
Weil das mit dem langsamen Reisen etwas ist, was gelernt und gekonnt und gelebt sein will, habe ich heute einige Gedanken darauf verschwendet, wie ich vom Flughafen Catania nun eigentlich an Siziliens Südküste komme, dorthin, wo mein Schiff LEVJE im Hafen von Marina di Ragusa liegt. Am schnellsten ginge das mit den etwas mehr als 100 Kilometern natürlich mit einem Leihwagen – da wäre ich ganz schnell, in eineinhalb Stunden, im Süden am Meer.
Option 2:
Ich nehme den Bus. Der braucht drei Stunden – und für die letzten zehn Kilometer von Donnalucata bis nach Marina di Ragusa: Da müsste ich mir dann etwas ausdenken. Taxi? Trampen? Mit 56? Ob mich jemand mitnähme? Das Leben kann so spannend sein.
Option 3:
Ich fahre mit dem Bus nach Siracusa. Und nehme von dort das Bimmelbähnchen, bis nach Scicli. Etwa fünf Stunden. Und von da weiter? Siehe Option 2.
Und weil „Fahren mit altmodischen Zügen“ durch vergessene Landschaften eine meiner heimlichen und ungelebten Leidenschaften ist, neige ich eher zur fünfstündigen Reise. Stelle mir vor, wie das Bähnchen jetzt im späten April durch duftende Orangenhaine Siziliens gleitet. An den Flüssen Siziliens die karstige Landschaft hinauf. Und dann in langer Neigung ans Meer hinunter. Nein. Allein mit diesen Gedanken ist meine Entscheidung schon gefallen. Am Bahnhof von Siracusa werde ich nicht enttäuscht: Da steht, was ich mir erwartet hatte, neben einer alten italienischen Dampflok: Ein von FIAT gebauter Triebwagen. Verbeult. Alt. Ehrwürdig. Alles andere als schön & modern. Nicht mehr als ein dieselbetriebenes Wägelchen, das schon alt war, als ich jung war. Die Fensterscheiben sind blind und ungepflegt – durchschauen kann man nicht. Was aber gar nichts macht, denn man kann mit ihnen tun, was einem die Bundesbahn mittlerweile überall versagt: Man kann die Fenster öffnen. und damit weiteren Leidenschaften ungezügelt ihren Lauf lassen: Nämlich den Kopf während der langen Fahrt aus dem Fenster hängen lassen, den Wechsel von Licht und Schatten, Wärme und Kälte, von hunderterlei Farben und Formen auf der Haut spüren, durch Gerüche und Düfte Siziliens reisen. „Landschaft in 3D statt Klimaanlage“, die mal wieder ausgefallen ist. „Wir bitten dies zu entschuldigen.“
Schon fünf Minuten vor der Abfahrt drängelt die Durchsage am kleinen Bahnhof von Siracusa. Es ist einer von drei Zügen, der in diesen Stunden abgeht, also nimmt man hier die Sache schon ernst. Schließlich könnte ja einer der 13 Mitreisenden die ernste Angelegenheit der Abfahrt auf die leichte Schulter nehmen und nicht schon fünf Minuten vorher auf seinem Platz sitzen. Noch eine Durchsage: „Il treno per Pozzalo – Scicli – Modica – Ragusa …“ ja ja: ich steig ja schon ein und lass‘ die Dampflok Dampflok sein!

Und kaum dass ich sitze, geht es auch schon los. Der Diesel im Wägelchen beginnt zu wummern. Mit einem Ruck setzt sich das Bähnchen in Bewegung, rumpelt langsam über die Weichen hinaus in die große weite Welt des östlichen Sizilien.

Avola, erster Halt. Der Ort, der dem berühmten Nero d’Avola den Namen lieh, jenem Rotwein, den man überall in Süditalien trinkt. Nero d’Avola, der – so weiß es Wikipedia – auch „Principe Siciliano“ genannt wird, „sizilianischer Fürst“. Seit ich neulich für mich die Insolia-Rebe entdeckt habe hier auf Sizilien und seitdem zum Fisch nichts anderes mehr bestelle – es gibt sie nämlich auch als Frizzantino, herrje, mit kleinen Bläschen, drin baden könnte ich… aber … wenden wir uns lieber wieder der Fahrt zu. Ruckelnd, rumpelnd, schmetternd, schmatzend setzt sich mein Wägelchen am Bahnhof von Avola in Bewegung, ein tiefes Schnaufen, ein kreischendes Zirpen und Sägen von Stahl auf Stahl in den Weichen, ein Tuten an einem Bahnübergang, das rhythmische Schmettern des Diesels steigert sich, als der Zug beschleunigt. Langes Tuten, irgendwie herrlich un-dominant. Nein dominant ist hier nichts, außer der chicen blauen Uniform des TRENITALIA-Kontrolleurs. Wieder ein langes Tuten im Tal, das voller Orangenbäume steht, die Hänge hinauf Olivenhaine.
Nächster Halt: Noto. „Citta per la pace e i diritti humani“, steht auf dem Bahnhofsschild. Aber in Noto, das ich nun wirklich kenne, in der alten Barockstadt, waren die Dinge auch schon mal besser. Oh ja: der Bahnhof hat mindestens fünf Gleise und drei Bahnsteige. Aber alles ist überwuchert hier von schnell schießenden Grashalmen und dem jetzt im April überall blühenden roten Mohn, die Gleise lang nicht mehr benutzt, hier unten setzt sich fort, was oben längst zu besichtigen ist in der Barockstadt, die jeder Führer anpreist ob ihres barocken Stadtbildes: Die Wirklichkeit ist, dass Noto das „alte“ Sizilien ist. Das Sizilien der achziger Jahre, der Hoffnungslosigkeit- An jedem dritten Haus das obligate „Vendesi“-Schild, „Zu Verkaufen“ also ein Palazzo nach dem anderen. Wenn jetzt einer käme mit einer Vision, was man aus dem barocken Städtchen machen könnte samt dem Knast mit den verbauten Fenstern unmittelbar am Marktplatz: Wenn jetzt einer käme mit einer klugen Idee, was man daraus machen könnte aus dieser einzigartigen Kulisse: es gäbe kein Halten mehr.
Die dreizehn Mitreisenden hängen träge in den dunkelblauen Sitzen, Dösen vor sich hin oder schlafen, Köpfe nicken im Takt der Schienen, Ta-tam Ta-tam. Ta-tam Ta-tam. Köpfe, die langsam Richtung Brust kippen. Rosolino. Auch hier überwucherte Gleise, der Mohn wächst üppig zwischen den Schwellen.

Die Hand des Lokführers ein paar Meter vor mir, die er aus dem Zug in den Wind hält. Es ist eine junge Hand, die eines verheirateten Mannes. Er trägt einen Ring am Finger, nein, genauer: gleich zwei? Ein junger Mann, der schon Wittwer ist? Der, weil das Schicksal ihn schlug mit Sorge, Gram um eine kranke Frau, nicht weiter kam im Leben als genau bis hierher, in das Bähnchen, das jeden Tag mehrfach zwischen Siracusa und Ragusa verkehrt? Und wenn: Vielleicht ist er ja genau damit glücklich, überglücklich? Nicht die große Bühne, die ihn lockt, nein, sondern genau dies hier: Die kleine Bimmelbahn jeden Tag entlang.
Ispica. Alte Schienen am Rand, rostige Schienen, aufeinander gestapelt, dahinter Berge von Schotter, Die Kisten der Tomaten und Orangen-Kooperative, deren Plastik-Gewächshäuser sich am eingleisigen Schienenstrang entlangziehen. Kornfelder, die bereits jetzt im April goldgelb gereift sind, Hafer, der zwischen uralten Olivenbäumen steht und die Köpfe hängen lässt, als wäre es Anfang August. Manche Felder bereits jetzt Ende April abgeerntet.

Neben der eingleisigen Strecke kommt das Meer in Sicht. Pozzallo. Hafenstadt. Bahnhof und Bahnsteig sind mit Grafiti beschmiert, die am Bahnhof liegenden Industriegebäude produzieren längst nichts mehr. Die Alcoholfabrik der „Cavalieri Franceso e Enrico Giufreddi“ ist Kind eines anderen Jahrhunderts, einer anderen Epoche, ihre Reste stehen heute am Bahngleis, man muss findiger sein heute als einfach nur Alcohol zu brennen. Die Fabrik ist verwaist samt Schornstein, die Fenster eingeschlagen. Das Dach längst weg. Aber dafür ist auf den Bahnsteig genau vor meinem Fenster in dicker dicker grüner Farbe hingepinselt:
„Auguri per la mia piccola con gli occhi piu dolci“:
„Alles Gute, Du meine Kleine mit den süßesten Augen der Welt, für Dich.“

Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Hinter Sampieri, einem gottverlassenen Bahnhof irgendwo in der Pampa, wendet sich der Zug ab von der Küste, vom Meer, das jetzt breit, breit vor mir liegt. Dreht einwärts Richtung Binnenland, Richtung Scicli und Modica, der Diesel schmettert die Hügel hinauf, blaue Vorhänge knattert im Wind wie tibetanische Gebetsfahnen, die Reisenden stehen am Fenster, schauen hinaus, eine kleine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft, die Hand des Lokführers, die aus dem Zug hängt und allen voranfährt.

Scicli. Deutschen Zungen ein Rätsel, wie man es ausspricht – aber dabei doch so einfach: „Schieckli“. Meine Fahrkarte geht nur bis hierher, ich überlege, ob ich noch weiterfahren soll, die schönen Orte kommen erst noch: Modica. Stadt in den Hügeln. Und jeder zweite Laden bietet hier die Schokolade aus Modica an, dunkle herbe Schokokade voller Kakao, aber mit Rohrzucker angerührt, der knirschend zwischen den Zähnen hängebleibt. Oder Ragusa, der Endpunkt, hoch oben auf den Hügeln. Um Ragusa zu erreichen, fährt der Zug 270 Grad um einen Berg herum hinauf, das wollte ich mir immer mal ansehen, aber für heute muss ich raus. Von Scicli nach Marina di Ragusa sind es gerade eben 17 Kilometer, kein Bus, kein Taxi – mal sehen.
Und während ich mich noch umsehe, wie es jetzt mit mir weitergehen könnte in Scicli, während ich dabei bin, den Mitreisenden vom anderen Fenster, der sich genauso wie ich nicht sattsehen konnte während der Fahrt und ebenfalls in Scicli ausstieg, während ich all dies bedenke: Blicke ich zurück zum Bahnhof. Mein Bähnchen steht verlassen da. Der Lokführer ist ausgestiegen, ich sehe ihn, wie er neben den Gleisen ein kleines Gärtchen voller Orangen- und Apfelsinenbäumchen betritt. Und voller Lust hochspringt, und die beringte Hand nach den Orangenfrüchten greift, sich eine Orange nach der anderen vom Baum holt, eine, noch eine. Und dann schnellen Schrittes zurück zu seinem Zug läuft, der sich kurz darauf schmetternd hügelauf wieder in Bewegung setzt.
Nein. Es braucht wohl wirklich nicht viel, um glücklich zu sein. Als Lokführer. In Scicli.

Und für alle, die Fernweh & Meeres-Sehnsucht jetzt gleich befeuern wollen:

Was passiert, wenn wir unser Leben ändern?
Jetzt lesen. Als eBook. Als Print. Hier bestellen.