
Woher sie nun wirklich kam, weiß niemand zu sagen. Irgendwoher aus den Tiefen von Zeit und Raum, den unermesslichen Meerestiefen der Menschheitsgeschichte, aus denen Mythen aufstiegen, Blasen gleich, zur Oberfläche, die „Gegenwart“ heißt. Mythen, die sichtbar werden in Geschichten. Mündlich weitergegeben von Generation zu Generation, gedreht und gewendet, umgedichtet, umgedeutet, neu erzählt. Doch im Kern immer dieselbe Geschichte.
Wann und wo entstand ein Abbild eines weiblichen Wesens als Förderin allen Wachsens?
Wann und wo begann die Anbetung einer Frau als Gebärerin?
Mit der Venus von Villendorf, um das Jahr 25.000 vor Christus aus einem faustgroßen Kalksteinbrocken verfertigt, gesichtslos und üppig schön, Muttergottheit? Die es nicht nur einmal gibt, sondern gleich vielfach, wie die große Steinzeit-Ausstellung in Stuttgart Anfang unseres Jahrtausends zeigte?
Begann es mit Ishtar, der wichtigsten Göttin Babylons um 3.000 vor Christus bis in die Jahre der Griechen, zuständig für Krieg und sexuelles Begehren gleichermaßen, für Wachsen und Gedeihen und Verkümmern und Vergehen? Verehrt in Hymnen, ihr Symboltier, der Löwe, angebracht am großartigen Ishtar-Tor, an dem jährlich im Berliner Pergamon-Museum Hunderttausende vorbeischreiten? Und die der Hymnus besingt:
„05 Sie voll schwellender Kraft // mit Liebreiz bekleidet
06 geschmückt mit geschlechtlicher Kraft, // Verführung und Fülle.
…
14 Das Schicksal von jedeinem // hält sie in der Hand,
15 in ihrem Anblick ist geschaffen Frohsinn,
16 Lebenskraft, Gesundheit, Lebensfülle, Schutz!
17 Über Geflüster, Erhörung // Liebeserweisung, Güte
18 und Zustimmung verfügt sie.
19 Das Mädchen, das ausgesetzt wurde // findet in Ihr eine Mutter.
…
25 Grausig ist sie unter den Göttern // ist übergroß ihre Stellung
26 Gewichtig ist ihr Wort, // und über diese ist sie mächtig.
27 Ishtar: Unter den Göttern // ist übergroß ihre Stellung.“
(zitiert von: UNIVERSITÄT DUISBURG-ESSEN, INSTITUT FÜR EVANGELISCHE THEOLOGIE unter https://www.uni-due.de/~gev020/courses/course-stuff/meso-ishtar-hymn.htm)
Oder: Beginnt es mit Astarte, Göttin der Syrer, der Phönizier und anderer westsemitischer Völker an der Küste des heutigen Syrien, Libanon und Israel? Die Astarte verehrten als Himmelskönigin und Liebesgöttin? Mein guter Herodot dachte sich das so jedenfalls, dass damit alles begann, mit den Männern aus Thyros, den Phöniziern, die nach dem großen Zusammenbruch der alten Reiche um das Jahr 1.000 wieder begannen, als Händler das Meer Richtung Westen zu befahren. Sie waren es, sagt Herodot in seinem ersten Buch, sie, „Phoiniker, also Bewohner jenes syrischen Landes“, die die „Tempel auf Kypros von Askalon aus gegründet … und wie man auf Kypros selber zugibt, den Tempel in Kythera“ gegründet haben (Herodot I, 105).

Schenken wir also, während ich LEVJE von Süden, von Kreta kommend, auf die Insel Kythira zusteuere; schenken wir also Herodot für diesmal Glauben, auch wenn die archäologischen Beweise für seine Version bislang fehlen: Dass hier, genau hier auf Kythira, Aphrodite dem Meer entstieg. Botticelli hat sie so gemalt, sie, die später bei den Römern Venus hieß. Aber so schön, wie sich die italienische Renaissance das ausmalte, lief das nicht. Der Gründungsmythos, und hierin entspricht er ganz der mörderischen, kriegerischen Welt der Bronzezeit läuft, wesentlich grausamer. Unversöhnlicher. Kronos war es, Sohn der Gaia und des Uranos, der Erde und des Himmels, der seinem Vater auf Anstiftung der Mutter mit einer Sichel das Gemächt abschnitt. Und es hinter sich ins Meer warf. Eben jener Kronos, der aus Angst, selber entmachtet zu werden, die eigenen Kinder auffraß, auch den Demeter. Nur eines der Kinder überlebte, weil Kronos Frau es vor ihm im Gebirge auf Kreta, nicht weit von hier, keine 50 Seemeilen, versteckte: Zeus. Aber auch da sind wir noch nicht mit unserer Geschichte.
Sondern bei dem, was Kronos verächtlich ins Meer geworfen hatte. Das brodelte und gischtete im Meer, und brandete und schäumte, der Same des Uranos, der sich mit dem Meer verband. Und dem Geschäume entstieg, so überliefert es Hesiod, Aphrodite. Zum Umfallen schön wie weiland Bo Derek. Und stieg ähnlich wie Bo Derek an Land, hier auf Kythera. Und später auf Zypern.

Was aus all dem wurde?
Kronos?
Natürlich überwand ihn sein Sohn Zeus, als er vom Honigwein berauscht dalag. Als Zeus ihn band, spuckte er alle Kinder, die er zuvor gefressen hatte, wieder aus: Hera und Demeter, Poseidon und… Zeus aber steckte Kronos auf eine abgelegene Insel, die Elysischen Gefilde. Und da, so geht der Mythos, lebt Kronos noch heute.
Aphrodite?
Sie legte eine unglaublich steile Karriere hin. Als Liebhaberin, als Göttin, als Model. Als Liebhaberin, weil sie chronisch untreu war. In die Liste ihrer außerehelichen Amouren – verheiratet war sie nämlich auch, mit Hephaistos, dem Schmied, aber der reichte ihr nicht – gehören ettliche prominente Namen, das „Who-is-who“ der griechischen Mythologie. Ares, der Kiregsgott, zum Beispiel. Dem jungen Paris verdrehte sie den Kopf, als der sich unter den drei Göttinen für sie als Schönste entschied – was ihm schlecht bekam. Oder der Trojaner Anchises, ein Irdischer. Aus dieser Beziehung entstand Aeneas, einer der wenigen, die den Untergang Trojas überlebten. Und als Gründer Roms dann auch gleich der Ahnherr von Julius Caesar selbst wurde.
Als Göttin machte sie Karriere, weil die Griechen sie als vielerlei verehrten. Als Himmelsgöttin und Symbol für die überirdische Liebe. Aber auch als Symbol für das irdische Begehren, Göttin der Hetären, als Porné, „die Kitzlerin“. Als Männermordende und Dunkle. Aber auch als Beschützerin der Seefahrer.
Und die Römer? Sie steigerten diese Verehrung noch einmal, indem sie einfach in heilloser Griechen-Verehrung aus Aphrodite Venus machten, eine Göttin für ein Weltreich, das das gesamte Mittelmeer umfasste. Ein Symbol für Jahrtausende.
Als Model machte Aphrodite aber die größten Furore. Botticelli! Watteau! Die Venus von Milo! Die weniger bekannte Venus von Knidos, geschaffen vom unglaublichen Praxiteles! Beide sind noch heute erhalten und können im Internet bestaunt werden. Und von der Venus von Knidos geht die Geschichte, dass die Stadt, über die ich in einem früheren Post schrieb, einst so verschuldet war, dass ihr der Gläubiger anbot, alle Schulden zu erlassen: Wenn sie nur die schöne barbusige Marmorstatue ihm überliessen.
Es spricht für die griechischen Bewohner von Knidos, dass sie genau das nicht machten. Und lieber ehrenhaft ihre immensen Schulden abbezahlten.

Kythira?
Ist irgendwie ein Geheimtipp unter meinen vergessenen Inseln. Irgendwie tatsächlich vergessen, das Inselchen gleich südlich des Peloponnes. Und auch Kythira hat seine schöne Tochter fast vergessen, fast. Nur ein einziges Hotel hier in Kapsali, dem netten verträumten Hafenstädtchen unter der venezianischen Festung, heißt nach ihr. Vergessen also – fast. Wären da nicht all die Anbeter der Aphrodite, die von Kreuzfahrtschiffen wie der CLUB MEDITERANEE 2 hierher an Land kariolt werden mit dem der Durchsage des Bordfunks: „Welcome in Kythira. Where Aphrodite was born!“
Aber das kann Kythira ganz locker ab.

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Vom Autor von MARE PIU:

Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.
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