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Das besondere Boot

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Wir sind wieder zurück in Clifton Harbour auf Union Island, nicht einmal eine Woche nach unserer ersten Ankunft. Und wir haben viele Mails erhalten. Die Leser sind gespannt, wo wir die vergangenen Tage verbracht haben. Was ist das nun also für ein Boot, das Johannes seit so langer Zeit beschäftigt und das einen Umweg von 100 Seemeilen rechtfertigt, obwohl wir doch eigentlich in den Norden wollen?!

Auf facebook wurde spekuliert, ob es sich vielleicht um “Dove” handelt, mit der Robin Lee Graham als 16-Jähriger zur Weltumsegelung aufgebrochen ist. Oder aber um die Megayacht “Rising Sun” von Multi-Milliardär Larry Ellison, Gründer der Firma “Oracle” und Geldgeber des gleichnamigen America’s-Cup-Teams.

Das Schiff, das Johannes seit 12 Jahren beschäftigt ist jedoch nicht berühmt und eigentlich auch nicht wirklich bekannt. Hier ist seine Geschichte:

Im Jahr 2003 hat der 16-jährige Johannes in der “Bootsbörse” eine Anzeige entdeckt, die sein Interesse weckte. Eine 70-Fuß Brigantine stand in der Karibik zum Verkauf, gebaut Mitte der 70er Jahre und zwar aus Ferrozement. Das alles zu einem kleinen Preis. Für einen Schüler natürlich trotzdem außerhalb aller Möglichkeiten. Johannes fragte sich, wie ein solches Schiff dort hingekommen sein mag, was es für eine Geschichte in sich trägt und weshalb es jetzt so günstig zum Verkauf steht. Damals war Johannes gerade auf zwei Traditionsschiffen mitgefahren und infiziert worden. Also schrieb er an die angegebene Kontaktadresse eine Email und erkundigte sich nach den Hintergründen und Fotos von der Brigantine. Obwohl Johannes ganz offensichtlich kein potenzieller Käufer sein konnte, antwortete der Eigner in einer sehr netten Mail und sendete ein Foto und Zeichnungen. Johannes wurde eingeladen mitzusegeln, sollte er mal in der Gegend sein. In der Schule malte sich Johannes aus, wie er das Schiff kaufen und in der Karibik segeln würde. Wäre er doch nur schon älter …

Fast drei Jahre später, unterwegs auf seiner ersten Reise, segelte Johannes sämtliche Buchten St. Maartens auf der Suche nach dem Schiff ab. Hier, so seine Erinnerung, sollte sie damals gelegen haben. Er hatte das Bild, das ihm das Eignerpaar geschickt hatte, noch genau vor Augen. Aber sie schien verkauft und fortgesegelt zu sein, sie war zumindest nirgendwo zu finden.

Das Schiff beflügelte Johannes Träume. Über viele Jahre hinweg begleitete es ihn. Schon kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten, habe ich das erste Mal von ihr gehört. Über die Jahre hat er immer wieder mal nach ihr recherchiert, den Sohn des ersten Eigners ausfindig gemacht, herausgefunden, dass sie zwischendurch umgetauft und mit ihr Charter gefahren wurde. Der Verdacht, dass sie umgeriggt wurde, erwies sich lange Zeit später als falsche Fährte. Angeblich sollen sogar Drogen mit dem Schiff geschmuggelt worden sein. Das Schiff selbst aber blieb unauffindbar.

Vor drei Wochen hat Johannes sie dann ganz zufällig auf einer kleinen Dingitour entdeckt. „Ich hab’ sie gefunden!“, sagte er grinsend, als er zurück an Bord kam. „Nein!“, staunte ich fassungslos. Beim Vergleich mit alten Bildern verflog jeglicher Zweifel. Die gleichen Linien, die Rüsteisen an der gleichen Stelle, es war tatsächlich das Schiff von damals. Sie lag an der gleichen Stelle wie auf dem Foto, das ihm das Eignerpaar 2003 zugeschickt hatte. Allerdings musste man schon zweimal hingucken, denn die Zeit ist an ihr nicht spurlos vorüber gegangen und wir konnten vom Dingi aus grüne Pflanzen an Deck erkennen. Anscheindend hatte die Natur schon Besitz ergriffen. Ohnehin befand sie sich in bester Gesellschaft dafür. Rund um sie herum und in der Nachbarbucht lagen etliche Wracks, die auf Tiefe gegangen oder vom Eigner zurück gelassen waren. Eigentlich ein trauriger Anblick. Aber ich konnte in Johannes Gesicht lesen, dass gerade ein Traum für ihn in Erfüllung gegangen war.

Doch an Bord konnten wir niemanden ausmachen. Es schien als wären die Eigner nicht zuhause. Die Zeit drängte, wir wollten noch so viel von der Karibik sehen, waren aber schon so spät dran. Also setzten wir Segel und nahmen Kurs Nord. Doch das Schiff ließ Johannes – wieder einmal – nicht los. Über Kontakte auf Grenada versuchte er den Eigner zu kontaktieren.

Schließlich saßen wir in einem französischen Café in Union Island. Gerade angekommen und einklariert, auf dem Weg zu den Tobago Cays. Das Handy bimmelte. “Ich werd verrückt”, sagte Johannes langsam, ungläubig. “Ich habe gerade eine SMS vom Eigner bekommen.”

Keine 24 Stunden später liefen wir mit geblähten Segeln auf Südkurs. Später würden wir die Strecke noch einmal gegenanbolzen müssen, um zurück nach Union Island zu kommen. Aber das war erstmal egal. Wir mussten zurück nach Grenada. So nah würde Johannes dem Schiff so schnell nicht mehr kommen.

Wieder einen Tag später lernten wir die Eigner kennen. Das erstaunliche jedoch: Wir hatten die wohl eindrücklichste persönliche Begegnung dieser Reise, wobei das Boot sogar eher Nebensache blieb. An allen drei Tagen, die wir auf Grenada ankerten, wurden wir zum Eignerpaar eingeladen. Wir hörten die spannendsten Geschichten, die nur das Leben schreiben kann und lernten zwei Menschen kennen, die viel gesehen und das Träumen niemals verlernt haben. Der Eigner, ein richtiger Seemann, hatte ebenfalls noch die Verkaufsanzeige von 2003 in seinen Akten. Johannes konnte einige Lücken in der Schiffsgeschichte schließen. Im Gegenzug bekam er Geschenke aus den sorgfältigen Archiv, das die beiden angelegt hatten. Der Eigner konnte sich noch sehr gut an die erste Email von Johannes erinnern. Er hat gesagt, es habe ihn berührt, wie ein so junger Bursche nach dem Boot fragt. Zum Abschied schenkten uns die beiden alte Segelbücher für Johannes, der dafür eine Leidenschaft hat, und mir einen Holzfisch von einem alten Segler und einen Aloekaktus, der auf der Brigantine herangezogen wurde. Im Gemüsegarten, dessen Grün uns vom Dingi den Eindruck vermittelt hatte, als sei das Schiff sich selbst überlassen worden. Wir konnten uns mit Vinho Verde aus Portugal bedanken, der noch seit Viana do Castelo an Bord lagert. Eine Geste, die die Augen des alten Seemanns zum Leuchten brachten, hatte er doch vor langer Zeit mal in Portugal gelebt.

Und so hat uns die alte Brigantine zu der schönsten Geschichte dieser Reise geführt. Wir haben nie ihr Deck betreten, weder Fotos noch Videos gemacht. Diese Begegnung ist einfach nur für uns. Und wohl in vier Herzen abgespeichert.

Beim Anblick von Johannes und dem Eigner habe ich gesehen, dass zwar die Suche, aber noch lange nicht die Geschichte zuende ist.

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 13: Um Mallorcas Südküste. Von Alcudianach Palma de Mallorca.

„F*ck cancer go sailing“ ist das Motto von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die es jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen ermöglicht, Segeln zu gehen. Mare Più begleitet ihn auf seiner Jungfernfahrt mit der Segelyacht ROXANNE. Lesen Sie auf Mare Più und auf Marc’s Blog SEGELREBELLEN, wie es zugeht. Auf diesem KEIN GANZ NORMALER TÖRN. Von Marseille nach Mallorca.

Es ist der Tag nach dem Mistral. Der Regen hat aufgehört, ist einfach verschwunden. Und mit ihm die Kälte und das Grau. Die Sonne lugt durch die Wolkendecke. Aber am faszinierendsten an diesem Tag: ist die Farbe des Meeres. Nach dem Regen ist es von irritierend intensivem Grün, ein Blaugrüngrau, das ich an den Küsten der nördlichen Adria, in Venedig, so sehr liebe. Vielleicht hat es damit zu tun, dass der Mistral das Meer bis zum Grund aufgewühlt hat. Vielleicht hat der lange Regen allerlei feine Sedimente vom langen Sandstrand Alcudias ins Meer gespült. Vielleicht haben sich die Wellen, die der Mistral ans Ufer trieb, auch feine Teilchen vom Land zurückgeholt, die das Meer nun grün schimmern lassen, dort, wo die Sonne es schafft, ihr Licht bis ins Wasser hinunter zu werfen.

Als wir morgens aus dem Hafen von Alcudia hinausgleiten, ist es ruhig. Ein Hauch in der Luft, kaum Welle, es lohnt nicht, daran zu denken, Großsegel oder Genua auszupacken. ROXANNE schnürt unter Motor langsam durch die Bucht von Alcudia, während die Crew dabei ist, Fender und Festmacher zustauen, ein Gewusel im Cockpit und an Deck, Leute, die durcheinander laufen, dicke blaue Gummifender und schwarze Trossen schleppend. Der Redakteur vom Landessender, der gestern an Bord kam, selber Jollensegler am Chiemsee, packt sein Mikrofon aus. Ein ehrfurchtgebietendes Teil mit großem großem blauen Überzug, auf dem in Weiß groß das Logo des Landessenders prangt. Der Redakteur möchte ein Radiofeature machen. Er nimmt zuerst Geräusche auf, die Wellen. Dann interviewt er Marc, den Gründer der SEGELREBELLEN und Initiator der Reise. Dann spricht er die Mitsegler an. Er macht es gut, jovial, ein netter Kerl. Das Mikrofon mit dem mächtigen blauen Überzieher bewegt er dabei langsam von sich zum Sprecher hin. Fast eine majestätische Bewegung, mit der er das Wort erteilt. Wer weiß, welcher Edmund, welcher Horst da schon wichtige Sätze hineingesprochen hat, in das große blaue Mikrofon.

Kaum sind wir vorbei an der Illa de Alcanada und langsam draußen aus der Bucht von Alcudia, ändert sich alles. Die Morgenbewölkung ist verschwunden, das Meer liegt da wie ein blausamtener Teppich, nur noch ein leichter Stich ins Grün, und wiederum ists so: wenn es einen Menschen gäbe mit dieser Augenfarbe: ich wäre hin und weg, verloren.

Noch eins hat sich geändert. Zwar weht immer noch kein Wind. Aber kaum ist auf Höhe von Cap de Menorca der Schutz nach Norden, die Landabdeckung weg: kommt gewaltiger Schwell daher aus Norden. Der Mistral hat ihn aufgebaut: Lange Roller, haushoch, Hügelkämmen gleich, rollen fast wie Atlantikwellen auf ROXANNE seitlich zu, neigen sie zur Seite, heben sie gleichzeitig hoch, laufen unter ROXANNE durch und setzen ROXANNE dann sanft wieder im nächsten Hügeltal ab. Man kann hinaufschauen, wenn die Hügelkämme anrollen, ein faszinierendes Bild, wenn man auf dem Gipfel eines Hügelkammes schon 200 Meter weiter nördlich den nächsten anrollen sieht. Ein unglaubliches Bild.

ROXANNE ist dem allem wehrlos ausgeliefert. Trotz Stützsegel und Motor läuft sie auf Ostkurs und geigt, was das Zeug hält, schwankt von liiiiiiiiiiiinks nach reeeeeeeeechts und wieder nach liiiiiiiiiiinks und wieder nach reeeeeechts. Und munter so weiter. Der Crew der ROXANNE macht das wenig aus. Andrea und Susanne parlieren munter unter Deck, Susanne immer strahlend mit bewegten Gesten. Andrea eher gestenarm, dafür röhrt das Ruhrpott-Mundwerk geschliffen aus dem Schiffs-Inneren, von tief unter Deck. Felix dreht sein Zigarettchen, um sich dann gleich die Kamera unter den Arm zu klemmen und damit aufs Vordeck zu jumpen. Jo und Marc unterhalten sich über die Vorzüge von 49-Fuß-Yachten. Hauke hat zur Freude aller im beachtlichen Gegeige noch eine Tüte Chips in seiner Koje entdeckt. Die verteilt er, während das Schiff beträchtlich schwankt, zum Ergötzen aller, und zum Nachtisch reicht er etwas SKIPPER MIX-Lakritz. Was fröhlich mampfend von allen gerne genommen wird.
Nur dem Redakteur, dem geht es schlecht. Er hängt über dem Heck. Und ist für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen. Aber wie Andrea so schön in einem früheren Beitrag sagte: „Kotzen, das hab ich nun wirklich in eineinhalb Jahren Chemo gelernt“, deshalb hat sie Mitleid mit dem Redakteur. Macht für ihn eine Cockpit-Bank frei. Bettet ihn darauf. Holt für ihn einen wärmenden Schlafsack. Und ein Kissen. Setzt sich neben ihn. Redet ihm, der geschwächt zwischen Schlafsack und Mütze hervorlugt, gut zu. Es ist weiß Gott nicht das erste Mal auf diesem Törn, dass die, die eigentlich krank und elend sein müßten, den vermeintlich Gesunden zeigen: wo der Hase lang läuft.


Am Cap des Freu ändert sich der Kurs fast auf Süd. Die Hügelkämme treffen nun die ROXANNE fast im Heck, die Schiffsbewegungen werden andere. Zuerst wird die ROXANNE nun beschleunigt, dann achtern angehoben, dann läuft die Welle mitschiffs durch, läßt das Heck ins Hügeltal fallen und hebt den Bug mächtig an, alles von gewaltigem Rauschen begleitet. Die 49-Fuß-Yacht: fast ein Stückchen Treibholz im großartigen Schwell. 
Unter Deck ists kaum auszuhalten, Susanne ist unten, rhabarbert strahlend mit großen Bewegungen und wem auch immer. Anna quietscht vergnügt. Andrea kümmert sich rührend um den Redakteur, der nun meint, dass es ihm unten vielleicht besser ginge. Hauke taucht von unten auf, blickt traurig und sinnend über die Vergänglichkeit der Welt auf ein Zipfelchen französischer Salami, das er sich in seiner und Anna’s Koje für schwierige Zeiten aufbewahrt hat. Und das nun schimmelt. 
Und ich denke mir: mit dieser Crew könnt‘ ich jetzt segeln bis ans andere Ende der Welt.
 


 
Es ist Nachmittag geworden. Der Schwell hat sich beruhigt. Und auch auf dem Schiff ist Ruhe eingekehrt. Nur der Wind: der läßt sich nicht mehr blicken. Und so motoren wir weiter südwärts, Tagesziel Porto Petro, das wir im Dunkel hinter dem blinkenden Leuchtfeuer erreichen.
 
Am frühen Morgen des nächsten Tages geht es weiter. Filmaufnahmen stehen an, Außenaufnahmen. Denn: Aus unserem Törn soll ein richtig guter Film werden. Felix ist mit seinem ganzen Equipment zu Beat aufs Boot gegangen, sie begleiten uns, Felix filmend. Und während wir Wenden fahren für Felix, schreien, johlen wir unsere Freude hinaus, unsere Freude darüber, einfach am Leben zu sein. Und erlebt zu haben, was wir in diesen 10 Tagen erlebt haben.
 
Ein langer Weg. Von Port Saint Louis nach Palma de Mallorca. Und KEIN GANZ GEWÖHNLICHER TÖRN.

Port Saint Louis. Eine desindustrialisierte Landschaft des Rhone-Deltas sucht nach Zukunft.
Marseille. Stadt im Aufbruch. Und Segelclub in Trauer.
Golfe de Lion. Eine phantastische Schlechtwetter-Überfahrt, die Individuen zu einer Crew zusammenschweißt.
Barcelona. Ankunft in der Moderne.
Mallorca. Noch einmal: 20 Stunden Überfahrt im Schlechtwetter.
 
Die Sonne ist längst weg, als die Großstadt Palma de Mallorca in Sicht kommt. Langsam laufen wir in die Bucht ein, dann in den Hafen, dann in den CLUB REAL NAUTICO DE MALLORCA.
Was ist es, was das Herz zusammenzieht, wenn die Bucht immer enger wird? Und das Meer immer weniger? Wenn die Ufer immer näher aneinanderrücken und das Meer unweigerlich endet?
 
Und so stehen wir im Dunkel auf der Pier. Marc, Hauke, Anna, Jo, Andrea, Susanne, Felix. Und trinken auf glückliche Heimkehr. Von einem Törn, der KEIN GANZ GEWÖHNLICHER TÖRN war.
 

 

 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 12: Ein Tag im Hafen. Oder: Was für ein Geräusch macht eine Schwimmweste, wenn man ins Wasser fällt?

Und plötzlich ist das Gespräch an diesem verregneten Hafentag unter Deck genau an diesem Punkt – und will von da auch nicht mehr weg. Wie klingt das Geräusch einer Automatik-Schwimmweste, wenn man mit ihr ins Wasser fällt und die Schwimmweste plötzlich aufgeht? 
Ist es ein lauter, explosiver Knall wie ein Airbag? 
Oder ein langsames, gleitendes Zischen? 
Geht es schnell, bis sich die Schwimmweste aufpumpt? 
Oder dauert es quälend langsam, während Wollpullover, Seestiefel und weiß-Gott-was schon anfangen, einen langsam nach unten zu ziehen?

Und weil wir nicht ins 12 Grad kalte Balearen-Wasser fallen wollen, beschließt Marc, Gründer der SEGELREBELLEN und Skipper, einen Lifetest:

Zur Chef-Testpilotin wird Anna ernannt. Sie ist zwar mit 1,62 Meter Größe und geschätztem Körpergewicht von 52 kg nicht unbedingt prädestiniert, aber sie saß halt gerade so, als Marc, der Magier sich nach einer reizenden Assistentin für die Show umsah. Und für den folgenden Live-Act ist Anna allemal hübscher anzusehen als zum Beispiel der zarte 130 Kg Kampfgewicht mitbringende Skipper Beat, der noch im Publikum sitzt. Gute Entscheidung also von Marc, dem Magier!

Akt 1: 
Marc, der Magier verschnürt seine reizende Assistentin Anna, die Anmutige nach allen Regeln der Kunst in die Schwimmweste, die ebenso wie Seejacken, Schwerwetterhosen und Stiefel für den Törn von HELLY HANSEN gesponsert wurde. 

Akt 2: 
Marc, der Magier überzeugt sich vor Ziehung der roten Auslöse-Leine noch einmal vom korrekten Sitz der HELLY-HANSEN-Weste. Asistentin Anna ist auf obigem Bild nicht unbedingt überzeugt, dass jetzt gleich im Stadion alles glatt gehen und wieder einmal der FC BAYERN als Sieger den Platz verlassen wird.

Akt 3:
Es ist soweit: In der gebannten Stille des Raumes könnte man ein Blatt Papier zu Boden segeln hören. Nicht mal Hauke fällt was ein. Andrea’s Ruhrpott-Klappe ist wie abgedichtet. Sunnyboy Felix läßt Zigaretten Zigaretten sein. 
Marc, der Magier greift jetzt langsam, bedächtig langsam zur Auslöseleine. 
Assistentin Anna, entrückt, schenkt uns ihr allerschönestes Lächeln.
Ein blitzschnelles Reißen von Marc, dem Magier an der roten Auslöseleine. Und …  

… Anna, die Leichtgewichtige scheint danach fast irgendwie zur Decke zu schweben wie ein Heißluftballon, als sich der gelbe Automatik-Gabentisch unmittelbar unter Assistentin Anna’s Kinn aufbaut. 

Als die wären:
1 Original TITANIC Zweiton-Trillerpfeiffchen. Es ist so laut, dass man damit jeden im Umkreis von geschätzt 2 Metern auf sich aufmerksam machen kann.
1 Mundstück, mundgerecht zum Mundaufblasen der Schwimmweste.
1 kleine Leselampe.

1-5 Schnüre und Bänder, um eventuell in der Einsamkeit des Ozeans dran zu ziehen. Und die Langeweile zu vertreiben.

Wie man an Anna’s Taille unschwer erkennen kann, entfaltet die Schwimmweste schon gehörig Kraft. Die beiden gelben Auftriebskörper haben sich kraftvoll entfaltet, sind prall gefüllt. Das Publikum tobt. Und hat deutlich Vertrauen gewonnen, zur Schwimmweste.

Und die Antwort, auf die große Frage?
Die lautet diesmal nicht „42“. Sondern:
1. Kein Knall. Sondern ein langsames, gleichmässiges Zischen.
2. Es dauert knapp zwei Sekunden, bis die Schwimmweste voll aufgeblasen ist.

Kein Grund also, Panik zu schieben.
Oder, Anna?

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 11: Ein Tag im Hafen.

„F*ck cancer go sailing“ ist das Motto von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die es jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen ermöglicht, Segeln zu gehen. Mare Più begleitet ihn auf seiner Jungfernfahrt mit der Segelyacht ROXANNE. Lesen Sie auf Mare Più und auf Marc’s Blog SEGELREBELLEN, wie es zugeht. Auf diesem KEIN GANZ NORMALER TÖRN. Von Marseille nach Mallorca.

Bisher war das Wetter eher schlecht auf unserer Reise – die letzten Tage und besonders auf unserer 20stündigen Überfahrt von Mallorca nach Barcelona. Warum aber auch ein verregneter Hafentag unvergesslich sein kann: das lesen Sie hier.

Draussen nichts als grau. Das Grau sickert durch das einzige beschlagene, tropfnasse Fenster in meine klamme Kabine.. Es ist kalt. Regen schlägt in Böen draußen auf das Deck. Noch vor dem Aufwachen im Grau höre ich draussen den Mistral. Er ist hörbar, spürbar in vielerlei Formen: Heulen.  Ein Pfeiffen in der Luft. Von Wanten und Stagen. Ein Krängen des Boots in den Böen. Ein Schlagen von Fallen an den Mast. Ein Knattern von Persenningen. Ein Knarzen, Quietschen von Fendern und Festmachern, wenn die ROXANNE sich an den Nachbarlieger presst. Prasselnder Regen, der aufs Deck schlägt.
Im Boot tropft es herunter, von vielerlei Stellen: Im Flur aus dem lecken Luk, unter dem sich eine Pfütze gebildet hat. Im Salon von den Fensterrahmen, an denen feuchtkalte Luft besonders schnell zu dicken Tropfen wird, die auf die Polster heruntertropfen. Vorne in der Bugkoje, in der Andrea und Susanne schlafen.
Im Grau halte ich die Uhr vor meine Augen. Es ist Mittwoch Früh, gegen 6.30 Uhr. Langsam stehe ich auf, schaue mich um. Es ist still auf dem Boot. Nur die Geräusche von draussen. Drinnen: ein Tropfen, der langsam von der Decke fällt. Pfützen unter dem Gangfenster, das nicht dicht ist. Zeitungspapier auf dem Boden, Zeitungspapier auf den Polstern, um die Nässe aufzusaugen.
Auf der ROXANNE sieht es nicht gut aus, die gestrige zwanzigstündige Überfahrt, die feuchte Mistralluft haben Spuren hinterlassen. Im Salon tropft es wegen der Kälte von den Alu-Fensterrahmen. Boden und Polster sind klamm und kalt. Überall liegen nasse Sachen herum, hängen nasse Wollmützen. Handschuhe. Segeljacken. Nasse Schwimmwesten und Lifebelts. Stiefel. Nach dem gestrigen Abendessen sind einfach alle nur noch erschöpft in tiefen Schlaf gefallen. Zeit fürs Spülen, Zeit fürs Saubermachen, Zeit: nach dem Boot zu sehen: war keine mehr. Nur noch schlafen.

Langsam kommt Leben ins Boot, schälen sich die anderen aus ihren Schlafsäcken in die feuchte Kälte, die im Boot steht. Andrea und Susanne beginnen zu spülen, da steht auch noch das Geschirr herum vom gestrigen Nudelessen.
Jetzt etwas Warmes in den Bauch. Ein heißer Tee. Ein spanische Tortilla. Und die geht so:

Zwei, drei Kartoffeln hobeln. In der Pfanne anrösten.
Zusammen mit gehobelten Zucchini und einer Tomate anschmoren.
Jo hat noch ein paar Zwiebeln fein gehackt.
Danach 10 verrührte Eier mit etwas eingeriebenem Gruyere, Salz, Pfeffer, Rosmarin, Salbei darüber.
Langsam in der Pfanne stocken lassen, bis das Ganze zu einem richtigen Kuchen wird.

Auf das standesgemäße Wenden dieses „Kuchens“ in der Pfanne wird heute verzichtet. Die Sauerei ist eh schon zu groß hier um den Herd, im Salon.
Langsam kommt Leben ins Boot. Der Salon mit den blauen Polstern ist soetwas wie die Mitte des Bootes, so eine Art „Dorflinde“. Hier trifft sich alles. Wer aus den Kojen kriecht: kommt hierher. Wer von Deck kommt, ebenfalls. Wer aus dem Vorschiff kommt oder den Toiletten, auch. Bald ist der Raum gefüllt mit halbnackten Körpern, Barfußgehern, Leuten, die warme Unterwäsche, ihre Pillen, wer-weiß-was suchen. Pullover, Wollsocken, etwas Warmes überstreifen, um der Kälte zu trotzen, mit Cremes oder irgendwas hantieren. Ein Durcheinander, in dem gleichzeitig die Backschaft (die, die an diesem Tag Küchendienst machen) versucht, ein begeisterndes Frühstück für die anderen auf den Tisch zu bringen.
Wärme verbreitet sich vom Küchenherd. Kaffeegeruch. Der Duft von aufgebackenem Stangenbrot, von Bratkartoffeln in der Luft. Irgendjemand schneidet Äpfel, Obst für Müslis. Irgendjemand macht Musik. Irgendjemand deckt den Tisch. Das Boot: es ist erwacht. Was noch von einer halben Stunde ein kalter, klammer Ort der Unwirtlichkeit war: jetzt ist es ein gemütliches Zuhause. An keinem anderen Ort der Welt möchte ich jetzt sein, als sich alle neun jetzt zum Frühstück setzen auf die mit Zeitungen bedeckten blauen Salonpolster setzen.

Kaum sitzen alle, hämmert es draussen im Regen ans Steckschott, zwei Mal, kräftig. Ein Bulle von Mann steht vor dem Niedergang. Mindestens so groß wie breit. Nicht in Nikolaus-Rot, sondern Segler-Blau gekleidet. Und er spricht mich auf Tirolerisch an: Der Beat sei er, Schweizer. Das spricht man [be:at]. Und weil er Marc’s Chef kenne und selber hier mit seiner Firma SEGELABENTEUER den ganzen Sommer über mit Leuten segle: drum habe er unsere Reise im Internet verfolgt. Ganz großartige Sache!! Und mit diesen Worten knallt er zwei große Tüten auf den Tisch. Die eine voll mit Sixpacks SAN MIGUEL- Bier. Die andere mit Osterhasen.

Und dann beginnt Beat, Osterhasen zu verteilen. Jetzt ist endgültig Ostern und Weihnachten auf der ROXANNE! Obwohl um den Tisch kein Platz mehr ist, muß sich der Beat setzen. Und bekommt seinen Kaffee. ROXANNE ist plötzlich Dorfkneipe geworden. Gelärme. Lachen. Gruppen im Gespräch, während draußen der Regen auf Boot prasselt und Böen das Boot schütteln. Drinnen ists gemütlich unter dem weißen Netz, in dem wir Brot, Gemüse, Obst aufbewahren, damit es nicht schimmelt. Grüppchen haben sich gebildet, reden durcheinander. Beat, Jo und Marc reden übers Segeln, wie es ist, wenn es nicht Mistral hat oder regnet, hier auf um Mallorca. Susanne, Anna und Hauke reden darüber, was Ärzte teilweise über ihre Patienten auf dem OP-Tisch reden, wenn sie annähmen, der Patient läge schon in Propophol-Betäubung – und ist’s noch gar nicht. Andrea steuert ihre Geschichte bei, wie eine Assistenzärztin versuchte, kurz nach Mitternacht ihren Lymphknoten über der Leber zu punktieren – nur mit Lokalanästhesie. „Ich hab‘ einfach nur in meine Hand geweint, bis dann zwei andere Ärzte kamen und die Punktierung auf Anhieb hinbekammen.“ Das Verloren-, das Ausgeliefertsein im Klinik- und Pharmaziebetrieb ist Thema an desem Vormittag. Es ist kein Mißtrauen gegen Ärzte oder Klinken allgemein, worüber geredet wird. Sondern Unverständnis, dass „Klink“ eben nichts anderes als eine „Firma“ ist, die manchmal eben überhaupt nicht das Beste für ihre Kunden im Sinn hat, die hier „Patienten“ heißen. Sondern manchmal irgendetwas Unverständliches, angesiedelt auf einer Skala zwischen Gleichgültigkeit, Bürokratie, Geldgier. Viel Lob immer wieder für die einfachen Pflegekräfte: Für kleine Gesten. Für ein „die Hand halten“ während einer schmerzhaften Prozedur. Für eine kleine Geste des Mit-Leidens. Des Nicht-Vergessens, dass es sich eben doch um Patienten handelt.
So gehen die Gespräche. Und weil es LUFTHANSA nicht geschafft hat, Susanne’s Gepäck heranzuschaffen und Susanne ihre erste, allererste Seereise in Anorak und Slippern unternimmt – oder: wenn sie Wache hat: in geliehenen Jacken, Strümpfen, Seestiefeln und Seejacken der anderen – und ihren Dienst klaglos versieht: drum machen wir uns auf, für Susanne im verregneten Alcudia etwas Warmes zum Anziehen zu kaufen. Und so stapfen wir durch die vom Winter entvölkerte, leere Hafenstadt, in der Kneipenwirte und Ladenbesitzer voller Ungeduld auf das Ende des Winters: auf die Rückkehr der Zugvögel warten.
 
 
 

 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 10: Die große Überfahrt. Von Barcelonanach Mallorca.

„F*ck cancer go sailing“ ist das Motto von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die es jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen ermöglicht, Segeln zu gehen. Mare Più begleitet ihn auf seiner Jungfernfahrt. Lesen Sie auf Mare Più und auf Marc’s Blog SEGELREBELLEN, wie es zugeht. Auf diesem KEIN GANZ NORMALER TÖRN. Von Marseille nach Mallorca.

Die Crew der ROXANNE segelte bisher von Port Saint Louis im Rhone-Delta über den Golf de Lion nach Barcelona. Und begibt sich jetzt auf ihre vorletzte Etappe: Die 120 Seemeilen lange Strecke von Barcelona nach Alcudia im Nordosten der Insel Mallorca. Am kommenden Freitag treffen wir in Palma de Mallorca ein.

Wie so oft ist Segeln eine Metapher fürs Leben. Wo wir meinen: wir sind es, die tun: ist es doch etwas ganz anderes als wir, was die Spielregeln vorgibt.

Und so ist es auch etwas ganz anderes, was an diesem Abend in Barcelona den Zeitpunkt unseres Abschieds vorgibt. Für den morgigen Dienstag sagen die Wetterberichte ein Tief über Portugal voraus, das uns Wind aus Nordost bringen wird. Mit 5-7 Beaufort. Halber Wind. Beste Bedingungen für die 20 stündige Überfahrt. Aber danach: genau kurz Mitternacht, in den frühen Morgenstunden des Mittwoch, wird der auf Nordwest umspringen. Mistral. Mit 8-9 Beaufort aus Nordwest. Raumschots-Kurs. Aber eindeutig zuviel, um mit wirklich gutem Gefühl rauszugehen.

Wieder und wieder diskutieren Marc und ich die Wetterberichte. Wir holen uns drei vier verschiedene Wetterberichte. Jeder. Wie zwei altweise Magier vertraut jeder von uns beiden auf „sein“ System. Marc wartet auf das letzte Update von WINDPREDICT. Ich sehe mir WINDGURU und METEO MARINE an. Frage im Marina Office nach. Den für mich entscheidenden Wetterbericht liefert dann aber Sebastian, Meterologe bei WETTERWELT. Als hätte er’s geahnt, schreibt er mich zum zweiten Mal auf dem Törn an, sein Mail erreicht mich an diesem Abend um 22 Uhr. Ob er uns helfen könne. Sebastian verfolgt Marcs und meinen Blog, weiß, selber Segler, wo wir stehen. Eine Viertelstunde später habe ich seine Wettervorhersage, er hat sich sofort hingesetzt und sie für uns erstellt, in der Hand: Ost-Nord-Ost mit 6-7, später abschwächend auf 4-5. Schauer, die das Portugal-Tief vor sich hertreibt, in jedem Fall. Gewitter eventuell. Marc und ich beschließen: wir gehen raus. Um eins. Danke, Sebastian. Ist schon schön, der Service, den Wetterwelt da individuell für Törns anbietet.

Wieder haben wir uns in zwei Teams eingeteilt. Die zweite Wache – Jo, Andrea, Kameramann Felix, ich – werden um eins den Motor starten. Ablegen. Das Schiff aus dem Hafen von Barcelona hinaussteuern, in der Dunkelheit Richtung Mallorca bringen. Um fünf werden wir Marc, Anna, Hauke, Susanne wecken, die uns dann ablösen werden. Und uns für vier Stunden Schlaf gönnen werden. 20 Stunden rechnen wir für die Reise übers offene Meer. Vier mal werden wir uns ablösen, bis wir vor der Nordostspitze Mallorcas am Abend stehen werden.

Es ist Viertel vor eins. Kurz bevor mich mein Wecker aus kurzem Schlaf holt, ist Andrea an meiner Tür. Es geht los. Sie und Jo stehen schon im Dämmer des Salons. Wer weiß, wie lange sie schlafen konnten. Sie sind in voller Montur. Schwerwetter-Klamotten. Dicke Seestiefel. Schwimmwesten. Lifebelts. Jeder hält eine Tasse Tee in der Hand. Andrea hält mir meine gefüllte Tasse hin, schweigend, im Dämmer der roten Lampe über dem Kartentisch. Wir sitzen einen Moment. Schweigend. Um den Salontisch. Ein guter Moment, jeder in Gedanken.

Als die Tassen leer sind: Nicke ich beiden zu. Wir stellen die Tassen in die Spüle, schauen uns kurz an. Rauf an Deck. Leichter Nieselregen. Es weht böig. Nicht schlimm. Aber wir werden beim Ablegen aufpassen müssen, dass die nächtlichen Böen ROXANNE beim Ablegen nicht vertreiben. Jo baut den Landstrom ab. Dann die Springs. Andrea scheucht unseren Sunnyboy Felix aus dem Schlaf. Er braucht halt immer etwas länger. Ich lege ROXANNEs regennassen Gashebel im Leerlauf nach Vorne. Taste am kalten, regennassen Steuerrad nach dem Zündschlüssel. Der Motor springt an. Ich lausche einen Moment in die Nacht, ob die Wasserpumpe auch ordentlich arbeitet. Als ich das gleichmässige Plätschern auf dem Wasser höre, sind wir bereit.

Felix kommt mit einer Tasse im Cockpit angetanzt. Ich hole meine Crew im Cockpit zusammen. Und sage Ihnen, dass es draussen etwas wehen wird. Dass wir aber trotzdem mal die Nase rausstrecken werden. Und wenn wir uns unwohl fühlen in Wind und Wellen, auch sofort abbrechen und umkehren werden. Wenn wir das Gefühl haben: es geht gar nicht.

Dann erkläre ich, wie das Ablegen in den Böen ablaufen wird. Jo den vorderen Festmacher. Felix den achteren. Aber langsam fieren. Andrea übernimmt es, uns mit laufendem Fender vor dem Nachbarlieger zu schützen. Alle gehen auf ihre Stationen. Machen sich klar. Schauen mich ohne ein Wort an. Warten, dass es losgeht. Mein leises Kommando hören sie sofort. Es klappt wie am Schnürchen. ROXANNE setzt sich langsam in Bewegung, langsam. Nieselregen platscht auf mich, Festmacher platschen im Dunkel ins trübe Hafenwasser. Immer wieder schön, wenn sich 10 Tonnen Schiff bedächtig aus der Box schieben und langsam in die Gasse eindrehen. Die Crew steht in Regenklamotten, baut Festmacher und Fender ab. Als wir in die große Hafengasse einbiegen, übergebe ich Andrea das Ruder. Sie strahlt, als sie das Ruder übernimmt. Jo und Felix stauen Fender und Festmacher. Ich sehe Ihnen, neben Andrea stehend , leise zu. Mache einen Doublecheck, dass sich die Fender auch ja sicher an der Seereling geknotet sind. Weise Andrea darauf hin, ROXANNE mehr auf die Luvseite im Fahrwasser zu bringen. Je näher wir der Ausfahrt kommen, desto mehr pendelt sich der Wind um die 25 Knoten ein. „Nach Luv, nach Luv.“ Sollte jetzt mit dem Motor etwas sein: bleiben uns kostbare Minuten, um Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Kurz vor der Ausfahrt nimmt die Welle deutlich zu. Wir spüren jetzt, dass es draußen weht, dass Wind und Welle herrschen. Weil ich nicht weiß: was uns draußen erwartet, lasse ich Andrea noch im stockdunklen Hafenbecken wenden und in den Wind drehen. Hier ist es ruhig. Noch. Hier können wir, obwohl es jetzt um die 25 bis 30 Knoten weht, in Ruhe das Groß setzen. Ein Reff einbinden. Das Setzen der Genua vorbereiten.

Während Andrea, die erst auf dieser Reise zum ersten Mal an einem Steuer steht, das schwere Schiff genau in den Wind bringt, während uns schlagartig aufgrund dieses Manövers Wind und Nieselregen voll ins Gesicht schlagen, klettert Jo, eingeklinkt ins Strecktau, nach vorne an den Mast. Bedient die Kurbel, mit der er langsam das Groß herausläßt, das Felix vom Cockpit aus nach achtern holt. Weiter, immer weiter. Bis etwa auf ein Drittel. Dann Belegen beide. Beide stehen naß im Gesicht, müde, grinsend, vor mir. Felix dreht sich, immer noch grinsend, sein Zigarettchen. Das erste. Es werden viele werden in diesen 20 Stunden.

Andrea fällt derweil ab. Und steuert die ROXANNE auf das Ende der überhohen Mole zu, das in der Dunkelheit 100, 200 Meter vor uns gähnt. Wir sehen nicht, was uns dahinter erwartet. Wir spüren aber, wie die Wellenhöhe mit jedem Meter zunimmt. Felix und Jo lassen das Genua raus, etwa die Hälfte. Versuchen wirs mal so. Das Ende der Mole kommt näher. Der böige Wind erwischt uns jetzt von Hinten, zunehmender Regen klatscht uns ins Gebick, in den Rücken. Wie gut, dass ich meinen Südwester aufhabe. Das häßlichste. Und das allerpraktischste Kleidungsstück bei diesem Wetter. Ich habe es auf dieser Reise lieben gelernt.

Näher kommt das Ende der Mole. Die ROXANNE schaukelt in der Dunkelheit jetzt beträchtlich. Was kommt da wohl dahinter? Gleich werden wir wissen, wie es da wirklich aussieht. Näher. Und näher. Noch näher. Und dann sind wir da. Die Welle erwischt uns seitlich voll, hebt uns richtig aus. Ich bitte Andrea, sofort nach Backbord zu steuern, hinaus, direkt in die Wellen. Vor lauter Schreck über die aus der Dunkelheit hoch heranrollenden Wellen, dreht sie zu schnell ein, kommt dem Molenkopf zu nahe. Es macht nichts. Ich stehe ja neben ihr. Und kann ihr gleich sagen, dass sie etwas abfallen soll. Gefahr gebannt. „Kurs 150 Grad.“ Unser Kurs für die nächsten 20 Minuten. Salziges Spritzwasser kommt über, platscht auf unsere Regensachen noch zusätzlich zu den Regentropfen drauf. Waren wir vorher noch im Schutz des Hafens, sind wir jetzt voll draussen. Nur noch Dunkelheit um uns. Helligkeit nur von den brechenden Wellenkämmen. Es weht jetzt um die 30 Knoten. Andrea am Ruder flucht, schimpft, jammert. Das Ruder ist schwer. Wind und Welle in der kabbeligen Kreuzsee tun ein übriges, die ROXANNE aus dem Kurs zu bringen. Andrea jammert. Das Schiff will nicht gehorchen. Aber mein 1,62m großer Brocken aus dem Ruhrpott, das kleinste Mitglied meiner Crew, schafft das schon. Ich stehe neben ihr, im prasselnden Regen, passe auf, dass nicht wirklich etwas schief geht. Nach zwei Minuten gewinnt Andrea ihren Kampf. Die ROXANNE läuft durch schwierige Wellen endlich auf Kurs 150 Grad. Andrea ist stolz. Aber wir müssen noch besser werden. „Neuer Kurs: 130 Grad“, sage ich zu Andrea. Genau auf unserem bisherigen Kurs liegt ein ankernder Frachter, besser, schon jetzt Abstand zu halten, sie zu umfahren in der Dunkelheit. Wieder flucht Andrea. Kein Wort der Klage. Nur ein Fluchen. Dass sie die Dinge, das Schiff nicht so hinbekommt, wie sie es sich als Ziel gesetzt hat. Wieder schafft sie es. Ganz allein. Ich stehe neben ihr zwischen den beiden Steuerständen, Und bin stolz auf sie. Unendlich stolz.

Der Wind weht jetzt stabil in den dreißig. Wir laufen mit 7,5 Knoten. Das Vorsegel faucht, Andrea hat zuviel Ruderdruck. Wir müssen am Trimm arbeiten. Gleichzeit kommen Frachter in Sicht. Stehende Peilung 150 Grad. Blöd. Wo wir noch nicht im Dunkel an der blinkenden Gefahrenstelle auf elf Uhr vorbei sind. Wir bleiben erst mal auf Kurs, gehen näher an die beiden Frachter ran, bis wir deren Lichterführung und damit die Fahrtrichting genau ausmachen können. Ich trimme am Vorsegel herum, das in der Dunkelheit faucht. Ändere Hohlepunkt. Fiere auf. Hohle dichter. Immer wieder rufe ich meiner Crew zu: „Augen zu. Ich muss mal das Vorsegel anleuchten“. Damit sie nicht für Minuten in der Dunkelheit geblendet sind. Endlich steht das Vorsegel. Und faucht nur noch ein bisschen. Die Segel stehen jetzt schön, die ROXANNE lässt sich jetzt, bei 28 bis 32 Knoten Wind, mit einem Finger steuern. Schon ein verdammt gutes Schiff, die alte BAVARIA 49.

Wir gewöhnen uns langsam an die Bewegungen. Die Frachter sind näher, immer noch stehende Peilung. Stehende Peilung heißt eigentlich: wir werden kollidieren. Wenn nicht er oder wir den Kurs ändern. Blöd. Ich kann und kann im Schwanken des Decks einfach ihre Lichter nicht klar ausmachen. Nach einer Viertelstunde: immer noch stehende Peilung. Das gibts doch nicht! Ankerlieger? Auf 120 Meter Wassertiefe? Auch unmöglich. Es dauert noch eine ganze Weile, während denen die ROXANNE in die Wellen kracht, bis wir den beiden Frachtern in der Dunkelheit nahe genug gekommen sind. Und ihre Lichter sehen. Und wissen, das wir nicht mit ihnen kollidieren werden. Es sind Langsamfahrer vor dem Hafen. Frachter, Containerschiffe, die vor dem Hafen von Barcelona in der Dunkelheit mit ganz langsamer Fahrt kreuzen, um nicht das teuere Liegegeld im Hafen bezahlen zu müssen. Es ist billiger, ihren Treibstoff, das günstige, giftige Schweröl, Abfallprodukt der Erdöl-Veredlung, dafür zu verbrennen, als im Hafen zu liegen. Selbst bei dem Sauwetter.

Zum ersten Mal läßt jetzt der Regen nach. Unser Regenzeug ist klatschnass, aber wir können die Kapuzen abnehmen. Die Nacht ist stockdunkel. Kein Mond. Kein Stern. Kein Licht. Nur Wind. Nur Wellen. Und wir vier, die wir das Schiff durch die kalte Nacht führen, während die unter Deck schlafen. Ich drehe mich um: die gelben Lichter von Barcelona verschwinden langsam in den hinter uns glitzernden Wellenbergen, voraus: nichts, nichts. Doch: das Rot und Grün unseres Fahrtlichts, im Bug, ganz vorn. Im Dunkel. Der Wind weht stabil. Das Schiff läuft prima. Und plötzlich ruft Felix: „Der Himmel bricht auf“. Tatasächlich: genau über uns schimmern erste Sterne matt durch ein Loch im Schwarzgrau über uns. Das Loch, das sich öffnet, wird langsam größer und größer. Felix sagt: „Ist das geil.“ Andrea jubelt hinterm Steuer. Über die Sterne. Über sich. Dass sie das Schiff steuert, alleine in der Dunkelheit, dass sie die Verantwortung übernimmt. Und ihr gewachsen ist. Wir schauen in die Sterne. Der große Wagen wird hinter uns sichtbar. Der Polarstern. Der kleine Wagen. Die Kassiopeia, die schöne Liegende. Perseus. Wer hätte das gedacht. Andreas Jubel weckt die anderen unter Deck, während wir immer noch bei 30 Knoten Wind mal federleicht und pfeilschnell, mal schwer krachend durch die Wellen rauschen.

Der Wind: er begleitet uns. Bis es langsam zu dämmern beginnt. Es ist Viertel vor Fünf. Unsere Wache ist gleich vorüber. Ich gehe Marc wecken. Und die anderen seiner Crew. Es wird Zeit für uns. Eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Andrea, Jo, Felix ich gehen nach unten, die andere Wacht hat übernommen und sich kurz eingesteuert. Nachdem ich Marc übergeben habe: raus aus den immer noch regennassen Sachen. Raus aus dem schweren Pullover. Schnell rein, rein, ins warme Bett. Schlafen. Mit Salz im Bart.

Gegen Viertel vor neun weckt mich Marc. Zeit, ihn und seine Crew abzulösen. Acht Stunden sind wir jetzt gefahren,der Wind ist etwas schwächer geworden, fast 50 Seemeilen haben wir zurückgelegt. Als ich an Deck komme, bin ich einfach nur wieder begeistert. Von den Wellen, vom Meer. Lange, lange Wellen, aus Ostsüdost. Vereinzelt Schaumkronen im Bleigrau, die brechen. Die ROXANNE geborgen im Unendlichen, in dem, woraus die Oberfläche unserer Erde eigentlich besteht. Wasser. Unendliches Wasser. 2000 Meter Wasser unter dem Kiel. Zu gerne möchte ich wissen: Was da gerade unter uns schwimmt, im Wasser, drunten, auf 2000 Meter Wassertiefe: wo noch  nie ein Mensch lebend war.

Felix, unser Kameramann, ist ebenfalls fasziniert von den Wellen. Eingepickt in die Lifeline klettert er nach vorne, in den Bugkorb, auf allen Vieren, wird von nasser Salzgischt bespritzt, eine seiner drei GOPROs hat er sich am langen Arm in die Segeljacke gesteckt. Jetzt dreht er, knapp über den Wellen, fährt Aufzug im Bugkorb, in den er sich kauert, im Auf und Ab der Wellen.

Er ist besessen davon, einen guten Film machen zu wollen, über das was er hier gehört hat. Über das Meer. Über die Menschen auf dem Meer. Nicht nur an Geschichten über Krankheit, sondern an bewundernswerten, beneidenswerten Einstellungen dem Leben gegenüber. Er ist erst 24, viel mit seinem Vater gesegelt. Mit 14 eine Band gegründet, mit 16 einen ersten Plattenvertrag, Konzerte in Clubs, dann in der Muffathalle. Dann auf Welttournee. USA. Hongkong. Riesenerfolg, mit 16. „Ich dachte: ich bin der Gitarrengott.“ Aber irgendwann war er genervt davon. Das zweite Album mißglückte, er stieg aus. Ende. Dann Filmhochschule. Ausbildung. Vor zwei jahren gründete er zusammen mit einem Freund eine eigene Filmfirma. Verdient sein eigenes Geld. Sunnyboy Felix. „Ich war so ‚pushy‘ drauf“, ist ein Lieblingswort von ihm. Seinen Jahren ist seine Lebens-Erfahrung weit voraus. Und trotzdem: ist Felix leise nach dieser Woche, was er gesehen, gehört hat von den Mitseglern. Ihn prägt wie mich, was wir erfuhren in dieser Woche. Von den Menschen. Vom Meer.

Währenddessen schläft die Crew, die wachfrei hat. Anna verkriecht sich nach ihren vier Stunden Wache tief, tief in ihren Schlafsack. Ganz tief. Auch Felix fallen nach seiner Kletterei und Action die Augen zu. Da er zur Wache gehört, bitte ich ihn, sich im Salon hinzulegen. Sprungbereit, falls irgend etwas sein sollte.

Die Crew schläft. Von den wachfreien ist nur Hauke mit oben, Anna’s Freund. Unscheinbar war er die ersten Tage, still, in sich gekehrt. Kaum ein Wort kam über die Lippen. Er war einfach nur: still. Aber in den letzten Tagen ist Hauke auf See zu unglaublich großer Form aufgelaufen. Hauke hatte eine leukämie-ähnliche Erkrankung. Sein Tabletten-Beutel beeindruckt noch heute alle, was er täglich schlucken muss an Medikamenten. Unglaublich. Alles mögliche. Davor Chemo und Blutplasma-Austausch. Richtig, richtig schlimm. Nachdem Hauke auftaute in den letzten Tagen, sprechen alle mit Respekt von ihm. „Hauke hat mal wieder Recht“, sagen die anderen, wenn Hauke mit wenigen Worten mal wieder die Dinge auf den Punkte bringt. „Haukie-Waukie“, wenn ihm mal wieder etwas verdammt Kluges entfährt. Respekt: das ist es, was die Mitgleider des Törns sich unglaulicher Weise gegenseitig entgegenbringen. Respekt. Es ist eine ganz besondere Crew, die Crew dieses allerersten Törns der Segelrebellen.


Seit der Therapie ist Hauke äußerst sonnenempfindlich. Er muß sich gut eincremen. Eine große Sonnenbrille tragen. Aber auch das geht. Und es hat ihn nicht abgehalten, mitzukommen. Er hatte Mut. „Ich glaub: ich werd‘ wieder Segeln gehen,“ entfährt es Hauke verträumt nach 14 Stunden Überfahrt plötzlich heraus, als den anderen die lange Überfahrt, das endlose Geschaukel, Geklapper, Hin- und Herfallen in den Wellen zur Last zu werden beginnt.
Ich habe Hauke für mich „den Meister des Worts zum Sonntag“ getauft. Wenn er was sagt, ist nichts hinzuzufügen. Wir freuen uns. Auch das ist ein Ergebnis dieses Törns. Dass Hauke sich traut. Aus sich geht. Sein Lächeln auf dem Bild oben war es wert. Einfach wert, dass ich diesen Törn neben Marc mitgefahren bin. Weiter, Hauke.

Gegen fünf, nach 16 Stunden Überfahrt, sind wir irgendwann alle an Deck. Starren voraus ins lichtlose Grau, jetzt muss doch endlich die Insel in Sicht kommen. Die Insel. Das Ziel unseres Törns. Das Ziel unserer Reise. Mallorca.

Und irgendwann ist es soweit: Cap Formentor, der Leuchtturm, ist voraus in Dunst und Niesel in Sicht. Der Leuchtturm, auf dem ich im Januar diesen Jahres in der Sonne stand, nicht ahnend: wohin mich dieses Jahr, mein Leben führen würde. Der Leuchtturm im Januar, das Meer, auf dem wir jetzt gerade unterwegs sind, von oben in der Sonne:
 

 

Vielleicht dies: 
Es ist unglaublich richtig, öfter mal die Perspektive, den Standpunkt, den Blick aufs Leben zu ändern.

Der Himmel ist immer noch grau in grau, als in Alcudia einlaufen. Nieselregen.

Nieselregen auch: als wir festmachen, im südlichen kleinen Vorhafen. Ein ausgesprochen ruhiges Eck. Der Mistral, für wenige Stunden später: er kann kommen. Wir liegen sicher. Zwar ist auf dem Boot alles nass, alles klamm, alles hundemüde. Aber wir sind glücklich. Und zufrieden, wie man es nur irgend im Leben sein kann.

Kurzer Umweg

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Eine kurze Meldung, damit sich all die Mitverfolger bei Facebook und Marinetraffic nicht wundern: Wir gehen gleich nochmal kurz auf Kurs Süd. An Bord ist alles in Ordnung und wir haben auch nicht etwa unsere Schlappen am Steg in St. Georges stehen lassen ; )

Johannes hat im Süden Grenadas ein Schiff entdeckt, das ihn in den vergangenen 12 Jahren sehr beschäftigt hat. Es liegt jetzt nur 50 Seemeilen entfernt, aber je weiter wir nach Norden segeln, desto kleiner wird die Wahrscheinlichkeit es wiederzusehen. Cati weiß, wie sehr das Schiff Johannes bewegt – und er würde keine Ruhe bekommen, ehe er es nicht besucht hat. Also hat sie den Umweg vorgeschlagen. Schließlich muss man seine Träume leben – und was macht da ein Umweg von 100 Seemeilen?

Für etwa zwei Tage segeln wir dorthin zurück – und dann wieder nonstop nach Union Island, um an unsere Route anzuschließen.

Noch ein Vorteil dieser Detour: Wir treffen unsere Freunde von der “Maya” wieder und können die Tobago Cays zusammen erleben! ; )

Vielen Dank fürs Lesen!

 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 9: Vor der großen Überfahrt. Von Blanesnach Barcelona.

 

Auch wenn es an Bord der ROXANNE meistens fröhlich und ausgelassen zugeht wie auf einem ganz normalen Törn: Beim Frühstück an Bord in Blanes an diesem Morgen: Immer wieder Gespräche über die Krankheit. Über das eigene Erleben dieser Krankheit. Immer wieder Geschichten. 

 

Wie Andrea die Nacht erlebte, nachdem zum zweiten Mal Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert worden war und die Ärzte ihr als einzigen Ausweg: die Chemotherapie vor Augen stellten. Wie sie die Nacht durch weinte. Wie es war, als sie zum ersten Mal nach der Chemo nach Hause durfte, zu ihrem Mann. Und gar nicht wollte. „Was sollte ich da? Eine Tasse aus dem Schrank holen: war echter Hochleistungssport, mit Puls sofort auf 180.“ 
 

Wie Marc – ausgerechnet – auf Mallorca, unserem Reiseziel zum ersten Mal entdeckte: dass er doppelt sieht, dass irgendetwas nicht stimmt mit ihm, irgendetwas, das nicht nur wie ein Kratzen im Hals, wie eine Grippe ist. 

 

Wie Hauke die Chemo erlebte: das „meine Abwehrkraft auf Null setzen.“ Das Einleiten der roten Flüssigkeit an einem langen, langen Schlauch. Damit er auch auf die Toilette konnte. Was Anna über Medikamente denkt, für die die Pharma-Industrie 800 € und mehr pro Spritze verlangt. Wie Susanne froh ist, dass der lange in ihr wuchernde Schilddrüsenkrebs entdeckt und behandelt wurde. Dass sie ihre Erkrankung „als Glücksfall“ erlebt: „Ich habe meine Dankbarkeit wiedergefunden. Dankbarkeit für die ganz kleinen Freuden – nicht für das, was es zu kaufen gibt.“

 

Bruchstücke. Wie Soldaten sie aus einem unvorstellbaren Krieg irgendwo in einem fernen Land erzählen. Aber bei den Soldaten, die hier um den Frühstückstisch sitzen, tobte der Krieg, von dem sie berichten, in ihnen selber. Die Bilder vom Frühstück auf ROXANNE: sie zeigen, wie nahe es den betroffenen Mitseglern immer noch geht: ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichten vom gleichen Leiden anderer betroffen aufzunehmen, weil jeder nachempfinden kann: wie sich der andere fühlt. 

Auch dies ist etwas, wofür man Marc Naumann’s Idee der SEGELREBELLEN nicht genug wertschätzen kann: Einen Ort für Austausch geschaffen zu haben – aber einen anderen Ort, als ihn Psychotherapeuten anbieten. Einen Ort, wo Menschen im Sturm, in extremer Situation zusammengeschweißt werden zu einer Crew, sich nahekommen. Wo Menschen feststellen, was sie zu leisten wieder in der Lage sind. Was sie nicht gedacht hätten. Von sich. Das Meer: mit all seiner Schönheit, seiner Wildheit, seiner Gefährlichkeit, als Ort einer Selbst-Entdeckung. Und eines Stückchens Heilung. „Es ist gut, dass wir hier draußen drüber reden“, sagt Andrea. „In all den Stürmen, der Kälte, da wird sie klein und fern, die Krankheit. Hier kann man drüber reden.“

Als wir aus Blanes ablegen, sind wir nachdenklich. Die Sonne scheint. Zum ersten Mal eine leise, leise Ahnung von T-Shirt-Wetter. Und dass es Sommer werden könnte, hier am Meer, auch wenn er jetzt im März noch unendlich weit weg zu sein scheint. Jeden Tag ist es so, dass einer aus der Crew gesundheitliche Probleme hat. Jo, der sagt: er könne sich nach der Therapie nichts mehr merken. Anna, die zerbrechliche, die über Brennen im Magen klagt nach jeder Mahlzeit. Heute ist es Andrea. Draußen auf dem Meer, im Cockpit, meldet sie plötzlich, dass ihr Kreislauf in den Keller fällt. Wir denken sofort an Seekrankheit. Nein, Seekrankheit ist das bei Andrea heute nicht, nein. Bei dem Thema haben die Krebspatienten dem Rest ein großes Stück voraus: Sie haben kotzen gelernt. Es schockt sie nicht mehr. In der zweiten Nacht auf See, bei der langen, wilden Überfahrt, erbrachen fast alle mit großer Heftigkeit. Aber damit war es dann erledigt. Abgehakt. Für den Rest der Reise. Für alle. Die Seekrankheit war vorbei.
Auch Kotzen kann man erlernen. Das ist eines meiner Learnings dieser Reise.

 

Nein. Bei Andrea ist es der Kreislauf, der heute nicht mitmacht. „Die Woge der Gefühle“, nennt sie es später. Zwar ist immer ein Arzt für uns erreichbar, das hat Marc, ganz großer Bruder, schon so organisiert. Aber: Wir haben keinen Arzt dabei, bewußt. Denn den würde man bei jedem Wehwehchen ja konsultieren. Gerade das, dies wieder Verantwortung abgeben an andere: das will Marc Naumann mit seinen SEGELREBELLEN eben nicht. Genau das Gegenteil. Und so kümmert sich die Crew liebe voll um Andrea. Susanne, die sie in die Schocklage bettet. Jo, der ihr die Beine hochhält. Hauke, der mit ihr spricht.

Nach 10 Minuten grinst Andrea wieder. Und feuert munter ihre Ruhrpott-Slang-Breitseiten in die Runde ab. Dies ist ein zweites Learning für mich: Mit Bordmitteln ist auf einem Schiff mehr als nur Bootstechnik zu reparieren.

 

Als es Abend wird, laufen wir in Barcelona ein, in den Port Vell. Vom ersten Moment an ist Barcelona faszinierend für alle: schön, fesselnd wie ein Filmstar. Man kann nicht wegkucken. Ein Ausbruch an schönem Design, witzigen Ideen. Wie man altes Industriegemäuer verpackt. Und neues aufwertet. Der Bruch, die Herausfordrung unserer Jahre, den Niedergang der Industrien durch Neues auszugleichen: auf den ersten Blick scheint er hier gelungen.

 

Nur schade: dass wir keine Zeit haben. Die nächste Etappe geht von Barcelona nach Mallorca. Und für genau diese Etappe ist ab Mittwoch zwei Uhr Morgen Mistral angesagt. In Stärken von 8-10 Beaufort für die Nordostecke Mallorcas, die wir runden müssen. Wenn wir dem entgehen wollen und wenige Stunden vorher noch eben in den Hafen von Alcudia rutschen wollen: Dann müssen wir aufbrechen. Noch in dieser Nacht.

Und so geht die Crew der ROXANNE jubelnd, pfeiffend, singend noch in Hafennähe Tapas essen, wieder einmal froh um die Wärme eines Restaurants, die Wärme nach gutem Essen in uns. Gegen 22 Uhr klariert die erste Wache (Marc, Hauke, Anna, Susanne) das Schiff an unserem böigen Liegeplatz auf. Kocht Suppe. Bereitet Tee. Während die zweite Wache (Jo, Andrea, Kameramann Felix und ich) schon in ihre Kojen krochen. Für zwei, drei Stunden Schlaf. Denn die wird die ROXANNE um eins aus dem mitternächtlichen Hafen bringen. Und hinaussegeln werden auf die 100 Seemeilen lange Etappe von Barcelona nach Mallorca.

Und davon werde ich morgen erzählen.

With a Lot of Help from My Friends




Das aus der Idee die Musik meiner Reise zu veröffentlichen ein so gewaltiges Projekt werden würde, war mir so nicht bewusst. Hätte ich es sonst sein lassen? Sicherlich nicht! Aber vielleicht hätte ich doch eher den Kopf in den Sand gesteckt, als sofort loszulegen. Doch nun fügte sich Stück für Stück einfach alles zusammen. Recorden werden wir ab nächster Woche im Rooted Music Studio bei Jurik Maretzki direkt bei mir um die Ecke. Ein zum Studio umgebautes Einzelhaus mit viel Atmosphäre. Die Empfehlung eines Freundes, die sich schon bei den ersten zwei Kennenlernterminen als genau richtig erwiesen hat. Aber nun Achtung, und das wurde mir heute selbst erst bewusst, diese sage und schreibe 25 Musiker werden an den Aufnahmen beteiligt sein:

Vocals: Caro Leuzinger

Vocals: John Barron
Vocals: Dara McNamara
Backing Vocals: Kati Reisener
Backing Vocals: Mario Schulmann –Reisener
Backing Vocals: noch offen
Drums: Oliver Steinwede
Drums: noch offen
Percussion: Jochen Topp
Keyboards: Merih Aktoprak
Gitarre: Kai Wiener  
Gitarre: Yorck Mennich
Gitarre: Dara McNamara
Gitarre: Van Wolfen

Gitarre: Jürgen Gleba
Gitarre: Ralf Hartmann

Gitarre: Oliver Terwiehl 
Gitarre: Oliver Sparing
Saxophon: Michael Prott
Flügelhorn: Nicolas Boysen
Posaune: noch offen.
Trompete: noch offen
Cello: noch offen
Akkordeon: Uwe Steger
Pedal Steel: Karen Adolph
Blues Harp: Christian Hönniger
Bass & Kontrabass & Vocals: Me, Myself & I

 

Eine beeindruckende Liste. Jeder der Mädels und Jungs tut mir dabei auf die eine oder andere Art einen Gefallen, denn ansonsten wäre das Projekt für mich, ja ohne finanzielle Unterstützung einer Plattenfirma, nicht realisierbar. Andererseits bin ich natürlich auch froh, das mir niemand in die Produktion hineinredet.  Denn auch wenn alle Songs meine Handschrift tragen, sind sie doch so unterschiedlich, das es aus Plattenfirmensicht schwer sein dürfte die stets nötigen Schubladen zu definieren. Es werden nun zwei Instrumentals, eine Rockabilly-, zwei Blues- und eine Jazznummer. Dann zwei kraftvolle Titel im New-Country-Stil, drei Singer/Songwriter Balladen, ein deutschsprachiger Titel im Bacardi Feeling, eine ebenfalls deutschsprachige, bluesige  Seemannsballade, ein Song im 60er Girl Group Motown Sound und eine weitere sehr klavierlastige Ballade. 




Wie passt das alles zusammen? Schwer zu sagen, aber mein Kopf saugt  offenbar die unterschiedlichsten Musikstile auf wie ein Schwamm, und irgendwann kommen diese dann einfach wieder herausgeplätschert. Das mag für den Zuhörer manchmal schwierig einzuordnen sein, andererseits wird es dadurch aber auch sehr abwechslungsreich und macht mir unglaublichen Spaß. Und darum geht mir am Ende bei allem. Den Spaß an der Musik ist der Grund aus dem wir alle mal angefangen Instrumente zu erlernen. Die Augenblicke im Proberaum, in denen man sich wie ein Rockstar fühlte und gedanklich schon auf Welttournee war. Zumindestens bis man am nächsten Tag die Mitschnitte der Probe gehört hat. Die Freundschaften, die man über die Jahre zu anderen Musikern  entwickelt hat, da man viel Zeit und teils auch Hotelzimmer miteinander geteilt hat. 

Und es macht einfach Spaß Songs so zu komponieren, wie sie einem einfallen. Ohne Gedanken an kommerziellen Erfolg, aktuellen Geschmack der möglichen Zielgruppen oder Radiotauglichkeit. Denn die Zeiten, in denen man mit Musik schnell Geld verdienen konnte sind in Zeiten von Spotify und co. wohl endgültig vorbei. Einerseits schlecht, andererseits muss man sich aus künstlerischer Sicht auch nicht mehr verbiegen. Und thematisch hängen die Songs dann doch alle zusammen. Sind sie doch alle auf See und beim Segeln entstanden oder zumindestens vollendet worden. Und behandeln Themen wie:

Am Sonntag beginnt die Produktion und die Kamera ist dabei, so das ich immer wieder kleine Ausschnitte davon posten werde.

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 8.: Von Porto Roses Richtung Barcelona.

 

Den Samstag Morgen weht es hart über Porto Roses. Beim Aufwachen pfeift der Mistral nur so die Hügel im Nordwesten herunter. Wolken jagen über den Himmel, als ich durch das mit dicken Tropfen beschlagene Luk meiner Kammer hinausschaue. Regen prasselt aufs Deck. Die ROXANNE neigt sich in den Böen, rüttelt an der Vertäuung. Die Persenning will sich losreissen. Schnell raus, noch im Schlafanzug, zusammen mit Marc, das schlagende Tuch zu bändigen.

 

Porto Roses? Einer dieser typischen Orte, die sich an der nördlichen Küste des ganzen Mittelmeeres dahinziehen. Hotels. Hotels. Pensionen. Ferienwohnungen. Immobilienmakler. Mir fällt ein: dass es auf dem Mittelmeer zwei große Völkerwanderungen gibt. Und hier: genau hier in diesen Einheits-Küstenorten, die sich von Spanien bis an die Ostgrenze der Türkei erstrecken: hier treffen die beiden Völkerwanderungen aufeinander.
Die eine: von Süd nach Nord. Menschen die Arbeit, Hoffnung, eine Perspektive suchen aus den Staaten Nord- und Zentralafrikas. Die andere: Von Nord nach Süd, aber genauso mächtig: Menschen, die den Sommer aus dem Norden ans Meer kommen, hier Erholung, Entspannung, Etschleunigung suchen. Porto Roses: Im Sommer 30.000 Einwohner. Im Winter 1.300.
Zwei gewaltige Wellen. Zwei Wogen. Die an diesem Morgen in meinem Kopf eine Kreuzsee bilden.

 

Und doch: hat Porto Roses auch im Winter seine guten Seiten:
Der Hafen ist sicher.
Die Paella gestern war heiß und gut. Der Rotwein köstlich. Genau, was ich wollte. Gegen 21.30 sank mein Kopf im Restaurant auf den Teller. Der Tag war zu lang. Ich war hundemüde vom Steuern, 24 Stunden mit 3 Stunden Schlaf. Wie köstlich, dann ins Bett zu dürfen. Unbezahlbar.
Die Bäckerin im Cafe oben beeilt sich, mir am Morgen ein großes Sandwich mit Serrano zu machen. Nein. Auch in der Trostlosigkeit lässt es sich verdammt gut leben. Vorausgesetzt. Ja vorausgesetzt: Man wendet an, was man beim Segeln lernt. Reduziere! Auf! Die! Einfachen! Freuden!

Und so hart der Mistral noch am früher Morgen hereinpfeifft: am späten Vormittag verliert er an Kraft. Marc meint, dass er sogar ganz einschlafen wird. Die Crew: Sie macht sich fertig zum Auslaufen.

Schwarze Fleece-Teile, Latzhosen, Körperteile, die auf ROXANNE’s engem Raum kurzzeitg kreuz- und quer durcheinandergehen. Zuvor aber ein Highlight. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN, die ich bei der Bäckerin in Porto Roses kaufte, entdecken wir unser Foto. Einen Bericht über uns und unsere Reise. Ein Highlight nach BILD und SÜDDEUTSCHER, die über unseren Törn berichteten.

Gegen halb drei legen wir ab. Sunnyboy Felix macht Aufnahmen mit uns im Hafen, für den Film. Es dauert. Aber alle sind mit Spaß dabei. Verflogen ist die Seekrankheit. Der Stolz überwiegt, etwas Großartiges durchgestanden und zu einem guten Ende gebracht zu haben. Die Crew: sie ist zusammengeschweißt. Fremde, die sich noch vor wenigen Tagen nicht kannten. Sich wahrscheinlich im Büro nicht ansehen würden: Sie sind jetzt ein Team.

Als es am lichtlosen Spätnachmittag zu dunkeln beginnt, übernehme ich von Marc die Wache. Meine Crew ist schon oben, Hauke Susanne kommen dazu. Sie hören in ihren Kojen unsere Gespräche, wollen teilnehmen. Sitzen mit uns, obwohl sie wachfrei haben zusammen. Felix dreht sein Zigarettchen. Filmt. Ulkt. Die Nacht ist unglaublich. Ein steter Wind aus raumschots treibt uns an der spanischen Küste entlang nach Westen, drei Leuchttürme zählen wir, die uns in der Dunkelheit und Kühle der Nacht wie Freunde vorkommen. Als es zehn ist: singen Andrea und Susanne. Beide haben wunderschöne Stimmen. Jeder darf sich ein Lied wünschen. Das sie dann zu zweit singen. Leider kennt nur Susanne mein Lied: THIS IS MY PLAYGROUND von MADONNA. Also singt sie allein. Das Lied kenn ich zwar nicht mehr: aber ihre Stimme in der Nacht, über dem Meer ist schön. Und als uns die Lieder ausgehen: singen wir noch ein WHAT SHALL WE DO WITH THE DRUNKEN SAILOR, bevor wir im Schutz der Nacht gegen halb zwölf in den Hafen von Bandes einlaufen und festmachen.

Das Leben: es ist schön, auf dem Meer.

Spaziergang über die Insel Carriacou

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Liebe Leser,

mein südlichster Wendepunkt auf der letzten Reise war Union Island, ganz im Süden der Inselgruppe namens “St. Vincent and the Grenadines”. Deshalb waren Grenada und die Inseln nördlich davon für mich genauso Neuland wie für Cati. Die nächste Insel ist nun Union Island, wir erreichen meine alte Route.

Vorher haben wir aber vergangenen Montag erstmal in die Hauptstadt St. Georges verholt, um unsere Vorräte aufzustocken. In Le Phare Bleu gab es nämlich nur einen kleinen Tante-Emma-Laden mit dem nötigsten, also Getränken, Brot, Wurst und Käse, aber kaum mehr. In der Hauptstadt hingegen ist die Versorgung sehr gut. Grund genug also, unsere Langfahrtseglerfamilie (die inzwischen auf fünf Yachten angewachsen war) zu verlassen und die Segel zu setzen.

In St. Georges haben wir neben einer holländischen Yacht festgemacht, deren Blog ich schon seit längerer Zeit verfolge. Leon und Frieda sind etwa in unserem Alter und stammen aus Holland. Mit ihrer “Puff” (die den Beinamen “the magic Dragon” trägt) sind sie einige Monate vor uns gestartet. Als ich noch im Büro saß, habe ich jede Woche auf ihre neuen Einträge hingefiebert und jedes Bild auf der Route Holland – Spanien aufgesogen. Dann sind wir selbst gestartet und in ihrem Kielwasser gesegelt. Nun haben sich die Kurse der fast gleich großen Yachten ganz zufällig auf Grenada gekreuzt. Wir sind gegen 16 Uhr eingelaufen und kurz nach dem Festmachen hatte Cati schon den Kaffee auf dem Herd. Nach einem Cappuccino an Bord der “Maverick” (“Was ist das eigentlich mit euch Deutschen, dass ihr nachmittags immer einen Kaffee trinken müsst?” ;-)) waren wir zusammen in einem nahen Fastfood-Imbiss und haben für wenig Geld zusammen ein kleines Potpourri der karibischen Küche gefuttert. Ein bisschen gewöhnungsbedürftig, mit den Händen essen und die vielen Knochenstücke, die vorsichtig aus dem Haufen heraus operiert werden müssen. Überhaupt scheinen die Tiere in der Karibik häufig so wie sie sind im Mixer und dann im Kochtopf zu landen. Aber man gewöhnt sich an alles. Nach dem Essen wurden wir dann noch zu zwei Cocktails auf die holländische Stahlyacht eingeladen und sind anschließend, karibik-typisch, bereits um 22 Uhr in der Koje verschwunden.

Am nächsten Tag waren beide Crews mit ihren Dinghys auf Einkaufstour. Wir haben uns mit den Basics für die vor uns liegenden Wochen versorgt. Eigentlich wollte ich auch noch ein paar Fotos für eine YACHT-Geschichte und einen neuen Blogeintrag ins Internet laden, aber den ganzen Tag über ist die Verbindung immer wieder zusammengebrochen.

Mittwochmittag haben wir dann endlich Abschied von Grenada genommen. Nachdem “Puff” schon morgens um neun abgelegt hat, sind wir gegen Mittag hinterher getuckert. Zum Segeln war im Lee der Insel leider zu wenig Wind. Eigentlich sollte das Ziel der Etappe die Tyrrel-Bay auf Carriacou sein, aber gegen 15 Uhr haben wir uns dann entschlossen, die unbewohnte Insel Ronde Island anzulaufen, die auf halber Strecke liegt. Der Anker fiel auf etwa fünf Meter Wassertiefe, hinter zwei britischen Yachten. Die erste Nacht vor Anker. Eine Nacht, der noch viele dutzende folgen sollen, denn von nun an soll nur noch geankert werden. Allerdings war es auch sehr rollig, denn gut geschützt ist die Bucht nicht.

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Am nächsten Morgen sind wir dann wieder Ankerauf gegangen und haben die letzten 12 Meilen nach Carriacou zurückgelegt. Wieder ein Meilenstein: Das erste Mal vor Anker in türkisem Wasser. Cati ist gleich hineingesprungen, ich hinterher. Mit Schnorchel und Brille. Der Anker liegt auf vier Meter Tiefe, perfekt in den Sandboden eingegraben. Hier können wir entspannt liegen.

Eigentlich wollten wir am Samstag weiter nach Union Island segeln. Eine Distanz von wieder nur 12 Meilen. Doch Samstags nehmen die Zollbüros und Einwanderungsbehörden hohe Zuschläge fürs Ein- und Ausklarieren. Union Island gehört bereits zur nächsten Inselkette, deshalb müssen wir uns hier ab- und dort anmelden. Nachdem der Außenborder Samstagmittag schon an Bord gewuchtet war, haben wir uns dann also doch zum Bleiben entschlossen. Lieber das Geld sparen und zwei Tage länger hier sein.

Eine gute Gelegenheit, ein bisschen mehr von der Insel sehen und endlich einen Blogeintrag zu senden. Blöderweise ist das Internet hier sehr instabil. Trotz perfektem Empfangs ist keine Bandbreite hinter dem Signal. Das merkt man aber immer erst, wenn die 8 Dollar für 24 Stunden schon bezahlt sind ; )

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Gestern sind wir also mit dem Dinghy an den Strand gefahren und haben uns zu Fuß auf den Weg nach Norden gemacht. Einerseits um das Geld für den Bus zu sparen – andererseits, um Fotomotive zu entdecken, an denen wir ansonsten vorbeigefahren wären. Einige Kilometer Fußmarsch in der Sonne, die die Strapazen aber wert waren. Zuerst haben wir auf halber Strecke den Paradise Beach besucht. Dann sind wir weiter nach Hillsborough gelaufen, die Hauptstadt der Insel.

Etwa 1,5 Kilometer vor der Stadt kam plötzlich ein großer, schwarzer Hund von einem Schrottplatz aus auf uns zugerannt. Ein Streuner, offenbar noch relativ jung und unglaublich neugierig. Durch die Größe waren wir natürlich erstmal ein bisschen eingeschüchtert, vor allem als er Anstalten machte, an mir hochzuspringen. Aber er war keineswegs aggressiv, sondern total aufgeregt, dass da jemand des Weges entlang gelaufen kommt, während alle anderen einfach vorbeifahren. Wir waren da, um mit ihm zu spielen – das war für ihn eine ganz klare Sache. Also lief er immer wieder um uns rum, hüpfte, kläffte, freute sich, wedelte mit dem Schwanz.

Wir haben versucht, ihn zu ignorieren, sind einfach weitergelaufen. Aber das machte ihn aufgeregter. Nun kannte er unseren Weg und rannte fröhlich vor uns her. Neugierig in jede Ecke schauend und andere Hunde wegbellend. Wir schöpften ein wenig Vertrauen in das große Tier – das allerdings auch gleich wieder wich, als er sich einfach ein kleines Schaf am Wegesrand griff, ihm in den Nacken biss uns es in den nächsten Acker pfefferte. Allerdings wohl auch spielerisch und sehr vorsichtig, denn das Schaf stand danach gleich wieder auf, als wäre nichts gewesen. Da fielen mir dann auch die großen, langen, weißen Zähne auf, die schon gefährlich wirkten. Wieder lief “Rambo” freudig um uns herum, schien es aber besonders auf mich abgesehen zu haben. “Jetzt hast du einen Hund”, lachte Cati. Und tatsächlich, er war nicht mehr loszuwerden. Ein armes Tier eigentlich. An seinen Beinen waren einige schlecht verwachsene Wunden zu erkennen, die er mit seinen jungen Jahren bereits an sich trägt. “Den müssen wir jetzt wohl mitnehmen”, meinte Cati, die schon immer einen Hund haben wollte. Natürlich nicht ganz ernst. Denn schon beim Einklarieren auf Union Island wäre seine Reise ohne Papiere zuende. Außerdem haben wir schon eine Kuh an Bord.

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Aber wie loswerden? Hillsborough lag plötzlich vor der Nase. Zumindest für karibische Verhältnisse eine Großstadt. Der Hund hielt einen Augenblick inne, wartete auf uns. Offenbar war die Stadt für ihn Neuland. Aber wir gingen weiter, also rannte auch er wieder vergnügt los und vor uns her, in jede Ecke schauend, sein neues Revier markierend. “Was hat der eigentlich getrunken? Er markiert schon den dreißigsten Baum!” staunten wir. Inzwischen hatte “Brutus” noch mehr Vertrauen gewonnen, kam immer näher und machte erneut Versuche, an mir hoch zu springen. Schaute mich aus treuen Augen an. Wären doch nur die großen Zähne nicht. Ich hätte ihn am liebsten einmal durchgestrubbelt. Aber wir mussten ihn loswerden. “Da ist ein Supermarkt, schnell rein!” rief ich Cati zu. “Waldi” blieb am Eingang stehen. Offenbar wusste er, dass er dort nicht hinein durfte. Wir mussten ohnehin noch ein bisschen einkaufen und ließen uns eine Menge Zeit zwischen den fünf Regalen mit ihren 80 verschienenen Waren. Als wir eine Viertelstunde später wieder vor die Tür traten, war der Hund weg. “Geschafft”, flüsterte ich. Und merkte im selben Augenblick, wie mir kaltes Wasser von hinten gegen die Beine flog. “Da ist er wieder”, rief Cati und lachte sich kaputt, “er war kurz im Meer baden!”

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“Struppi” freute sich mehr denn je uns zu sehen und lief wieder treu und plitschnass neben uns her. Er begleitete uns sogar in unseren nächsten Zufluchtsort, eine örtliche Fastfoodbude. Statt Döner oder Hamburger isst man hier Roti. Karibisch-Indische Teigfladen, gefüllt mir einem Stew aus Kartoffeln, Curry und Fleisch. Extrem billig und lecker, meist aus Holzbaracken oder Straßenständen verkauft. Bei mir war sogar noch ein kleiner mit Käfer eingebacken, ohne Aufpreis. Der Hund folgte bis an den Tresen. “Is that your dog?” fragte uns die einheimische Dame hinter der Kasse. “No, he followed us inside”, erklärte Cati – worauf die Verkäuferin den Hund kurzerhand aus dem Laden beförderte. Kaum vor der Tür hing er uns aber wieder an den Hacken, folgte bis vor einen Eisenwarenladen und anschließend weiter. Wir waren inzwischen auf dem Rückweg zur Tyrrel Bay.

Plötzlich hielt “Rocky” (wir hatten uns immer noch auf keinen Namen verständigt) inne, stocksteinernen Blickes. Wie eingefroren. Direkt vor uns, neben einem Gitter, das vor dem Eingang eines mittlerweile geschlossenen Ladens hing. Dahinter saß eine kleine, getigerte Katze, die ebenso eingefroren auf unseren “Blacky” starrte. Sich wohl bewusst, dass sie hinter dem Gitter in Schutz war. Keiner der beiden rührte sich, als spielten sie ein Spiel, wer wohl zuerst blinzelt. “Das ist die Chance”, rief ich Cati zu. Schnell weiter. Im passenden Augenblick kam einer der kleinen Toyota-Busse, die hier in Linie fahren. 60 PS und 1000 Watt in der Soundanlage. Die neun Sitze sind häufig mit 16 Personen besetzt. “Schnell, rein da”, schob ich Cati vorwärts. Schiebetür auf, schwupps ins Auto, Schiebetür zu. Ich drehte mich um. Unser “Bandit” war inzwischen 100 Meter hinter uns, noch immer vollkommen vertieft in die Katze. Er hatte unsere Flucht gar nicht mitbekommen. Schnell ließ der kleine Bus die Stadt hinter sich und setzte uns 20 Minuten später in der Tyrrel Bay ab, für 3,50 EC-Dollar. Umgerechnet 1,30 Euro.

Was der Hund wohl dachte, als er sich umgedreht hat und wir weg waren? Wir denken noch oft über ihn nach und ich bin kurz davor, nochmal nach Hillsborough zu laufen und ihn mal richtig durchzuknuddeln. Egal, ob er Flöhe hat. Aber dann wäre er wohl noch schwerer wieder loszuwerden. Und wir müssen morgen weiter. Hinüber nach Union Island und dann die Inselkette hinauf nach Norden. So ist das Fahrtenseglerleben. Freundschaften schließen und wieder aufgeben. Nur mit Hunden hatte ich das noch nie.

 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, TEIL 7: Die Nacht. Der Golf de Lion. Andrea. Und die 40 Windstärken.

Es ist zehn vor neun, als wir endlich aufbrechen. Tagsüber hatte es in heftigen Böen aus Ost in den Vieux Port von Marseille geweht. Ich bin unschlüssig, ob wir bei dem Wetter rausgehen sollten. Mit einer Crew von Nichtseglern. Menschen, die noch vor wenigen Monaten das Übelste: Chemo- oder Strahlentherapie durchgemacht haben. Mit allen Begleiterscheinungen. Mit allen, wirklich allen Folgen.

Kann man das? Darf man das?

Auch Marc, der Skipper, ist sich angesichts der Wetterberichte nicht sicher. Zumal ja auch hier in Marseille zwei neue Crew-Mitglieder zu uns stoßen werden, die wegen des Piloten-Streiks auch noch nicht eingetroffen sind. Marc und ich beraten uns. Es sind für den 2. See-Tag sicher nicht die besten Bedingungen: Wind 5-6 Beaufort auf Raumschots-Kurs. Böen darüber. Wellenhöhen 3-4 Meter im Golf. Aber auch nichts, was jetzt akut Gefahr bedeuten würde. Unser Schiff, die ROXANNE, ist eine 49-Fuß-Yacht: Groß genug, gebaut für genau so etwas. Wir beschließen, in jedem Fall rauszugehen. Und wenn die Verhältnisse wirklich schlimm werden sollten: Nach Port Saint Louis, unseren Ausgangshafen abzulaufen. Das ist das wirklich Schöne an diesem Revier: Häfen und Schlupflöcher gibt es hier, im Golf de Lion, diesem wirklich anspruchsvollen Seegebiet, alle 10 Seemeilen. Das hat man nicht überall so.

Gegen sieben ist Susanne da. Aber ohne Gepäck. Das hat die LUFTHANSA verbaselt. Wieder überlegen wir: sollen wir noch warten? Ihre dringendste Medizin hat Susanne zwar im Handgepäck. Aber alles andere, Segeljacke, Stiefel, warme Wäsche: Sie sind im Gepäck. Und LUFHANSA sagt: frühestens morgen. Wir beschließen, trotzdem rauszugehen. Susanne wird immer die Ausrüstung von jemandem tragen, der gerade wachfrei hat. Und ihr Gepäck dann in Barcelona erhalten.

Es ist zehn vor neun, als wir endlich aufbrechen. Der Wind hat sich beruhigt. Über der Marina ist es ruhig. Das Riesenrad leuchtet über dem Hafenbecken. Es ist ungewöhnlich ruhig. Aus dem Gebäude der SOCIETE NAUTIQUE schallt etwas Lärm von einem Club-Event herüber. Ausgelassene Menschen in Feierlaune. Sie tanzen, reden, essen im Warmen. Wir: stehen draussen: eingepackt in dicke Klamotten. Schwere Seestiefel. Rettungswesten Lifebelts. Drunter mindestens zwei Lagen Unterwäsche. Dann Fleece. Soviel ist sicher: es wird kalt werden, da draussen in dieser Nacht auf dem Golf. Um die 8 Grad. Im Starkwind.

Der Weg über den Golf de Lion hinüber nach Spanien, nach Porto Roses, ist etwa 120 Seemeilen lang. Wir rechnen mit einer Zeit auf See von etwa 20 Stunden. Marc hat uns in zwei Wachen eingeteilt: Die erste Wache besteht aus Marc, Anna, Hauke und der neu hinzugekommenen Susanne. Die zweite Wache besteht aus mir, Jo und Andrea. Sunnyboy Felix, der einen Film über uns dreht, unser Kameramann, wird abwechselnd jede Wache filmen. Wenn die Wetterbedingungen es zulassen und wir Skipper es erlauben. Die erste Wache wird uns aus Marseille heraussegeln in den Golf hinein. Nach Mitternacht, gegen halb zwei, so ist es geplant, übernimmt die zweite Wache. Und die erste legt sich schlafen. Vier Stunden dauert jede Wache. Um halb sechs werden Marc und sein Team uns dann wieder ablösen. 

Das Ablegen, es klappt lautlos in der Nacht. Leise tuckern wir jetzt aus dem windstillen Hafen, ROXANNE gleitet wie ein Luftschiff majestätisch vorbei an der imposanten Festung. Wir passieren in der Dunkelheit die Außenmole. Jetzt sind wir draußen. Die ersten Wellen. ROXANNE nimmt sie gelassen, aber sie sind nicht zu übersehen. Das Schiff beginnt zu arbeiten, Schotten knarzen leise, als das Schiff eintaucht. An Deck leises Gemurmel. Wo soll der Fender noch mal hin? Wie geht der Webeleinstek noch? Die klammen Finger tun ein Übriges. Als das Schiff aufgeklart ist in der Dunkelheit, bitte ich meine Wache unter Deck. Jetzt ist jede Minute kostbar. Schlafen. Genau vier Stunden. „Ruht Euch aus.“

Aber so einfach ist das mit dem Schlafen nicht. Der Seegang ist gröber geworden. Marc hat oben Segel gesetzt. Das Schiff arbeitet noch stärker, das Gurgeln des Wassers, draussen, Zentimeter von mir entfernt hinter der knapp ein Zentimeter dicken Bordwand aus Glasfaser, ist nicht zu überhören in hunderterlei Tönen. Taucht das Schiff in die Welle: staucht es mich in die dünne Matratze. Taucht das Schiff aus der Welle heraus, schwebe ich sekundenbruchteile darüber. Trotzdem schlafe ich drei, vier, fünfmal ein. Bis mich Kommandos, Stimmen, das Rauschen des Funkgeräts in der Dunkelheit gleich wieder wecken. Geregelter Schlaf? Kein Gedanke.

Dann klopft es an meine Tür. Es ist kurz vor zwei. Der Wind hat deutlich zugenommen. Ich ziehe mich langsam an. Die Funktions-Unterwäsche. Die Fleece-Unterwäsche. Zwei Wollpullover. Dicke Wollsocken. Schwerwetter-Hose. Seestiefel. Seejacke. Schwimmweste. Lifebelt. Meine Wollmütze. Handschuhe. Es geht los.

Jo und Andrea warten schon. Wir gehen hoch an Deck. Da sieht es übel aus. Während Felix über Wind und Welle jubelt, hat Anna, Hauke, Susanne und Marc die Seekrankheit gepackt. Felix, Sunnyboy, hat für jeden immer ein Paiertuch parat. Marc ignoriert die Übelkeit, er steht kreidebleich, doch unbeirrt am Steuer. Anna und Hauke leiden schwer, müssen sich immer wieder über die Bordwand übergeben. Jetzt nur die richtige Seite erwischen, die, bei der der Wind, der mit 25 bis 30 Knoten weht, den Kram fortträgt und nicht aufs Schiff.
 
Kaum sind wir an Deck, ziehen die vier ab, zu ihrer verdienten Ruhe. Kaum sind wir an Deck, muss auch Andrea spucken. Während ich das Schiff aufklariere in der Dunkelheit und Jo am Steuer steht, muss sich Andrea übergeben. Ihr ist schlecht. Auch sie ist nun seekrank, sie sitzt still an Deck. Fällt aus. Ich bitte Sunnyboy Felix, unseren Kameramann, doch so gut zu sein: und im Salon zu schlafen. Wahrscheinlich werden wir reffen müssen: und dafür brauche ich noch eine weitere erfahrene Hand im Starkwind. Er soll sich bereithalten.
 
Andrea beugt sich über die Reling nach achtern, um sich zu übergeben. Wieder und wieder. Der Wind nimmt gegen zwei weiter zu, wir haben jetzt 30-35 Knoten, kein Mond, kein Stern am Himmel. Ich habe noch einmal reffen lassen, Jo und Felix klettern in der Dunkelheit auf dem schwankenden Deck nach Vorne, das Groß ist jetzt mit kleinster Segelfläche draußen, die Genua im 2. Reff. Die ROXANNE rauscht dahin durch die stockdunkle Nacht, kein Schiff, kein Licht am Horizont. Sie ist wie ein größer Stahlcontainer, der durch die Wellen getrieben wird, vom kalten Wind, schaukelnd, schwankend, knarrend, knarzend, geigend. Um uns sind nur die Wellenkämme erkennbar, zu denen man jetzt manchmal hinaufschauen muß, wenn sie heranrollen. 

Kein Ort, an dem man sein will? 
Kein Ort, an dem man genesen kann? 
Oder doch?
 
Als Andrea zum 11. Mal über die Reling kotzt und sich erschöpft herüberbeugt, höre ich sie sagen: „Das ist das Gute: Kotzen hab‘ ich letzten Dreivierteljahr echt gelernt. Das schmeißt mich nicht mehr um.“ Wie bitte? „Naja: nach der Chemo kotzt Du soviel: das macht Dir nichts mehr aus. Du merkst einfach, was wirklich wichtig ist. Und dass Du kotzt: ist nicht mehr wichtig.“ 
 
Nur zittern tut sie jetzt heftig. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte Felix, während ich am Steuer stehe, doch Cola zu holen, für Andrea. Das hat meinen Brüdern auch immer geholfen, wenn die als Kleinkinder kotzten. Bei Andrea hat der Schluck Cola zunächst den gegenteiligen Effekt. Sie beugt sich zum zwölften Mal über die Reling. Aber das Zittern ist weg. Und ihre Lebensgeister kehren zurück. Ich setze sie ans Steuer. Die alte Regel, vielleicht hilft sie ja auch hier: Wer steuert, wird nicht seekrank. Und Andrea nimmt die Aufgabe an: Sie steuert das mehr als 10 Tonnen schwere Schiff alleine durch die Finsternis, bei Wind zwischen 25 und 35 Knoten. Und ihre Lebensgeister kehren zurück. Irgendwie. Sie kämpft und kurbelt tapfer. Ein ums andere Mal läuft ihr das Schiff aus dem Ruder. Es macht nichts. Wir haben Zeit. Sie ist ein ziemlicher Brocken, die Frau aus dem Pott, und steuert tapfer. Obwohl sie zum ersten Mal am Steuer einer Yacht steht. Zumal in dieser Extremsituation.
 
Als der Morgen langsam graut – und es ist tatsächlich nicht mehr als ein lichtloses Grau über dem Meer – weht der Wind immer noch mit 30, 35, teilweise 40 Knoten.

Wir steuern die ROXANNE aus der Nacht in den Morgen, sind jetzt mitten auf dem Meer. Halb sechs Uhr morgens. Knapp hundert Kilometer in alle Richtungen kein Land mehr. Das Handy: es hat schon lange kein Netz mehr. Und wird auch jetzt lange keins haben. Wir sind auf uns gestellt.

Die hohen Wellen sind da. Die Gischt, die sich in zarte Streifen legt. Die Wellenkämme, die neben uns brechen. Ein paar Seevögel, die lautlos durch die rauschenden Wellentäler ziehen. Es sind faszinierende Landschaften. Hügel, die heranrollen, und unter ROXANNE liebkosend durchgehen, eben, als ich noch denke: die knallt jetzt voll an die Bordwand.


„Am schlimmsten war es für mich, meine Angehörigen während meiner Krankheit leiden zu sehen. Meine Mama. Rafael, meinen Mann. Es ist so schlimm, dass ich nichts für sie tun konnte. Mein Mann würde das zwar nicht hören wollen: aber bevor er Krebs kriegt: krieg das lieber ich.“ Ruhrpott. Da redet man so. Wie nett, dass das ein Teil Deutschlands ist.


Jo steht in der Dämmerung am Steuer. Er ist 49, Darmkrebs. Und während Andrea neben ihm sitzt und ihm die Windstärke vorliest, immer wieder im starken Wind die Knoten-Anzahl vorsingt, steuert Jo die Yacht die Wellenberge hinunter. An einem Samstag Morgen, der kein ganz normaler Samstag Morgen ist, weit, weit entfernt vom Land. Draußen.

Das Wetter macht ihm nichts aus, Jo ist schon öfter gesegelt, bevor er krank wurde. Er hat sein Leben rigoros geändert, hat sich getrennt aus seiner langjährigen Beziehung, suchte eine neue Beziehung, erzählt mit leuchtenden Augen darüber.

Gegen sieben wecke ich Marc. Er ist nicht fit. Trotzdem geht der Skipper ans Ruder, zusammen mit Susanne, Anna und Hauke. Sie übernehmen ihre Wache, steuern das Schiff. Während Andrea, Jo und ich unter Deck gehen. Feuchte Klamotten ausziehen. Und dann ganz schnell unter die Bettdecke. Schnell. Schnell. Schlaf. Wärme. Köstlich.


Hauke (liegend), Anna am Ruder, Susanne und Marc.

Gegen 10 Uhr löse ich Marc wieder ab. Trommle meine Crew, Andrea und Jo, aus dem Tiefschlaf. Wieder das gleiche Spiel. Wieder rein in die noch feuchten Sachen. Das Schiff: es hat keine Heizung. Was einmal feucht ist: bleibt feucht. Was einmal nass ist: bleibt nass. Ein bisschen hilft es, die nassen Sachen in der Kälte mit Küchenkrepp und Zeitungspapier auszustopfen. 20 Minuten braucht man, bis man wieder in seiner Montur ist, die Anzieh-Prozedur von gestern Abend wiederholt hat. Dann sind wir drei fertig. Und gehen rauf an Deck.

Der Wind ist ruhiger geworden, am Morgen, wir haben jetzt noch 15-20 Knoten, aber es beginnt zu regnen. Nur leicht, aber es reicht um alles nass zu machen. Aber die Segelsachen, die HELI HANSEN den Segelrebellen für diesen Törn als Sponsor kostenlos zur Verfügung stellte: sie halten dicht.

Die Hälfte dieses langen Schlages, die haben wir jetzt hinter uns. Es regnet. Lufttemperatur etwa 11, 12 Grad. Wind raumschots aus Südost. Weil wir drei uns fit fühlen, steuern wir weiter, lassen Marc und seine Wache auch über die vereinbarte Zeit schlafen. Dunkle Wolken ziehen am frühen Nachmittag auf vor uns. Wir halten auf Cap Creus zu, eigentlich müßte man das schon längst sehen, aber die schwarze Wolkenbank versperrt uns die Sicht. Liegen die Felsen jetzt 15 oder 5 Seemeilen vor uns? Ich gehe nach unten, um unseren Standort zu ermitteln. Jo und Andrea steuern das Schiff. Ich trage unseren letzten Ort in die Seekarte und ins Logbuch ein. Die dunkle Wolkenwand: wir werden eins auf die Mütze bekommen, so viel ist sicher.

Gegen 14 Uhr erwischt uns die Kaltfront. Schlagartig Starkregen, die Sicht geht auf 50 Meter herunter, dafür steigt jetzt der Wind. Auf über 40 Knoten nimmt er zu, ich steuere das Schiff, „gottseidank hab ich vor 10 Minuten gerefft,“ ich hatte so eine Ahnung, manchmal funktioniert das ja. Andrea steht neben mir, singt mir ständig Windstärke aus und die Tiefe. Ich habe vor, mich im Starkwind an der 100 Meter-Tiefenlinie entlang zu bewegen, bis wir Cap Creus umrundet haben und vor der südlichen Einfahrt nach Porto Roses stehen. Und dabei muss mir Andrea jetzt helfen.


In der Weite des Meeres, verloren in der Schönheit der See: Andrea, Jo, ich bei der Arbeit im Regen. Gefilmt von Kameramann Felix.

Der Wind legt noch einmal enorm zu, Gischt weht waagrecht übers Vordeck, ich kenne das, wenn das Boot in die Wellen taucht, es ist mein Kennzeichen, dass der Wind jetzt in den Vierzigern weht. Segeln bei acht Windstärken. Eine Viertelstunde dauert der Starkregen. Dann nimmt er ab. Die Sicht wird besser. Aber der Wind, der bleibt. Bis Andrea plötzlich die Delfine entdeckt. Unmittelbar nach dem Sauwetter.


Es ist eine ganze Herde: Zwei, drei, vier Alt-Tiere mit über zwei Metern Länge. Ein, zwei Kleinchen sind dabei. Sie springen neben dem Boot aus dem Wasser. Sie schwimmen im Bug mit uns mit. Sie tauchen unter ROXANNE durch, sind mal links, mal rechts. Meine Wache jubelt, schreit, ruft, mitten im Starkwind. Freut sich, ohne Grenzen, ohne Ende. Delfine, Delfine. Wie immer, wenn man diesen Türen auf dem Meer begegnet, ist man tief berührt. Ein Schmetterling ist schön. Ein Delfin ist unser Bruder, unsere Schwester. Fünf Minuten dauert das Spiel: dann sind die Delfine weitergezogen. Aber sie haben uns ein reiches Geschenk gemacht.

Endlich tauchen die Felsen von Cap Creus vor uns auf in den Wolkenfetzen. Sie sind noch weiht weg. Aber weil es immer noch um die 40 Knoten, teilweise bis 50 Knoten weht, wecke ich Marc gegen drei, um zur Sicherheit die Navigation zu machen. Es klappt zwar ziemlich gut, mich entlang der 100 Meter-Tiefenlinie an Creus entlang nach Süden zu hangeln, aber an dieser Leeküste sollten wir zu zweit das Schiff navigieren. Marc bestimmt laufend unter Deck die Position, Andrea hält mich mit dem Aussingen der Tiefen auf der 100 Meter-Linie, ich steuere. Gegen 16 Uhr stehen wir vor Porto Roses, gegen 16.30 machen wir im Hafen endgültig fest. Das Boot ist innen klatschnaß. Die Crew jubelt ausgelassen. Wir sind fröhlich und voller Freude über das, was wir an diesem Tag geleistet haben. Im März über den Golf de Lion. Danke, Marc. Für die Idee mit den SEGELREBELLEN.

Und ich: ich träume. Von einem großen Teller mit heißer Paella. Und dazu drei Gläsern Rotwein. Mindestens. 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 6: In Marseille.

Am späten Nachmittag des Donnerstag erreichen wir Marseille. Marc bringt das Schiff in den Vieux Port, den alten Stadthafen, mitten rein in die Stadt. Ein guter Platz. Wenn nur der SOCIETE NAUTIQUE DE MARSEILLE, der Traditionssegelclub, in dem wir liegen, nicht in Trauer wäre über seine Club-Kameradin, die französische Segellegende Florence Arthaud, die bei einem Hubschrauberabsturz in Guadeloupe ums Leben kam. Das Porträit der Seglerin, der ihr Leben ins Gesicht geschrieben steht, prangt zwischen Blumensträußen über dem Eingang in die Societé.

Die Crew der Segelrebellen ficht dies nicht an. Unser Schiff ROXANNE liegt zwischen lauter Yachten aus den 20igern, weiß und gepflegt wie das Clubgebäude. Ein wunderbarer Ort, um in Marseille zu sein. Mitten drin in den sichtbaren Narben und Umbrüchen dieser Stadt.

Marseille ist gezeichnet von diesen Umbrüchen. Die Flut Algerieneinwanderer in Nachkriegsjahren, Überfremdung, Rassenkonflikte und Gewalt in den Siebzigern. Reihenweise schließende Industrien seit den Neunzigern, Arbeitslosigkeit. Phänome, mit dem Ettikett „Des-Industrialisierung“ in ein dürres Wort gekleidet. Alles, was wir in Deutschland auch kennen, nur nicht in dieser Heftigkeit. Die Stadt, die Regierung, die sich dem mit Kraft entgegenstemmen. Versuchen, Tourismus, Dienstleistung, neues hereinzubringen. „Nach den besten Jahren. Aber sexy.“

Die Crew ist fröhlich. Zwei weitere Mitglieder stossen dazu: Mitsegelerin Andrea, die in den Tagen zuvor von der BILD-Zeitung für ein Interview über die SEGELREBELLEN ausgewählt worden war:

Am nächsten Abend um 21 Uhr legten wir ab. Segelten hinaus in den Golf de Lion. Und warum mich Andrea wirklich beeindruckte, während wir die Nacht bei bis zu 40 Knoten durchsegelten: darüber schreibe ich in meinem nächsten Post. Hoffentlich heute Abend.