über eine der beiden Öffnungen: Eine größere oben, durch die der Rauch abziehen konnte. Eine kleine nach vorne, durch die man Brennmaterial schob und drinnen entzündete, Stroh und Äste. War der Ofen innen heiß, schob man, was Garen sollte, zwischen die heißen Lehmwände. Ein Huhn. Ein Zicklein. Einen Hund.

Eine phönizische Küche in Gadir, vor 3.000 Jahren. Mit dem dort gefundenen Lehmofen, dem Tannur.

Um es dann mit allherhand feinen und scharfen Soßen und Tunken anzurichten. Alles konnte man in diesem Lehmofen garen. Den „Tannur“, den Archäologen auch bei Grabungen in Israel entdeckten, ist in manchen Gegenden Nordafrikas heute noch der Standardherd. Er ist schnell und einfach selbst gebaut, wie Archäologen zeigten.

Sie nutzten den Tannur hauptsächlich, um Brot zu backen. Getreide, das sie vor dem Ofen auf dem tellerförmigen Mahlstein zerrieben. Mit etwas Wasser vermengten. Mit Kräutern versetzten. Und ohne Hefe zu runden Fladen kneteten, die sie an die heißen Innenwände des Lehmofens klebten. Vielleicht waren die Fladen ja mit etwas gefüllt? Gehackte Kräuter? Einfacher Käse? Gesalzener Fisch, den sie in eine Art Joghurt mit Lauch tunkten? Vielleicht gab es ja schon so etwas ähnliches wie die Vielzahl der Empanadas, die mir Anna in ihrem Laden gezeigt hatte? So sehr wir das Gefühl haben, diese Welt läge uns so unendlich fern – so nah ist sie uns doch.

Ihre erste Siedlung bestand, für etwa 200 Jahre. Dann zerstörte etwas die Siedlung, eine Flut, die über den Hügelkamm stieg. Ein Erdbeben, das die Inseln erschütterte und die Häuser einstürzen ließ. Der Ort auf dem Hügel der Insel wurde von den Überlebenden und denen, die aus dem Osten mit Schiffen kamen, anscheinend schnell wieder aufgebaut. Denn der Kontakt mit der Heimatstadt im Osten: Der blieb vermutlich so intensiv und eng wie zu den anderen Städten in der Umgebung. Doch das: Ist eine andere Geschichte.