Kategorie: Mare Più

Unter Segeln um Kreta: Unterwegs im Gewitter. Um die Westspitze Kretas.

Jedes Gewitter ist anders. Und keine zwei gleichen sich. Jedes Gewitter läuft anders ab. Und jedes wartet mit Gefahren ganz eigener Art auf.

In Chania blieb ich länger als gedacht. Und dies, weil Chania sich als bisher schönster Ort an der kretischen Nordküste entpuppte. Ein fesselnde Mischung aus venezianisich und türkisch, ein brodelndes Etwas aus TECHNO-Youngstern und Pferdekutschen, aus Kopfsteinpflaster und gut gemachtem Tourismus. In einem der nächsten Posts in ENTLANG AN KRETAs NORDKÜSTE werde iich mehr über Chania schreiben.

Das mit der TECHNO-Musik war dann aber doch einer zuviel. Denn die Zentren des TECHNO-Beats liegen in Chania – als hätte es sich verschworen – dort, wo der Segler ankert: Am Ankerplatz vor der nur von Steinböcken bevölkerten Insel Agios Theodori. Und in Chania’s rieisigem Hafen 10 Meter von den Gastliegeplätzen entfernt. Also hält man es, obwohl man noch gerne in Chania verweilen möchte – ich konnte mich nicht sattsehen an dem, was ich da fand – zermürbt von zuwenig Schlaf nicht aus und zieht weiter.

Der Morgen war windstill und dumpf. Schwül. Ein paar dicke Regentropfen aus dem Nichts, die gleich wieder verschwanden, als ich im Coffeeshop meinen Orangensaft schlürfe und über die byzantinische Stadtmauer sinniere – sie hat es mir angetan, weil die Byzantiner in den Bedrängnissen der Völkerwanderungszeit, es musste schnell gehen, einfach alles vermauerten, was sie an der Antike fanden: Gesimssteine, Kapitele, ganze Säulen sind in der Stadtmauer vermauert, ein Lehrbuch der antiken Baustile, vor meinen Augen in der Stadtmauer. 

Der Wetterbericht ist normal: kein Wind, maximal 2-3 bft. Etwas Regen. HNMS WARNINGS, der lakonische Nationale Griechische Wetterdienst, sagt für KITHIRA SEA und WEST KRITIKO Thunderstorms voraus. Gewitter. www.blitzortung.org, zeigt tatsächlich eine breite Front aktiver Blitze weit im Westen an, vom Peloponnes bis weit südlich, aber die Front bewegt sich seit drei Stunden nicht. Ich schaue mich um. Außer den paar dicken Tropfen eben, die irgendwie aus dem Nichts kamen, fast nur blauer Himmel. Es sollte halten bis heute Abend. Also los.

Meinen Kurs habe ich zum Ak Spathi gesteckt, das weit in den Norden ragende Kap. Und sollte schneller als erwartet doch etwas heranziehen: Sind es von der Insel Agios Theodori nur etwas mehr als eine Stunde in den Fischereihafen von Kolumvari, genau südlich von Ak Spathi am Fuß der Halbinsel.

Es ist später Vormittag, und Agios Theodori liegt weit hinter mir, als die Welt um mich herum grau wird. Nicht das leiseste Lüftchen, nur ein Grau ringsum, aus dem ich dann auch eindeutig im Motorgeräusch Donner höre, dummerweise genau aus der Richtug meines Ausweichhafens Kolumvari südwestlich von mir.

Also weiter Richtung Ak Spathi, nach Nordwesten. Dumm nur, dass ich dann den nächsten Hafen, den von KIssamos in der Nähe von Kretas nordwestlichster Insel Gramvousa, erst gegen 17 Uht erreichen werde. Und bis dahin kann viel passieren.

Regen setzt ein. Erst leicht. Ich liebe die Tage auf See im Regen, wenn das Meer spiegelglatt ist, irgendwie bleigrau schillernd, harmlos, das ganze Gegenteil des ungebärdigen Wesens an einem stürmischen Tag. Der Regen wird dichter. Ich habe keine Segel draußen, also nicke ich nur kurz, als mir der alte Merkvers einfällt:

„Kommt der Regen vor dem Wind,
Skipper birg die Segel geschwind.“

Die Welt wird immer grauer. Eine Yacht auf Gegenkurs. Langsam kriecht sie um Kap Spathi herum, das Grau hat sich nun hinter mir zu einer dichten grauen Masse  geballt, aus der es donnert. Die Yacht auf Gegenkurs hat aufgestoppt. Bug zum Unwetter, als würde der Skipper einen Augenblick verharren. Und warten. Warten auf das, was sich da entwickelt, was vor ihm steht.  Die Yacht verharrt stehend im Regen auf der weiten Wasserfläche, den Bug dem Unwetter zugewandt, unverwandt. Wie ein Stier in der Arena. Plötzlich ist klar: dass das Gewitter hinter mir nicht wie erwartet von West nach Ost zieht, sondern umgekehrt: Von Ost nach West. Wo ich eben noch dachte, alles hinter mir zu haben, habe ich jetzt plötzlich alles vor mir. Das Gewitter: Es verfolgt mich. Und kommt auf die stehende Yacht zu, die wenige Augenblicke später in der grauen Wand verschwunden ist. 

Wind kommt auf aus dem Osten. Auch das ist ungewöhnlich. Ostwind, der LEVJE nun ohne Segel nach Westen schiebt, Richtung Ak Spathi. Das Grau wird dichter, der Regen nimmt weiter zu, der Wind weht jetzt so kräftig, dass es den Regen trotz aufgespanntem Sonnensegel von achtern den Niedergang hinuntertreibt. Also das Steckschott eingesetzt, und das Schiebeluk zugezogen. Als ich den ersten Ausläufer von Ak Spathi erreiche, kommen die Blitze näher. Vergingen vorher 10 Sekunden zwischen Blitz und Donner, sind es jetzt nur noch vier oder fünf. Das ist nah, 1.200 bis 1.600 Meter.

Ich schaue zum Ak Spathi hinüber. Plötzlich ein Blitz, der oben irgendwo in die Felswand einschlägt. Dann keine zwei Sekunden später ein Donnerschlag. Das war jetzt echt nach, Mist. Das Eine ist: dass die Versicherungsexperten von PANTAENIUS und von SHOMAKER bei unseren Interviews für das Buch GEWITTERSEGELN uns handfest mit Zahlen bestätigten, dass Blitzeinschläge auf Yachten äußerst selten und zuallermeist im Hafen, am Landstrom hängend, zu Schäden führen. Das Andere ist: wenn der Blitz einfach 500 Meter entfernt über der Yacht in eine Felswand einschlägt. Statistische Gewißheiten zerfallen augenblicklich wie modrige Pilze.

Dann steigen in mir Bilder auf eines barocken bayrischen Welttheaters vom jüngsten Gericht, „… hat ein Buch herausgebracht über GEWITTERSEGELN… Daheim bleiben hätt‘ er sollen…“, aber kaum schießen mir derlei Gedanken in den Kopf: da lichten sich die Wolken über Ak Spathi. Die Sonne bricht hervor, das Gewitter, es zieht weiter nach Nordwesten, Richtung Kithira, Und ich: schlage gleich nach dem Kap, unter dem sich winzig, winzig ein Schlauchboot verkrochen hat, um an der scharfen Felsenkante, die einer Wetterscheide gleicht, clever abzuwarten, aus welcher Richtung er nun wehen wird, der Wind, ich schlage gleich einen Haken nach Süden, auf den Hafen von Kissamos zu.

Im Sonnenschein empfängt mich der äußerste Westen Kretas. Ich ziehe Lifebelt, Schwimmweste, Segeljacke aus. Und Kreta endet, wie es für mich weit vor einigen Wochen weit im Osten begann, vor dem Strand von Vai: als überraschend grüne Insel, jetzt mitten im August. Und als wäre es noch nicht genug mit Atlantikstimmung und Atlantikwetter, verdichtet sich der Himmel, kaum dass ich eine Viertelstunde noch vom Hafen von Kissamos entfernt bin, erneut. Und keine 300 Meter östlich von mir ist alles grau in grau. Und der Regenbogen signalisiert mir: Dass es doch kein bayrisches Weltenende-Gericht geben wird. Zumindest heute nicht.

Unter Segeln: Wenn der Meltemi nicht weht. Oder: El Ninho über derÄgäis?

Irgendwie ist alles anders mit dem Wetter dieses Jahr auf Kreta und auch in der Ägäis. „Jetzt im Juli und August sollte bei uns normalerweise der Wind am stärksten wehen,“ sagt Mikhalis Farsaris, Vorstand der Marina von Agios Nikolaos. „Stattdessen berichten die Zeitungen hier über das verrückte Wetter: Kein Wind. Flaute. Dafür aber Regen im August – das hatten wir noch nie!“  Tatsächlich zeigen die Wetter-Animationen wie www.windyty.com dasselbe Bild für die Ägäis: Ungewöhnlich schwache Winde, wo es wehen sollte nach Kräften. Hohe Luftfeuchtigkeit und Hitze. Statt eines Meltemi, der Kühlung bringt.


Meltemi. Etesien. Die jährlich wiederkehrenden Winde. Seit der Antike sind sie bekannt, der Meltemi gehört im Sommer zur griechischen und kleinasiatischen Küste wie das Alpha zum Omega. Er wacht auf im Mai und schläft ein im September. Er weht in der nördlichen und mittleren Ägäis aus Nord und in der südlichen Ägäis, da, wo er auf den Gebirgsriegel Kretas wie eine Wand trifft, eher aus Nordwest. Man findet ihn in diesen Monaten vom ionischen Meer südlich Korfu bis hinüber nach Marmaris. Er weht täglich. Meist vom frühen Nachmittag an. Manchmal auch durchgehend Tag und Nacht. Manchmal eine Woche lang. Und wenn er sich nachts nicht schlafen legt, ist das für seine Laune am folgenden Tag kein gutes Zeichen. Weil er dann meist fauchend noch zulegt. 
 
Zwischen den Inseln fegt er aufgrund der Kapeffekte manchmal bis zu 40% stärker als angekündigt:

 

                                                                         Das Video: Meltemi! Meltemi! Hier klicken.

Er bläst in Lee von Inseln und Gebirgszügen mit Böen, die hart aufs spiegelglatte Wasser schlagen und Yachten zur Seite legen.

 
Verursacht wird der Meltemi durch zwei Drucksysteme: Ein Hoch über Balkan/Ungarn. Ein Tief über der Zentraltürkei. Jedes dieser beiden Drucksysteme wirkt wie ein Schaufelrad, und zwischen den nebeneinander liegenden riesigen Schaufelrädern, die sich in gegensätzlichen Richtungen nach Süden drehen, werden gewaltige Luftmengen aus dem Baltikum angesaugt, die am Ende von den Schaufelrädern mit hohem Druck nach Süden über Nordgriechenland hinausgepresst werden in die Ägäis, zwischen die beiden Festlandssockel von Griechenland/Peloponnes im Westen und Türkei im Osten. Dort, wo die beiden Festlandsmassen, die wie Seiten einer gewaltigen Trillerpfeiffe wirken, enden, fächert der Meltemi in Böen aus: Nach Westen um die Südostecke des Peloponnes. Nach Osten hinein in den Golf von Gökova und von der Datca-Halbinsel vor Marmaris nach Südost herunter.

Aber dieses Jahr funktioniert das gewaltige Pumpkraftwerk nicht – ein einmaliges Phänomen! Die Bracknell-Karte vom heutigen 11. August zeigt, warum:


Wer auf die rechte Hälfte der Karte schaut, sieht Auffälligkeiten: Die Karte, die alle aktuellen Hochs und Tiefs von Grönland (mitte oben) bis zur Türkei (rechts, obere Hälfte) verzeichnet, zeigt im rechten Drittel nur eines: gähnende Leere. Bis auf ein kleines Tief nördlich Sizilien (L 1009) – ist da: Nichts. Kein Hoch über dem Balkan. Kein Tief über der Zentraltürkei. Die großen Schaufelräder – sie sind einfach nicht da.. „Zum zweiten Mal, solange ich denken kann,“ sagt Mikhalis Farsaris, der wie seine Frau auf Kreta geboren ist. „Wir hatten das nur einmal, 2002: da wehte im Sommer statt des starken Meltemi aus Nordwest nur ein laues Lüftchen aus Süd. Merkwürdig war das.“

Zum Vergleich zum heutigen 11. August 2015 der 11. August 2011: Der hat aufgrund des starken Meltemi sogar Eingang in WIKIPEDIA’s Meltemi-Artikel gefunden. Er wehte in den Tagen vor vier Jahren so stark, dass der HELLENIC NATIONAL METEOROLOGICAL SERVICE, das nationale Griechische Wetteramt, Extremwetterwarnung für Nord- und Zentralgriechenland geben musste. Extremer Wind. Extreme Böen.

Und dieses Jahr: Nichts. Jedenfalls bislang nicht. Dabei wissen Meteorologen, dass der Meltemi Teil des Nordostpassats ist – und damit Bestandteil eines der stabilsten Wetterphänomene in der Menschheitsgeschichte überhaupt. Sebastian Wache, Meteorologe bei WETTERWELT, über die Beständigkeit der Etesien: „Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass es in einer Normalzeit auf der Erde immer die gleichen Windverhältnisse gibt. Insbesondere im östlichen Mittelmeer, da hier das Hitzetief über der Türkei eines der stabilsten und regelmäßigsten Phänomene in der Meteorologie ist. Das impliziert auch den Meltemi/Etesien – und in den Übergangsjahreszeiten den Lodos.“
 
Und jetzt? „Die Windsurf-Clubs hier sind verzweifelt. Nichts geht.“ Kretische Zeitungen und Webseiten berichten über das „El Ninho“-Phänomen. Aber nächste Woche: Da kommt er zurück, der Meltemi. Jedenfalls sagt WINDGURU.CZ und andere das voraus. Mal sehen, ob das so stimmt. Denn eigentlich sagen die Wetterdienste das so schon den ganzen Sommer voraus. Und mussten kurzfristig ihre Vorhersage wieder korrigieren. Das große Pumpwerk – es will einfach nicht anspringen.
 
 

Vorankündigung:

Wer mehr erfahren möchte übers Segeln in der Ägäis: 

In etwa vier Wochen, Mitte September 2015,

erscheint der Film zum gleichnamigen Buch 

EINMAL MÜNCHEN – ANTALYA, BITTE.

Der Film kostet € 24,95. Bestellungen bitte per eMail-Kontaktformular rechts außen.

Und natürlich ist er in diesem Film einer der Stars: Der Meltemi.

 

Heute in Griechenland (13): Wie Marios, der Fischer den Sommer verbringt.

Es gibt Orte, die machen es einem einfach, anzukommen. Alles ist, wie man es sich wünscht. Vor allem die einfachen Dinge: Licht. Wärme. Geräusche. Das Treiben rundherum.
An anderen Orten ist es schwer, anzukommen. Nichts passt: Es ist heiß. Die Luft steht über aufgeheizten Betonmolen. Orte, Gegenden, Landstriche: die touristische Durchlauferhitzer sind. Voller Busse, die in stetem Rhythmus Menschen aus nordeuropäischen Ländern an- und abtransprtieren.

Eine solche Landschaft ist die Region östlich von Heraklion. Hier hat sich der Tourismus auf Kreta entwickelt, bevor Orte wie Agios Nikolaos im Osten nachfolgten und einen eigenen Stil entwickelten. Östlich von Herklion: Die Hochburgen Chernissos, Mallia: Pelzladen an Pelzladen mit Ladenschildern in Russisch, davor Fotos von Models, die sich Pelze kuscheln, ein Anblick im August bei 40 Grad so richtig wie ein Eisbär in der Sahara. Gouves: Retorten-Orte, in denen Leben nur von Mai bis Oktober ist, die dann stillgelegt werden, von Oktober bis Mai. Bis die blauen Busse wiederkommen und Raupen gleich die Erhlungssuchenden aus den Nordländern einsammeln. Und hier wieder ausspucken in eine Maschine: die heißt Tourismus.

In Porto Gouves treffe ich Marios. Eigentlich ist er ja Fischer, wie sein Vater, mit dem zusammen er sein Boot hier liegen hat, die KAPTAN MBEIS. Das ist der Spitzname von Marios‘ Vater, Fischer seit vierzig Jahren. Von ihm hat Marios den Beruf des Fischers gelernt. 

Den Sommer über arbeitet Marios als Hafenmeister in der kleinen Marina von Porto Gouves. Die Marina ist nicht groß: Platz für etwa 60, siebzig Boote, wenn überhaupt. Im Augenblick liegen nicht viele Schiffe in Porto Gouves: ein griechisches Gület und eine 40 Fuß Yacht, die tagsüber Ausflugsfahrten für die Gäste der Hotels veranstalten, die sich in Gouves, nur unterbrochen von wenigen Tavernen, fast nahtlos aneinanderreihen. Eine große, graue Motoryacht. Zwei Fischer, die KAPTAN MBEIS und die NIKI, von Marios Freund Kaptan Niki. Sonst ist die Marina bis auf die kleineren Boote leer.



Marios ist stolz auf „seine“ Marina. Er und George, der Marina-Manager sowie Kostas, der Marinero,  haben überall an der Betonmole sauber Autoreifen aufgehängt, die sie weiß angestrichen haben, als Fender. Der Strom an den Säulen funktioniert, das Wasser auch. In dem kleinen Häuschen, das man oben hinter Niki’s Fischerboot sieht, ist eigentlich immer einer von den dreien.

„Im Sommer bin ich hier in der Marina und verdiene mein Geld. Aber im Winter: da bin ich mit der KAPTAN MBEIS draußen, manchmal drei, vier Tage am Stück, bis hinunter in den Osten, nach Siteia. Im Winter kriegt man die Fische leichter.“ Und die Restaurants?, frage ich. Ob er denn dann Abnehmer hätte, im Winter, wenn die Restaurants ialle geschlossen seien? „Hier in Gouves ist alles zu. Aber in Heraklion geht schon was. Wir haben unsere Abnehmer. Ich rufe da einfach an und sage: ‚Hey, ich habe heute ein paar Kilo ‚Red Mulett‘ oder ‚Sea Bream‘ oder ‚Octopus‘. Das kann ich dann immer gut verkaufen. Manchmal fährt im Winter auch mein Vater mit raus. Oder Freunde. Auf der KAPTAN MBEIS können bis zu vier Leute übernachten, dann gehen wir zu mehreren raus.“ Ob er denn als Fischer irgendwas spüren würde, von der EU, von Vorschriften, von Bankenkrise? Er deutet hinter sich, hinaus aufs Meer. „Da draussen mache ich, was ich will. Das ist das Schöne: Da sagt mir keiner was.“

Eigentlich macht Nikos einen ganz zufriedenen Eindruck, wenn er so vor seinem Fischerboot steht. Er hat ein Boot. Er kann rausfahren. Und sonst? „Ich würde mir mehr Segler hier in der Marina wünschen,“ sagt Marios. „Wir strengen uns schon sehr an, wirklich auf die Boote aufzupassen und alles richtig zu machen. Aber irgendwie kennen uns zuwenige.“

Gouves, einer der großen Touristenorte östlich des Flughafens von Heraklion. Auf den ersten Blick nicht unbedingt ein Ort, der einem Segler das Ankommen leicht macht. Und doch: LEVJE lag hier sicher im Meltemi, die Menschen freundlich, die Anlage sauber und gut in Schuß, die Waschräume gepflegt. Und die Fischer, die fast jede Nacht um halb drei aus dem Hafen tuckern, haben ihre Geschichten, darüber, wie man ein einfaches Leben lebt. So wie Marios, George und Niki, der den Morgen dösend und rauchend nach langer Nacht auf dem Meer zwischen den Netzen auf seiner NIKI verbringt.

Heute in Griechenland (12): Bäcker, Bus und Krise.


Die Marina von Agios Nikolaos auf Kreta: Wer vom Boot geht, findet gleich außerhalb der Marina zwei Strände. Leben in Griechenland: Wie fühlt sich das an für einen Reisenden?

In einem früheren Post schrieb ich über das Busfahren in der Türkei. Und darüber, wie viel eine Gesellschaft in ihren Bahnhof, an denen Reisen stattfindet, über sich selbst verrät. Wie sie sich organisiert. Wie sie funktioniert. Was wichtig ist.
Also los: Heute in Griechenland – mit dem Bus von Agios Nikolaos nach Heraklion.

Früh am Sonntag Morgen verlasse ich die Marina von Agios Nikolaos auf Kreta. Der einsame Schrei einer Möwe im gleissenden Sonnenlicht, sonst nichts. Selbst die Fallböen, die immer über die Marina hinwegfauchen, sie haben sich an diesem Morgen noch einmal schlafen gelegt. Ich gehe durch das fast menschenleere Agios Nikolaos – ein paar Alte, wie immer, im Cafeneion an der  Straßenkreuzung vor der Marina, auf ihre Stöcke gestützt, vor ihrem Kaffee. Ein Pizza-Lieferant auf einem Mofa, der den Hügel hochknattert.

 

Nur der Bäcker hat schon geöffnet, die Türen sperrangelweit auf, es riecht verführerisch, als hätte er gewusst, dass ich derlei willenlos ausgeliefert bin und nicht anders kann, als meiner lebenslangen Leidenschaft für die Bäckersfrau nachzugeben. „Was kauf ich mir?“ Es tut nichts, dass die Bäckersfrau in diesem Fall ein Kerl ist, es tut fast nichts, dass sie frisches Brot erst in zehn Minuten aus dem Ofen holen. Denn: ist gibt:
Warme Blätterteigtaschen, mit Schafskäse und Nüssen gefüllt.
Heiße Käse-Stängelchen mit Sesam.
Trockene Knabberstangen mit Karottengeschmack.
Süßes Mürbgebäck in achterlei Sorten, der Bäcker hat sofort erkannt, dass ich ihm wehrlos gegenüberstehe – und läßt mich zwei probieren. Nein, heute lieber salzig. Da können die daheim schreiben, was sie wollen: die Krise hat den Bäcker von Agios Nikolaos auf Kreta noch nicht erreicht. Nur mit dem Wechselgeld herausgeben: da hapert es. Der Bäcker muss schon lang kramen und drei mal seine Bäckersfrau anrufen, die sich wie eine Gottheit irgendwo in hinteren Räumen birgt. Und drei mal ungeduldig zurückkeift.

Frohen Mutes überlasse ich den Bäcker seinem weiteren Schicksal und stapfe mit einer großen Tüte hügelan, Richtung Busbahnhof. Aber der ist heute nicht da wo er sein soll, da die Straßen leer sind, kann ich auch niemand fragen, kein Schild weist mir den Weg. Also stapfe ich weiter den Hügel aufwärts, am Krankenhaus vorbei, zum Kreisel, rechts oder links? Ich entscheide mich für links, nach fünf Minuten deutet der Besitzer des Lebensmittel-Ladens nach hinten, dorthin: wo ich herkam. Also zurück zum Krankenhaus. Eine alte Frau, in tiefes Schwarz gekleidet, weist lamentierend ins Krankenhaus hinein, als ich nicht gleich folgsam bin, läuft sie weiter hinter mir her, bis sich hinter mir zischend die Schiebetüren des Krankenhauses schließen. Nein, hier wollte ich nicht sein. Links Chirurgie, rechts Frauenheilkunde, ich such‘ doch nur den Busbahnhof? Aber die Entschlossenheit der Frau in Schwarz tut ihre Wirkung, ich lasse mich nicht verunsichern und schreite einfach an allen Wegweisern vorbei. Und komme zum Ausgang. Der Pförtner blickt mich verschlafen an, tippt mit dem Finger der linken Hand müde fünfmal in die Luft, Richtung Ausgang. Als ich nach der „Bus-Station“ frage, erhalte ich ein mattes „Left. Left.“ Noch zwei Mal muss ich fragen, obwohl der Busbahnhof nur 50 Meter entfernt ist. Er hat sich gut versteckt, in einer Seitenstraße.

Und schon bin ich drin. Hinter dem Schalter drei Männer, zwei davon beschäftigen mit etwas, was aussieht wie ein Lottozettel, aber vermutlich ein neues Formular ist, das sich die griechische Bürokratie letzte Nacht ausgedacht hat. Ich stehe drei Minuten vor den beiden am geöffneten Schalter, nur einmal schaut einer von den beiden kurz auf, nimmt mich wahr wie ein Insekt, das gerade vorbeifliegt. Bis sich der dritte am anderen Schalter meiner erbarmt. Leider habe ich nur einen Zwanzig Euro-Schein dabei, ich fürchte das Schlimmste, dass er mir auf die 7 Euro nicht herausgeben kann, von wegen „den Händlern geht wegen der Bankenkrise das Kleingeld aus.“ Doch diesmal ists genau anders herum: Der Mann hinterm Schalter hat keine Scheine. Dafür aber jede Menge Kleingeld. Und die zählt er mir jetzt vor. Die Krise, sie treibt an jedem Baum andere Blüten.

 

Mein Bus rollt ein. Das modernste vom Modernen aus deutscher Produktion, genauer: der Stuttgarter Nutzfahrzeug-Sparte, vollklimatisiert, mit Toilette, die geschlossen ist und Video-Screens über den Sitzen, die nichts anzeigen. Außer, dass sie mit einem Zettel beklebt sind, der sinnig ausgerechnet darüber informiert, dieser Platz sei „under video control“. Mich beschleicht der Gedanke, dass vielleicht ja doch etwas dran sein könnte an der These von Mikhalis Farsaris, dass die EU in Griechenland nicht fair spielen würde, sondern die in Griechenland tätigen EU-Mittler ganz eigenen ökonomischen Zielen nachjagen würden. „Lobby-Arbeit“, nannte er es, und lächelte traurig. Oder ist es wieder einmal die deutsche Wirtschaftsmaschinerie, die einfach dort, wo EU-Gelder reichlich fließen, mit Know-How und richtigem Vertriebshändchen die richtigen Entscheider zu richtigen Produktentscheidungen motiviert?

Endlich im Bus, freue ich mich auf meine Tüte vom Bäcker. Die Blätterteigtasche, die mit dem Schafskäse und den Nüssen, fühlt sich noch warm an, als ich sie in die Hand nehme. Vorsichtig wickle ich eine Serviette drumherum, will gerade hineinbeissen: da steht der Ticketcontroller vor mir: „Its forbidden to eat in the bus“, sagt er staubtrocken, und deutet auf MEINE Tüte.
„Und was ist, wenn jemand vor Hunger stirbt im Bus?“, frage ich ihn.
Aber er bleibt kalt. „It’s a rule“, sagt er, und ich kaue schon auf einem Wortpfeilchen mit der Aufschrift „Von Schäuble?“ herum. Aber ich lasse es. Griechische Bürokratie, die Menschen das Essen während einer Busfahrt untersagt.

Und so rollt der Bus langsam die zwei Stunden Richtung Heraklion, er füllt sich mehr und mehr, nicht mit Griechen. Dafür aber mit: Israelis, Holländern, Russen, Engländern. Solange, bis die Menschen im Durchgang des Busses stehen und sitzen.

Nein. Irgendwie ist sie nicht sichtbar, die Krise. Und doch ist sie da, die Krise: Als Kampf im Alltag, als lähmender Dauerzustand eines Landes, das sich auch mit noch so viel Geld-Infusion nicht berappeln wird.
„If we want to make revolution: we first have to change ourselves“, sagt Mikhalis Farsaris. Und mit diesem Satz liefert er vielleicht das beste Summary aus meinen bisherigen Interviews und Geschichten unter dem Titel HEUTE IN GRIECHENLAND.

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Vom Autor von MARE PIU:


Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.
Mehr erfahren: Hier.

 

 

Heute in Griechenland (11): Was man von Griechenland lernen kann in diesen Tagen.

Irgendwann in diesen Tagen wird es soweit sein, dass zum 100.000mal ein Leser auf MARE PIU klickt. Das ist natürlich ein seltenes Jubiläum, etwas, worauf ich, worauf wir über ein Jahr gewartet haben. Und um dem Tag die richtige, dem Ereignis angemessene Würde zu verleihen, haben wir uns für heute in unserer Artikelserie HEUTE IN GRIECHENLAND für unseren 11. Post etwas Milde und Nachdenklichkeit verordnet. Seien wir also zurückhaltend zumindest für den heutigen Tag nach diesen Wochen verbitternder Diskussion zwischen Nordeuropäern und Griechen, die gleichermaßen zu wissen schienen, woran dies Land nun wirklich zu kranken scheint.

Übersehen wir also zumindest für diesen einen Tag die Rohbauten, die überall rottend am Meer herumstehen.
Schauen wir einfach hinweg über die tollen Ferien-Anlagen, die brandneu fertiggestellt ihr Dasein als leblose Geisterstädte verfallend fristen.


Blicken wir hinweg über eine ungeheure Vielzahl an Betonmonumenten vielerlei Art, die uns alle nur das eine sagen: Dass dies Land irgendwie seine liebe Not hat mit Großprojekten aller Art. 
Verdrängen wir für einen Moment, wieviele Hochbegabte, gut Ausgebildete dieses Land jeden Monat verlassen, Ärzte, Programmierer: weil sie hier keine adäquate Beschäftigung finden. 
Legen wir gnädig einen Schleier des Schweigens über jene Schreihälse unter griechischen Politikern, die – wer weiß, aus welchem Spieltrieb heraus – europäische Kollegen als „Terroristen“ bezeichneten und das Land isolierten. 
Freuen wir uns, dass sich die Wogen auf dem Meer vor Agios Nikolaos und in der Presse beruhigt haben und die Brecher jetzt gerade woanders als mit Kraft ans Ufer schlagen. Und denken wir für einen Moment darüber nach: Was man lernen könnte, in diesen Tagen, von Griechenland und den Griechen.

 
 
„Griechenland ist immer noch ein wunderbares Land, um abzuhängen.“

Was eine deutsche Touristin gestern so schön formulierte, enthält einfach einen wahren Kern. Oder gleich mehrere: Man wird in Ruhe gelassen, in diesem Land. Keiner dreht einem irgendwo etwas an oder fragt, ob’s denn nun nach dem Essen auch noch ein doppelter Espresso sein dürfe. Die Männer in diesem Land sind noch Teddybären und haben eben nicht sieben Jahre „Vertrieb“ auf dem Buckel. In Restaurants – wie oben in Paleokastro ganz im Osten von Kreta – geht es beschaulich zu. Alles ist etwas verlangsamt und eben noch nicht vertriebsorientiert. Und dafür sitzt man dann über seinem 47. Tsatsiki während dieses Griechenland-Aufenthalts, zieht genüsslich die Joghurt-Gurken-kühle Gabel über die Zunge und ist der Meinung: dies sei ja nun wirklich das allerbeste Tsatsiki, das man auf dieser Reise serviert bekommen habe.

„So ganz habe ich es noch nicht raus:       
Aber für Griechen scheint Geld eine andere Währung zu sein als für den Rest der Welt.“

Haben Sie sich schon einmal gefragt: Was Geld für Sie bedeutet? Welchen Betrag Sie zum Beispiel im Portemonnaie haben müssen, um sich sicher zu fühlen, wenn Sie durch die Straßen ihrer Stadt laufen? 200 Euro? 100 Euro? 30 Euro?
Ab wann Sie nervös werden und nach dem nächsten Bankautomaten schielen, weil die „magische Grenze“ unterschritten ist?
Haben sie sich schon mal gefragt: Welcher Betrag täte mir richtig weh, wenn ich ihn auf der Straße verlieren würde? 10 Euro? 50 Euro? Nichts dergleichen?

In den zurückliegenden Wochen der Krise war es zumindest hier in Agios Nikolaos bewundernswert, wie die Griechen sich im Alltag mit dem herumschlugen, was im Ausland so schön „Kapitalverkehrskontrollen“ heißt. An den Geldautomaten zu gehen, und der spuckt täglich nur mehr 60 Euro für mich aus. Manchen von uns würde allein schon das Gefühl der Limitierung, nicht mehr im „Unbegrenzten“ leben zu können, an den Rand des Wahnsinns treiben.

Tatsächlich blieben die Griechen, die ich beobachten konnte, erstaunlich gelassen. Das hat einerseits damit zu tun, dass 60 Euro täglich, wie Mikhalis Farsaris im Interview sagte, für den durchschnittlichen Griechen eine Menge Geld seien, immerhin 1.800 Euro monatlich.

Lassen wir einmal außer Acht, dass die Griechen schon die letzten fünf Jahre in der Gewißheit verbrachten, dass ihnen demnächst – finanztechnisch – der Himmel auf den Kopf fällt. Dass alle sich vorbereitet haben. Die Kopfkissen mit Banknoten füllten. Auslandskonten anlegten. Konten am Wohnort bei möglichst drei bis vier Banken unterhalten (das ergibt dann beim morgendlichen Rundgang von Bankautomat zu Bankautomat für Cleverles statt 60 Euro schon mal 180 Euro, darüber spricht man nicht!). Wohlgemerkt: alles hier in Agios Nikolaos auf Kreta, nicht Athen oder Thessaloniki. Lassen wir dies alles außer Acht, denn der Kern ist ein anderer, nämlich: „Wofür soll ich hier schon 180 Euro brauchen?“. Geld ist in Griechenland etwas anderes als in Deutschland. Mit „Geld“ scheint es in Griechenland wie mit „Auto“ zu sein. Ein bisschen was davon ist immer da. Aber lebensnotwendig ist beides nicht.
Und das färbt wohltuend auch in diesen Tagen auf das Reiseland ab. Alles läuft einfach weiter. Weil es auf das, wovon halt jeden Tag „ein bisschen da sein muss“, nun wirklich nicht ankommt.

„Bei der gegenwärtigen Krise handelt es sich weniger um eine ökonomische, sondern um eine Krise der Werte“, sagt der Doktor.

Seit einigen Tagen denke ich über die letzten Interviews nach, die ich in den vergangenen Tagen hier führte. Dass Sven, aufgewachsen in der Nähe von Brüssel, mir über seine Heimat sagt, dass er aufgrund der sozialen Probleme und der wachsenden Kriminalität sein Land verlassen habe, weil er nicht möchte, dass sein Kind darin aufwächst?
 
Oder dass mir der Doktor das mit der Krise der Werte sagt. Und beschlossen hat, eine Organisation zu gründen, um die Menschen durch Rückbesinnung auf traditionelle Anbaumethoden in Selbstversorgung zu schulen.

Natürlich geht es nicht, dass ein Nachbar dauerhaft auf Kosten seiner Nachbarn lebt. Und ein Land auf Dauer von anderen durchgefüttert wird. Die Ermutigung, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, muss an erster Stelle stehen. Das tun die Griechinnen und Griechen, mit denen ich in den letzten Wochen Interviews führte, allesamt und ohne Ausnahme. Sie tun es nur ein wenig anders als wir Deutschen, wir Nordeuropäer oder Nordamerikaner insgesamt.

„Warum ist Wasser in Deutschland in Restaurants und Bahnhöfen eigentlich so teuer?“, fragt Despina.

Ich bin zumindest nachdenklich geworden nach all dem, was ich hier sah, ob der deutsche Weg, ein Land auf Biegen und Brechen in die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu führen, für Griechen und Griechenland der richtige Weg ist.
Ganz abgesehen davon, dass von vielem, was aus Brüssel in Griechenland oder in Deutschland landet, längstens der Schleier des Schweigens gezogen gehört:
Dieses Land würde vieles verlieren, was für andere Länder wertvoll ist.


Alle Fotos vom gestrigen Samstag entstanden im Osten von Kreta.

Heute in Griechenland (11): Was man von Griechenland lernen könnteindiesen Tagen.

Irgendwann in diesen Tagen wird es soweit sein, dass zum 100.000mal ein Leser auf MARE PIU klickt. Das ist natürlich ein seltenes Jubiläum, etwas, worauf ich, worauf wir über ein Jahr gewartet haben. Und um dem Tag die richtige, dem Ereignis angemessene Würde zu verleihen, haben wir uns für heute in unserer Artikelserie HEUTE IN GRIECHENLAND für unseren 11. Post etwas Milde und Nachdenklichkeit verordnet. Seien wir also zurückhaltend zumindest für den heutigen Tag nach diesen Wochen verbitternder Diskussion zwischen Nordeuropäern und Griechen, die gleichermaßen zu wissen schienen, woran dies Land nun wirklich zu kranken scheint.

Übersehen wir also zumindest für diesen einen Tag die Rohbauten, die überall rottend am Meer herumstehen.
Schauen wir einfach hinweg über die tollen Ferien-Anlagen, die brandneu fertiggestellt ihr Dasein als leblose Geisterstädte verfallend fristen.

Blicken wir hinweg über eine ungeheure Vielzahl an Betonmonumenten vielerlei Art, die uns alle nur das eine sagen: Dass dies Land irgendwie seine liebe Not hat mit Großprojekten aller Art. 
Verdrängen wir für einen Moment, wieviele Hochbegabte, gut Ausgebildete dieses Land jeden Monat verlassen, Ärzte, Programmierer: weil sie hier keine adäquate Beschäftigung finden. 
Legen wir gnädig einen Schleier des Schweigens über jene Schreihälse unter griechischen Politikern, die – wer weiß, aus welchem Spieltrieb heraus – europäische Kollegen als „Terroristen“ bezeichneten und das Land isolierten. 
Freuen wir uns, dass sich die Wogen auf dem Meer vor Agios Nikolaos und in der Presse beruhigt haben und die Brecher jetzt gerade woanders als mit Kraft ans Ufer schlagen. Und denken wir für einen Moment darüber nach: Was man lernen könnte, in diesen Tagen, von Griechenland und den Griechen.

„Griechenland ist immer noch ein wunderbares Land, 
um abzuhängen.“

Was eine deutsche Touristin gestern so schön formulierte, enthält einfach einen wahren Kern. Oder gleich mehrere: Man wird in Ruhe gelassen, in diesem Land. Keiner dreht einem irgendwo etwas an oder fragt, ob’s denn nun nach dem Essen auch noch ein doppelter Espresso sein dürfe. Die Männer in diesem Land sind noch Teddybären und haben eben nicht sieben Jahre „Vertrieb“ auf dem Buckel. In Restaurants – wie oben in Paleokastro ganz im Osten von Kreta – geht es beschaulich zu. Alles ist etwas verlangsamt und eben noch nicht vertriebsorientiert. Und dafür sitzt man dann über seinem 47. Tsatsiki während dieses Griechenland-Aufenthalts, zieht genüsslich die Joghurt-Gurken-kühle Gabel über die Zunge und ist der Meinung: dies sei ja nun wirklich das allerbeste Tsatsiki, das man auf dieser Reise serviert bekommen habe.

„So ganz habe ich es noch nicht raus:       
Aber für Griechen scheint Geld eine andere Währung 
zu sein als für den Rest der Welt.“         

Haben Sie sich schon einmal gefragt: Was Geld für Sie bedeutet? Welchen Betrag Sie zum Beispiel im Portemonnaie haben müssen, um sich sicher zu fühlen, wenn Sie durch die Straßen ihrer Stadt laufen? 200 Euro? 100 Euro? 30 Euro?  
Ab wann Sie nervös werden und nach dem nächsten Bankautomaten schielen, weil die „magische Grenze“ unterschritten ist?
Haben sie sich schon mal gefragt: Welcher Betrag täte mir richtig weh, wenn ich ihn auf der Straße verlieren würde? 10 Euro? 50 Euro? Nichts dergleichen?

In den zurückliegenden Wochen der Krise war es zumindest hier in Agios Nikolaos bewundernswert, wie die Griechen sich im Alltag mit dem herumschlugen, was im Ausland so schön „Kapitalverkehrskontrollen“ heißt. An den Geldautomaten zu gehen, und der spuckt täglich nur mehr 60 Euro für mich aus. Manchen von uns würde allein schon das Gefühl der Limitierung, nicht mehr im „Unbegrenzten“ leben zu können, an den Rand des Wahnsinns treiben.

Tatsächlich blieben die Griechen, die ich beobachten konnte, erstaunlich gelassen. Das hat einerseits damit zu tun, dass 60 Euro täglich, wie Mikhalis Farsaris im Interview sagte, für den durchschnittlichen Griechen eine Menge Geld seien, immerhin 1.800 Euro monatlich.

                                                        Weiterlesen bei: Mikhalis Farsaris. Was ein Manager sagt. Hier.

Lassen wir einmal außer Acht, dass die Griechen schon die letzten fünf Jahre in der Gewißheit verbrachten, dass ihnen demnächst – finanztechnisch – der Himmel auf den Kopf fällt. Dass alle sich vorbereitet haben. Die Kopfkissen mit Banknoten füllten. Auslandskonten anlegten. Konten am Wohnort bei möglichst drei bis vier Banken unterhalten (das ergibt dann beim morgendlichen Rundgang von Bankautomat zu Bankautomat für Cleverles statt 60 Euro schon mal 180 Euro, darüber spricht man nicht!). Wohlgemerkt: alles hier in Agios Nikolaos auf Kreta, nicht Athen oder Thessaloniki. Lassen wir dies alles außer Acht, denn der Kern ist ein anderer, nämlich: „Wofür soll ich hier schon 180 Euro brauchen?“. Geld ist in Griechenland etwas anderes als in Deutschland. Mit „Geld“ scheint es in Griechenland wie mit „Auto“ zu sein. Ein bisschen was davon ist immer da. Aber lebensnotwendig ist beides nicht.
Und das färbt wohltuend auch in diesen Tagen auf das Reiseland ab. Alles läuft einfach weiter. Weil es auf das, wovon halt jeden Tag „ein bisschen da sein muss“, nun wirklich nicht ankommt.

„Bei der gegenwärtigen Krise handelt es sich 
weniger um eine ökonomische, 
sondern um eine Krise der Werte.„
Sagt der Doktor.

Seit einigen Tagen denke ich über die letzten Interviews nach, die ich in den vergangenen Tagen hier führte. Dass Sven, aufgewachsen in der Nähe von Brüssel, mir über seine Heimat sagt, dass er aufgrund der sozialen Probleme und der wachsenden Kriminalität sein Land verlassen habe, weil er nicht möchte, dass sein Kind darin aufwächst?

Weiterlesen bei: Heute am Strand in Agios Nikolaos. Hier.

Oder dass mir der Doktor das mit der Krise der Werte sagt. Und beschlossen hat, eine Organisation zu gründen, um die Menschen durch Rückbesinnung auf traditionelle Anbaumethoden in Selbstversorgung zu schulen.

Weiterlesen bei: Was der Doktor sagt. Warum er eine Arche baut. Hier.

Natürlich geht es nicht, dass ein Nachbar dauerhaft auf Kosten seiner Nachbarn lebt. Und ein Land auf Dauer von anderen durchgefüttert wird. Die Ermutigung, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, muss an erster Stelle stehen. Das tun die Griechinnen und Griechen, mit denen ich in den letzten Wochen Interviews führte, allesamt und ohne Ausnahme. Sie tun es nur ein wenig anders als wir Deutschen, wir Nordeuropäer oder Nordamerikaner insgesamt.

„Warum ist Wasser in Deutschland’s 
Restaurants und Bahnhöfen 
eigentlich so teuer?“ fragt Despina.

Manche der Fragen, die mir hier gestellt werden, haben durchaus ihre Berechtigugng. Ich bin zumindest nachdenklich geworden nach all dem, was ich hier sah, ob der deutsche Weg, ein Land auf Biegen und Brechen in die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu führen, für Griechen und Griechenland der richtige Weg ist. 
Ganz abgesehen davon, dass von vielem, was aus Brüssel in Griechenland oder in Deutschland landet, längstens der Schleier des Schweigens gezogen gehört:   
Dieses Land würde vieles verlieren, was für andere Länder wertvoll ist.

Und kommenden Dienstag: Da schreibe ich darüber: Warum Thomas, 26, aufgewachsen unmittelbar neben dem Eifelturm in Paris nichts anderes möchte als: Hier leben. Auf Kreta.


Alle Fotos vom gestrigen Samstag entstanden im Osten von Kreta.

Weiterlesen bei: Die Palmen von Vai. Hier.

Heute in Griechenland (10): Was der Doktor sagt. Und warum derDoktoreine Arche baut.

Die medizinische Versorgung in Griechenland: Thema oder Trauma? MARE PIU frägt den Mediziner Dr. Aris Pagkalos in Agios Nikolaos – und erhält einige verblüffende Antworten.

 

Das ist Dr. Aris Pagkalos. Er ist Hals-Nasen-Ohren-Facharzt und einer von 50 Medizinern, die sich medizinisch um die Bevölkerung von Agios Nikolaos kümmern. Zuvor war er an der Universitätsklinik von Heraklion, vor 15 Jahren ist er in seine Heimatstadt Agios Nikolaos zurückgekehrt, um sich als Facharzt niederzulassen. Er ist 50 Jahre alt und hat zwei Töchter, die in Athen Griechische Philologie studieren.

MARE PIU:
Wie ist das so, als Arzt in Griechenland?

Dr. PAGKALOS: Wenn ich mir so die Entwicklung der letzten Jahre ansehe, scheint es nicht sonderlich attraktiv zu sein: Wir haben drei größere Tendenzen:

Erstens:
Sehr starke „Wanderungsbewegung“ unter den Ärzten: Abwanderung von Fachärzten an den Hospitälern. Auswanderung aus finanziellen Gründen. Abwanderung in den vorzeitigen Ruhestand, manchmal schon mit 60 oder jünger, da werden gerne gesetzliche Schlupflöcher genutzt.

Zweitens:
Noch eine Wanderungsbewegung: Viele Ärzte in unserem Land nehmen öfter einen Ortswechsel vor innerhalb Griechenlands, ebenfalls aus ökonomischen Gründen. Für eine stabile medizinsiche Versorgung ist das nicht gut.

Drittens:
Generelle Reduzierung von Personal und Ausstattung an Kliniken. Die Kliniken in Griechenland sind – anders als in Deutschland – immer noch staatlich. Selbst wenn ich dem Leiter eines Krankenhauses nachweise, dass wir die Kosten für diese oder jene Anschaffung innerhalb kurzer Zeit wieder hereinholen, ist seine Neigung zu größeren Anschaffungen gering. Bürokratie. Mittlerweile ist es so, dass ich mir als Facharzt in meinen Räumen teilweise besseres Equippment leisten kann als die Kliniken.

MARE PIU: Gibt es zunehmend Schwierigkeiten, die Patienten hier in Agios Nikolaos zu versorgen?

Dr. PAGKALOS: Das nicht, nein. Wir haben alles, was wir brauchen. Was wir aber schon feststellen, ist, dass die Menschen weniger ihren Arzt aufsuchen. Das hat eindeutig mit Verunsicherung, mit ökonomischem Druck zu tun. Man geht nicht einfach so zum Arzt. Ärzte, die gute Arbeit machen, merken das weniger, sie sind nach wie vor gut frequentiert. Aber die anderen oder die, die ihre Praxis gerade gestartet haben, verzeichnen eindeutig Rückgänge.

MARE PIU: Es gibt hier in Griechenland ja viele Unversicherte ohne Krankenversicherung. Was geschieht jetzt eigentlich mit den Patienten, die sich einen Arzt nicht leisten können?

Dr. PAGKALOS: Die behandle ich natürlich trotzdem – jeder Arzt hier macht das. Ich habe Privatversicherte, Normalversicherte, Nichtversicherte. Wir behandeln alle – dafür bin ich Arzt. Und als Präsident des hiesigen ROTEN KREUZES stelle ich auch fest, dass es in den letzten Monaten mehr Menschen geworden sind, die nicht bezahlen können.

 

MARE PIU: Wenn es an Ihnen läge, wenn Ihnen Mittel zur Verfügung stünden: Wo würden Sie als Arzt investieren?

Dr. PAGKALOS: Ich würde noch mehr investieren in den Anbau traditioneller Produkte. Produkte, die wir hier vor Ort seit jeher anbauen und produzieren. Ich habe hierzu eine Organisation gegründet, die ARK OF SEEDS heißt, ARCHE DER PFLANZEN. Innerhalb dieser Organisation sammeln wir das Wissen um die Pflanzen, die wir hier auf Krtea immer angebaut. Wir schulen hier Leute, wie man das richtig macht, wann man sät, wann man erntet, was man braucht. Wir wollen die Menschen hier unabhängiger machen und haben zu diesem Zweck ein großes Stück Land erworben, das wir Menschen zur Verfügung stellen, die über geringes Einkommen verfügen. Wir schulen die Leute auch in Obst- und Gartenbau, zeigen, wie man auf unserer wasserarmen Gegend „Cultivation without Water“ betreibt. Wir haben eine Bank mit Pflanzensamen gegründet. Und wir wollen Respekt gegenüber den traditionellen Anbaumethoden und Lebensweisen hier auf Kreta bewahren. Da war ja alles nicht verkehrt. Ich möchte gerne, dass wir bei jeder Art von Problem aus den Abhängigkeiten herauskommen. Und unabhängig werden.

MARE PIU: Wie kamen Sie denn auf die Idee?

Dr. PAGKALOS: Ich habe meine Großmutter sehr verehrt. Sie hat mich die Liebe zu den Dingen gelehrt, mit ihrer einfachen Lebensweise. Aber das erstaunlichste war: Sie hat immer dafür gesorgt, dass wir mehr zu essen hatten, als wir essen konnten – und das aus dem einfachen Landbau heraus. Und genau das möchte ich mit ARK OF THE SEEDS erreichen: das wir dieses alte Wissen weitergeben.

 

MARE PIU: In den siebzigern Jahren erschien in den nordeuropäischen Ländern eine Studie, in welchem Land die Menschen die größte Lebenserwartung hätten. Mit weitem Abstand lag Ihre Insel Kreta vorne. Man hat über Jahrzehnte versucht, die Gründe dafür zu finden. Sah sie vor allem in der mediterranen Küche: wenig Fleisch, viele wasserspeichernde Gemüsesorten. Können Sie die Ergebnisse der Studie bestätigen?

Dr. PAGKALOS (lacht): Von dieser Studie habe ich noch nie gehört.

MARE PIU: Wenn Sie die augenblickliche Krise in Europa betrachten – wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen?

Dr. PAGKALOS: Ich glaube, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise weniger um eine ökonomische, sondern um eine Krise der Werte („values“) handelt. Wir Griechen haben nach der europäischen Einigung das Maß verloren. Wahlgeschenke: Menschen, die einfach im öffentlichen Sektor eingestellt wurden, ohne sie zu brauchen. Viele, die die Grenzen aus den Augen verloren, und die dann über ihre Verhältnisse lebten. Europa reagierte auf die Krise ebenfalls nicht richtig, weil es diese Krise derzeit ausschließlich aus dem wirtschaftlichen Blickwinkel sieht. Und das ist auch nicht richtig.

MARE PIU: Und wie kam es zu dem folgenreichen Referendum?

Dr. PAGKALOS (lacht): Das müssen Sie über die Griechen wissen: Ein „Nein“ ist uns Griechen allemal IMMER gemäßer und auch näher. „Ja“ ist manchmal nur ein höfliches Wort, das wir sagen, und es leider nicht so meinen.

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Vom Autor von MARE PIU:


Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.

Heute in Griechenland (10): Was der Doktor sagt. Und warum derDoktoreine Arche baut.

Die medizinische Versorgung in Griechenland: Thema oder Trauma? MARE PIU frägt den Mediziner Dr. Aris Pagkalos in Agios Nikolaos – und erhält einige verblüffende Antworten.

Das ist Dr. Aris Pagkalos. Er ist Hals-Nasen-Ohren-Facharzt und einer von 50 Medizinern, die sich medizinisch um die Bevölkerung von Agios Nikolaos kümmern. Zuvor war er an der Universitätsklinik von Heraklion, vor 15 Jahren ist er in seine Heimatstadt Agios Nikolaos zurückgekehrt, um sich als Facharzt niederzulassen. Er ist 50 Jahre alt und hat zwei Töchter, die in Athen Griechische Philologie studieren.

MARE PIU: 
Wie ist das so, als Arzt in Griechenland?

Dr. PAGKALOS: Wenn ich mir so die Entwicklung der letzten Jahre ansehe, scheint es nicht sonderlich attraktiv zu sein: Wir haben drei größere Tendenzen:

Erstens: 
Sehr starke „Wanderungsbewegung“ unter den Ärzten: Abwanderung von Fachärzten an den Hospitälern. Auswanderung aus finanziellen Gründen. Abwanderung in den vorzeitigen Ruhestand, manchmal schon mit 60 oder jünger, da werden gerne gesetzliche Schlupflöcher genutzt. 

Zweitens:
Noch eine Wanderungsbewegung: Viele Ärzte in unserem Land nehmen öfter einen Ortswechsel vor innerhalb Griechenlands, ebenfalls aus ökonomischen Gründen. Für eine stabile medizinsiche Versorgung ist das nicht gut.

Drittens:
Generelle Reduzierung von Personal und Ausstattung an Kliniken. Die Kliniken in Griechenland sind – anders als in Deutschland – immer noch staatlich. Selbst wenn ich dem Leiter eines Krankenhauses nachweise, dass wir die Kosten für diese oder jene Anschaffung innerhalb kurzer Zeit wieder hereinholen, ist seine Neigung zu größeren Anschaffungen gering. Bürokratie. Mittlerweile ist es so, dass ich mir als Facharzt in meinen Räumen teilweise besseres Equippment leisten kann als die Kliniken.

MARE PIU: Gibt es zunehmend Schwierigkeiten, die Patienten hier in Agios Nikolaos zu versorgen?

Dr. PAGKALOS: Das nicht, nein. Wir haben alles, was wir brauchen. Was wir aber schon feststellen, ist, dass die Menschen weniger ihren Arzt aufsuchen. Das hat eindeutig mit Verunsicherung, mit ökonomischem Druck zu tun. Man geht nicht einfach so zum Arzt. Ärzte, die gute Arbeit machen, merken das weniger, sie sind nach wie vor gut frequentiert. Aber die anderen oder die, die ihre Praxis gerade gestartet haben, verzeichnen eindeutig Rückgänge.

MARE PIU: Es gibt hier in Griechenland ja viele Unversicherte ohne Krankenversicherung. Was geschieht jetzt eigentlich mit den Patienten, die sich einen Arzt nicht leisten können?

Dr. PAGKALOS: Die behandle ich natürlich trotzdem – jeder Arzt hier macht das. Ich habe Privatversicherte, Normalversicherte, Nichtversicherte. Wir behandeln alle – dafür bin ich Arzt. Und als Präsident des hiesigen ROTEN KREUZES stelle ich auch fest, dass es in den letzten Monaten mehr Menschen geworden sind, die nicht bezahlen können.

MARE PIU: Wenn es an Ihnen läge, wenn Ihnen Mittel zur Verfügung stünden: Wo würden Sie als Arzt investieren?

Dr. PAGKALOS: Ich würde noch mehr investieren in den Anbau traditioneller Produkte. Produkte, die wir hier vor Ort seit jeher anbauen und produzieren. Ich habe hierzu eine Organisation gegründet, die ARK OF SEEDS heißt, ARCHE DER PFLANZEN. Innerhalb dieser Organisation sammeln wir das Wissen um die Pflanzen, die wir hier auf Krtea immer angebaut. Wir schulen hier Leute, wie man das richtig macht, wann man sät, wann man erntet, was man braucht. Wir wollen die Menschen hier unabhängiger machen und haben zu diesem Zweck ein großes Stück Land erworben, das wir Menschen zur Verfügung stellen, die über geringes Einkommen verfügen. Wir schulen die Leute auch in Obst- und Gartenbau, zeigen, wie man auf unserer wasserarmen Gegend „Cultivation without Water“ betreibt. Wir haben eine Bank mit Pflanzensamen gegründet. Und wir wollen Respekt gegenüber den traditionellen Anbaumethoden und Lebensweisen hier auf Kreta bewahren. Da war ja alles nicht verkehrt. Ich möchte gerne, dass wir bei jeder Art von Problem aus den Abhängigkeiten herauskommen. Und unabhängig werden.

MARE PIU: Wie kamen Sie denn auf die Idee?

Dr. PAGKALOS: Ich habe meine Großmutter sehr verehrt. Sie hat mich die Liebe zu den Dingen gelehrt, mit ihrer einfachen Lebensweise. Aber das erstaunlichste war: Sie hat immer dafür gesorgt, dass wir mehr zu essen hatten, als wir essen konnten – und das aus dem einfachen Landbau heraus. Und genau das möchte ich mit ARK OF THE SEEDS erreichen: das wir dieses alte Wissen weitergeben.

MARE PIU: In den siebzigern Jahren erschien in den nordeuropäischen Ländern eine Studie, in welchem Land die Menschen die größte Lebenserwartung hätten. Mit weitem Abstand lag Ihre Insel Kreta vorne. Man hat über Jahrzehnte versucht, die Gründe dafür zu finden. Sah sie vor allem in der mediterranen Küche: wenig Fleisch, viele wasserspeichernde Gemüsesorten. Können Sie die Ergebnisse der Studie bestätigen?

Dr. PAGKALOS (lacht): Von dieser Studie habe ich noch nie gehört.

MARE PIU: Wenn Sie die augenblickliche Krise in Europa betrachten – wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen?

Dr. PAGKALOS: Ich glaube, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise weniger um eine ökonomische, sondern um eine Krise der Werte („values“) handelt. Wir Griechen haben nach der europäischen Einigung das Maß verloren. Wahlgeschenke: Menschen, die einfach im öffentlichen Sektor eingestellt wurden, ohne sie zu brauchen. Viele, die die Grenzen aus den Augen verloren, und die dann über ihre Verhältnisse lebten. Europa reagierte auf die Krise ebenfalls nicht richtig, weil es diese Krise derzeit ausschließlich aus dem wirtschaftlichen Blickwinkel sieht. Und das ist auch nicht richtig.

MARE PIU: Und wie kam es zu dem folgenreichen Referendum?

Dr. PAGKALOS (lacht): Das müssen Sie über die Griechen wissen: Ein „Nein“ ist uns Griechen allemal IMMER gemäßer und auch näher. „Ja“ ist manchmal nur ein höfliches Wort, das wir sagen, und es leider nicht so meinen.

                                                          Weiterlesen bei: Das sagt der Bürgermeister. Hier.
                                                          Weiterlesen bei: Das sagt die Sozialarbeiterin. Hier.
                                                          Weiterlesen bei: Das sagt der Strandliegen-Verleiher. Hier.
                                                          Weiterlesen bei: Warum Despina von mir kein Geld nimmt. Hier.

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Vom Autor von MARE PIU: 


Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.
Mehr erfahren: Hier.


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Heute in Griechenland (9): Heute am Strand in Agios Nikolaos.

Am Strand im Süden von Agios Nikolaos treffe ich Sven. Sven ist zuständig für die Vermietung der  Sonnenschirme und Sonnenliegen an diesem Strand.

 
Sven ist Ende 30 und Belgier. Er ist in Antwerpen geboren, zur Schule gegangen, hat dort eine Ausbildung gemacht und eine feste Anstellung beim Wasserwirtschaftsamt bekommen. „Ich hatte einen sicheren Job, verdiente gutes Geld, hatte ein Haus zwischen Antwerpen und Brüssel. Aber vor fünf Jahren hab’ ich gedacht: Das wird nix mit Europa. Und mit Belgien gehts bergab. Ich wollte weg aus Belgien.“ Es sind vor allem soziale Probleme und steigende Kriminalität, die ihm in seiner Heimat zu schaffen machten. Besonders, als er Vater wurde. Er deutet auf sein Kind, Noemi, die mit anderen Kindern 50 Meter weiter in den Wellen plantscht. „Das wäre in Belgien ganz unmöglich: Dort am Meer würde ich Noemi keine fünf Meter weit von mir weg gehen lassen. Ständig gibt es in Belgien Kidnapping, Entführung, Erpressung. Und Kindesmisshandlung. Es gibt viele Leute, die sich an Kindern vergehen in meinem Land. Ich wollte nicht, dass mein Kind dort aufwächst, obwohl Belgien meine Heimat ist.“ 
Antwerpen und vor allem Brüssel – woran liegt es, dass dort die Kriminalität so zunimmt? Sven meint, vor allem die Integration der dritten Einwanderer-Generation sei dort gescheitert. „Die erste Generation von Maghrebinern, die in den Nachkriegsjahren nach Belgien und auch nach Frankreich kam, die wollte ein besseres Leben und suchte einfach Arbeit. Die fanden sie in der Industrie. Und damit waren sie zufrieden. Die zweite Generation ist aus diesen Industriejobs rausgeflogen, als die Firmen wegrationalisiert wurden und die Fertigungsbetriebe schlossen oder abwanderten. Die dritte Generation, die Jungen, die haben gar nichts. Die hatten nie Arbeit. Keinen Job, nichts dergleichen. Sie hängen in den Banlieues herum, der Staat bezahlt sie als Arbeitslose – fürs Nichtstun. Keiner ermuntert sie, irgendwas zu machen. Keine Perspektive. Sie laufen durch die Fußgängerzone und verprügeln irgendjemand, nur so, weil es Ihnen eben mal Spaß macht. Die Polizei kämpft in Belgien einen aussichtslosen Kampf.“ 

Sven ist kein Weichei, sondern einer, der etwas wegstecken kann. Abends, nebenbei, hat er als Türsteher gearbeitet. Als „Bouncer“, wie er sagt, in Diskotheken und Clubs, weil es ihm Spaß machte. „Aber im letzten Jahr, da wurde es immer krimineller. Immer öfter war ich in Kämpfe verwickelt, geriet in Schlägereien. Drogenleute, Agro-Typen, Kleinkriminelle auf der Suche nach Zoff.“ Es wurde ihm zuviel. Nach zwei Griechenland-Urlauben beschloss er mit seiner Frau Sophie, die Zelte in Belgien abzubrechen, das Haus zu verkaufen und mit der damals zweijährigen Noemi nach Griechenland zu gehen. Bei Null anfangen. „Hier hab ich Noemi den ganzen Tag im Auge, sie spielt mit den anderen Kindern. Griechenland ist im Vergleich zu Belgien eine heile Welt. Mir gefällt es hier. Klar gibt es hier auch Probleme. Aber im Vergleich zu dem, was wir zuhause hatten, ist das Nichts.“ Ob er denn nicht Angst hätte, vor den Folgen eines Finanzcrashs in Griechenland? „Hier läuft doch alles. Mein Barometer, wie es den Leuten wirtschaftlich geht, heißt „IPhone – Ipad – NIKE“: Jeden Tag kommen Leute an den Strand, die alle drei Dinge besitzen, auch Griechen. Solange das so ist, mache ich mir keine Sorgen. Die Alten sitzen noch jeden Tag im Kafeneion. Nein, hier gehts noch gut.“ 

 
Die Leute mögen Sven, es macht Spaß, ihm zuzusehen, wie er mit den Menschen umgeht, auf seinem Strand herumwerkelt, ständig überall ist. Liegen geraderückt, Sand herunterklopft. Mal setzt er sich zu diesem Pärchen auf einen Schwatz. Mal zu den beiden älteren Damen, mal zu der einsamen Schönheit, die sich als russisches Model entpuppt und Sven bittet, doch ein paar Fotos von ihr zu machen. „Wenn Du als Türsteher nicht lernst, wie Du mit Frauen sprechen musst, lernst Du es nirgendwo.“ 
 
Sven ist seit vier Jahren in Griechenland. Er arbeitet hart, als Vermieter der Sonnenliegen steht er jeden Morgen um halb sieben auf und ist zeitig am Strand. Von Sonntag bis Sonntag. Sieben Tage die Woche. Von Mai bis Oktober, ohne einen Tag Pause. Jeden Tag vom frühen Morgen bis um 17 Uhr. Pünktlich um fünf, nachdem er seinen Strand aufgeräumt hat, geht Sven dann in den Laden in der Touristenzone, den seine Frau Sophie dort betreibt. „Noemi’s Shop“ haben sie ihn nach ihrer Tochter benannt. Dort löst Sven dann seine Frau ab, steht noch bis zehn Uhr Abends im Laden und verkauft. „Frauenklamotten und T-Shirts. War Sophie’s Idee. Das lief anfangs sehr gut, aber wir spüren die Krise, sie ist überall in Europa, die Leute schauen schon aufs Geld. Hinzu kommt, dass jetzt auch In Agios Nikolaos ein Hotel nach dem anderen auf „All-inclusive“ umstellt. Als wir vor vier Jahren öffneten, war es kein Thema: Leute kamen rein ‚das T-Shirt, und das, und das‘ und legten 40 Euro hin. Heute heißt es bei ‚3 für 2‘: Ich nehm’ doch lieber nur eins. Die Krise: sie ist in ganz Europa, das spüre ich bei unseren Kunden.“
 
Am nächsten Tag treffe ich Sven erst spät am Strand. Er ist wütend. Irgendein griechischer Bus hat sein Auto am Straßenrand beschädigt. Und ist einfach weitergefahren. „Ich war bei der Polizei. Ich mag Griechenland echt gerne, aber das ist die Schattenseite, wie sie mit den Sachen umgehen. Einfach weiterfahren. Dabei ist an dem Bus viel mehr beschädigt als bei mir: Der ganze hintere Blinker und das Bremslicht des Buses sind zertrümmert. Das merkt man doch.“ Die Polizei? Würde nichts unternehmen. „Das ist so leicht herauszubekommen, welcher Bus das war. Ruft einfach die paar Busgesellschaften von hier und von Heraklion an. Nach einer Stunde wisst ihr, wer es war. Wenn ihr es nicht tut, mach ich es. Ich kümmere mich selber darum.“ 

Noch wütender ist Sophie, Sven’s Frau. Von ihrem Vater ist aus dem Senegal hat sie die dunkle Hautfarbe, unter der es jetzt gerade kocht und brodelt. „Es ist nicht leicht hier“, sagt sie und schaut hinaus aufs Meer. „Sven ist hier glücklich. Trotz der anstrengenden Arbeit, den ganzen Tag in der Hitze und der Sonne. Aber für mich ist es schwierig. In Antwerpen hab ich toughe Sachen gemacht. Erst hab ich mit 18 Klempner gelernt. Das war nicht einfach, in so einem Männerberuf. Ich mochte mein Handwerk, die Arbeit, aber irgendwann hat es mich genervt, immer als Mädchen angemacht zu werden. Heute wüsste ich, wie ich mich zu wehren habe – damals hab ich nach ein paar Jahren aufgehört und begonnen, in Kneipen und Clubs im Service gearbeitet. Das war mir dann nach ein paar Jahren zu langweilig. Danach hab ich als Türstehern gearbeitet, als „Bouncer“ wie Sven. In Antwerpen bin ich bekannt wie ein bunter Hund, jeder kennt mich. Hier? Ist es schwer für mich, ich selber sein zu können. Und nur wegen meiner anderen Hautfarbe nicht gesehen, nicht respektiert zu werden. Aber Sven ist glücklich hier. Ich gehe mit ihm, wo immer er hingeht.“

 

Als Noemi müde vom Spielen kommt, hab ich die drei vor mir. Europa. 

 

Es ist lustig, den dreien zuzuhören, wie sie flämisch sprechen. Flämisch unter Griechen.

Vielleicht ist das der Kern von Europa: Menschen, die bereit sind, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Selbst und nicht irgendwem, einem Land, einem Staat, einer Firma, dafür die Verantwortung zu geben.

Heute in Griechenland (9): Heute am Strand in Agios Nikolaos.

Vor Wochen bin ich auf LEVJE von der Türkei aufgebrochen und über Marmaris, Rhodos nach Kreta gesegelt. Überrascht von den Ereignissen in Griechenland bin ich unmittelbar nach dem Referendum aus Deutschland zurückgekehrt zu meinem Schiff LEVJE im Hafen von Agios Nikolaos, um von hier zu berichten.

                       Weiterlesen bei: Heute in Griechenland, Teil 1. Hier.

                                                                              

Am Strand im Süden von Agios Nikolaos treffe ich Sven. Sven ist zuständig für die Vermietung der  Sonnenschirme und Sonnenliegen an diesem Strand.

Sven ist Ende 30 und Belgier. Er ist in Antwerpen geboren, zur Schule gegangen, hat dort eine Ausbildung gemacht und eine feste Anstellung beim Wasserwirtschaftsamt bekommen. „Ich hatte einen sicheren Job, verdiente gutes Geld, hatte ein Haus zwischen Antwerpen und Brüssel. Aber vor fünf Jahren hab’ ich gedacht: Das wird nix mit Europa. Und mit Belgien gehts bergab. Ich wollte weg aus Belgien.“ Es sind vor allem soziale Probleme und steigende Kriminalität, die ihm in seiner Heimat zu schaffen machten. Besonders, als er Vater wurde. Er deutet auf sein Kind, Noemi, die mit anderen Kindern 50 Meter weiter in den Wellen plantscht. „Das wäre in Belgien ganz unmöglich: Dort am Meer würde ich Noemi keine fünf Meter weit von mir weg gehen lassen. Ständig gibt es in Belgien Kidnapping, Entführung, Erpressung. Und Kindesmisshandlung. Es gibt viele Leute, die sich an Kindern vergehen in meinem Land. Ich wollte nicht, dass mein Kind dort aufwächst, obwohl Belgien meine Heimat ist.“ 
Antwerpen und vor allem Brüssel – woran liegt es, dass dort die Kriminalität so zunimmt? Sven meint, vor allem die Integration der dritten Einwanderer-Generation sei dort gescheitert. „Die erste Generation von Maghrebinern, die in den Nachkriegsjahren nach Belgien und auch nach Frankreich kam, die wollte ein besseres Leben und suchte einfach Arbeit. Die fanden sie in der Industrie. Und damit waren sie zufrieden. Die zweite Generation ist aus diesen Industriejobs rausgeflogen, als die Firmen wegrationalisiert wurden und die Fertigungsbetriebe schlossen oder abwanderten. Die dritte Generation, die Jungen, die haben gar nichts. Die hatten nie Arbeit. Keinen Job, nichts dergleichen. Sie hängen in den Banlieues herum, der Staat bezahlt sie als Arbeitslose – fürs Nichtstun. Keiner ermuntert sie, irgendwas zu machen. Keine Perspektive. Sie laufen durch die Fußgängerzone und verprügeln irgendjemand, nur so, weil es Ihnen eben mal Spaß macht. Die Polizei kämpft in Belgien einen aussichtslosen Kampf.“ 

Sven ist kein Weichei, sondern einer, der etwas wegstecken kann. Abends, nebenbei, hat er als Türsteher gearbeitet. Als „Bouncer“, wie er sagt, in Diskotheken und Clubs, weil es ihm Spaß machte. „Aber im letzten Jahr, da wurde es immer krimineller. Immer öfter war ich in Kämpfe verwickelt, geriet in Schlägereien. Drogenleute, Agro-Typen, Kleinkriminelle auf der Suche nach Zoff.“ Es wurde ihm zuviel. Nach zwei Griechenland-Urlauben beschloss er mit seiner Frau Sophie, die Zelte in Belgien abzubrechen, das Haus zu verkaufen und mit der damals zweijährigen Noemi nach Griechenland zu gehen. Bei Null anfangen. „Hier hab ich Noemi den ganzen Tag im Auge, sie spielt mit den anderen Kindern. Griechenland ist im Vergleich zu Belgien eine heile Welt. Mir gefällt es hier. Klar gibt es hier auch Probleme. Aber im Vergleich zu dem, was wir zuhause hatten, ist das Nichts.“ Ob er denn nicht Angst hätte, vor den Folgen eines Finanzcrashs in Griechenland? „Hier läuft doch alles. Mein Barometer, wie es den Leuten wirtschaftlich geht, heißt „IPhone – Ipad – NIKE“: Jeden Tag kommen Leute an den Strand, die alle drei Dinge besitzen, auch Griechen. Solange das so ist, mache ich mir keine Sorgen. Die Alten sitzen noch jeden Tag im Kafeneion. Nein, hier gehts noch gut.“ 

Die Leute mögen Sven, es macht Spaß, ihm zuzusehen, wie er mit den Menschen umgeht, auf seinem Strand herumwerkelt, ständig überall ist. Liegen geraderückt, Sand herunterklopft. Mal setzt er sich zu diesem Pärchen auf einen Schwatz. Mal zu den beiden älteren Damen, mal zu der einsamen Schönheit, die sich als russisches Model entpuppt und Sven bittet, doch ein paar Fotos von ihr zu machen. „Wenn Du als Türsteher nicht lernst, wie Du mit Frauen sprechen musst, lernst Du es nirgendwo.“ 

Sven ist seit vier Jahren in Griechenland. Er arbeitet hart, als Vermieter der Sonnenliegen steht er jeden Morgen um halb sieben auf und ist zeitig am Strand. Von Sonntag bis Sonntag. Sieben Tage die Woche. Von Mai bis Oktober, ohne einen Tag Pause. Jeden Tag vom frühen Morgen bis um 17 Uhr. Pünktlich um fünf, nachdem er seinen Strand aufgeräumt hat, geht Sven dann in den Laden in der Touristenzone, den seine Frau Sophie dort betreibt. „Noemi’s Shop“ haben sie ihn nach ihrer Tochter benannt. Dort löst Sven dann seine Frau ab, steht noch bis zehn Uhr Abends im Laden und verkauft. „Frauenklamotten und T-Shirts. War Sophie’s Idee. Das lief anfangs sehr gut, aber wir spüren die Krise, sie ist überall in Europa, die Leute schauen schon aufs Geld. Hinzu kommt, dass jetzt auch In Agios Nikolaos ein Hotel nach dem anderen auf „All-inclusive“ umstellt. Als wir vor vier Jahren öffneten, war es kein Thema: Leute kamen rein ‚das T-Shirt, und das, und das‘ und legten 40 Euro hin. Heute heißt es bei ‚3 für 2‘: Ich nehm’ doch lieber nur eins. Die Krise: sie ist in ganz Europa, das spüre ich bei unseren Kunden.“

Am nächsten Tag treffe ich Sven erst spät am Strand. Er ist wütend. Irgendein griechischer Bus hat sein Auto am Straßenrand beschädigt. Und ist einfach weitergefahren. „Ich war bei der Polizei. Ich mag Griechenland echt gerne, aber das ist die Schattenseite, wie sie mit den Sachen umgehen. Einfach weiterfahren. Dabei ist an dem Bus viel mehr beschädigt als bei mir: Der ganze hintere Blinker und das Bremslicht des Buses sind zertrümmert. Das merkt man doch.“ Die Polizei? Würde nichts unternehmen. „Das ist so leicht herauszubekommen, welcher Bus das war. Ruft einfach die paar Busgesellschaften von hier und von Heraklion an. Nach einer Stunde wisst ihr, wer es war. Wenn ihr es nicht tut, mach ich es. Ich kümmere mich selber darum.“ 

Noch wütender ist Sophie, Sven’s Frau. Von ihrem Vater ist aus dem Senegal hat sie die dunkle Hautfarbe, unter der es jetzt gerade kocht und brodelt. „Es ist nicht leicht hier“, sagt sie und schaut hinaus aufs Meer. „Sven ist hier glücklich. Trotz der anstrengenden Arbeit, den ganzen Tag in der Hitze und der Sonne. Aber für mich ist es schwierig. In Antwerpen hab ich toughe Sachen gemacht. Erst hab ich mit 18 Klempner gelernt. Das war nicht einfach, in so einem Männerberuf. Ich mochte mein Handwerk, die Arbeit, aber irgendwann hat es mich genervt, immer als Mädchen angemacht zu werden. Heute wüsste ich, wie ich mich zu wehren habe – damals hab ich nach ein paar Jahren aufgehört und begonnen, in Kneipen und Clubs im Service gearbeitet. Das war mir dann nach ein paar Jahren zu langweilig. Danach hab ich als Türstehern gearbeitet, als „Bouncer“ wie Sven. In Antwerpen bin ich bekannt wie ein bunter Hund, jeder kennt mich. Hier? Ist es schwer für mich, ich selber sein zu können. Und nur wegen meiner anderen Hautfarbe nicht gesehen, nicht respektiert zu werden. Aber Sven ist glücklich hier. Ich gehe mit ihm, wo immer er hingeht.“

Als Noemi müde vom Spielen kommt, hab ich die drei vor mir. Europa. 

Es ist lustig, den dreien zuzuhören, wie sie flämisch sprechen. Flämisch unter Griechen.

Vielleicht ist das der Kern von Europa: Menschen, die bereit sind, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Selbst und nicht irgendwem, einem Land, einem Staat, einer Firma, dafür die Verantwortung zu geben.


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Heute in Griechenland (8): Und wie gehts uns heute?

„Crisis? What Crisis?“ Donnerstag Nachmittag am Strand von Agios Nikolaos: Die Strände sind gut besucht, von Krise wenig zu spüren. Und das ist gut so.
Agios Nikolaos: Ein Ort zwischen Normalität und Anspannung.

 

Agios Nikolaos mitten im Juli: Auch in der zweiten Woche der Krise fühlt sich die Welt in Agios Nikolaos auf Kreta sehr normal an. Die Lebensmittelläden sind unverändert gut bestückt. Die Geldautomaten geben Geld aus. Die meisten Tavernen am Abend sind voll. Und die Strände tagsüber auch, siehe mein Foto vom gestrigen Nachmittag. Das Leben: es geht seinen Gang.
Ich merke: sitze ich hier auf LEVJE und lese die internationale Berichterstattung: werde ich wütend, baue Vorurteile auf. Gehe ich nach der Lektüre raus und gehe „nachsehen“, ob es denn mit meinen Ängsten so richtig ist: dann entdecke ich, wie wichtig das Aufeinander-Zugehen, das simple Miteinander-Reden ist, um Dampf aus der Debatte zu nehmen.
Vor wenigen Wochen überraschte mich mein Freund Andreas in Deutschland mit dem einfachen Imperativ: „Nur gelebte Solidarität ist echte Solidarität.“ Da ist was dran – quatschen kann jeder. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die meisten der Strandbesucher weniger aus altruistischen, sondern aus Bedürfnissen nach „endlich Urlaub“ hier sind und sich ihren Jahresurlaub nicht nehmen lassen: So trägt der unverändert stete Besucherstrom sehr zur Beruhigung der aufgewühlten Lage bei.
Das Leben, die Dinge: sie gehen ihren Gang.
Trotzdem: Wie sehen die Menschen hier in Agios Nikolaos die Beschlüsse, die am Montag Morgen in Brüssel vereinbart wurden? Vorgestern gab es eine Demonstration auf dem großen Platz in Agios Nikolaos: „Aber da waren nicht viele Leute“, sagt Mikhalis Farsaris, Vorstand der MARINA AGIOS NIKOLAOS. Mit ihm hatte ich vergangene Woche ein erstes Interview geführt.

Als ich ihn zu einem zweiten Gespräch oberhalb der Marina treffe, sprechen wir über die Reaktion auf Brüssel hier in Agios Nikolaos:

MIKHALIS FARSARIS: „Jetzt ist eine erhebliche Menge Testosteron im Raum – und das haben wir provoziert. Wir haben eine Menge Ärger heraufbeschworen, und auch eine unangemessene Reaktion von Seiten der anderen Europäer.“

MARE PIU: „Wie geht es denn jetzt weiter hier in Agios Nikolaos: Hat sich etwas verändert?

MIKHALIS FARSARIS: „Wir haben immer noch sehr gute Besucherzahlen, sowohl an den Stränden hier, als auch in der Marina. Es ist einfach in der schwierigen Phase schön zu sehen, dass die Berichterstattung der Massenmedien hier bislang keinen Schaden anrichtet. Immerhin kommen mehr als 50% des Bruttosozialprodukts von Kreta aus dem Tourismus.
Und Wir? Wir haben uns daran gewöhnt, einmal täglich an den Geldautomaten zu gehen und 60 Euro abzuheben. Die Lebensmittelläden sind bestückt wie vor der Krise. Soweit läuft alles. Aber: Unser Alltag ist von den Umständen nach wie vor stark eingeschränkt. Vor allem die Unsicherheit ist belastend: Wir wissen nicht genau – sollte es zum Schlimmsten kommen – wie wir ohne Währung, ohne Geld auskommen werden.
Wir wissen nicht, wie unsere Wirtschaft das aushält, keine Auslandsrechnung begleichen zu können. Bisher tun die Firmen das aus Reserven, die sie im Ausland aufgebaut haben. Aber irgendwann gehen auch die zur Neige.
Die Situation ist unverändert. Wir können einfach nur weitermachen.“

MARE PIU: „Was fürchten sie am meisten?“

MIKHALIS FARSARIS: „Mit den Ergebnissen von Brüssel kann niemand zufrieden sein. Aber: die Gefahr eines UNKOORDINIERTEN Grexit: die ist erstmal abgewendet. Und da standen wir letzte Woche unmittelbar davor. Das Problem ist: Selbst Island hatte ja zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs isländischer Banken einen Plan, wie es weitergehen sollte. Wir haben gar nichts dergleichen. Selbst wenn ein Grexit notwendig werden sollte: dann aber bitte mit Plan. Und koordiniert und mit Struktur und mit der Unterstützung unserer europäischen Partner.“

MARE PIU: „Und was denken Sie über die internationale Kritik an Wolfgang Schäuble?“

MIKHALIS FARSARIS: „Das war schon hart, als die Ergebnisse bekannt wurden. Aber noch einmal: Griechenland hat das provoziert. Und eigentlich denke ich wie die meisten anderen auch, die beim Referendum mit „Ja“ gestimmt hatten: ‚Wir sollten zuerst an unseren Problemen arbeiten. Und dann erst über die anderen urteilen‘.“

 

Am Donnerstag Nachmittag treffe ich den Arzt Dr. Aris Pagalis. Er praktiziert als HNO-Arzt und ist einer von etwa 50 Medizinern, die sich um die medizinische Versorgung von 28.000 Einwohnern im Bezirk Agios Nikolaos kümmern. Von Dr. Pagalis, der zugleich Präsident des örtlichen ROTEN KREUZES ist, will ich wissen, wie es um die Versorgung der Menschen steht. Aber der überrascht mich im Gespräch erstmal mit der Erkenntnis, dass es sich bei der bestehenden Krise auch um eine ökonomische, aber vor allem um eine WERTE-Krise in Europa handelt. „Wie konnte es dazu kommen?“, fragt Dr. Pagalis mich, der ich doch ihm mit einem Bündel an Fragen gegenübersitze und auf meine Fragen nach Antworten suche. „Das gute an der Krise“, stellt Dr. Pagalis fest“, ist: wir stehen in Griechenland am Abgrund. Visionen gab es so viele – dafür ist jetzt kein Platz mehr.“

Das ausführliche Interview mit Dr. Pagalis erscheint am Sonntag hier auf MARE PIU hier unter dem Titel: Heute in Griechenland (9). Was der Doktor sagt.

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Vom Autor von MARE PIU:

Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.
Mehr erfahren: Hier.

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Heute in Griechenland (8): Und wie gehts uns heute?

„Crisis? What Crisis?“ Donnerstag Nachmittag am Strand von Agios Nikolaos: Die Strände sind gut besucht, von Krise wenig zu spüren. Und das ist gut so.
Agios Nikolaos: Ein Ort zwischen Normalität und Anspannung.

Agios Nikolaos mitten im Juli: Auch in der zweiten Woche der Krise fühlt sich die Welt in Agios Nikolaos auf Kreta sehr normal an. Die Lebensmittelläden sind unverändert gut bestückt. Die Geldautomaten geben Geld aus. Die meisten Tavernen am Abend sind voll. Und die Strände tagsüber auch, siehe mein Foto vom gestrigen Nachmittag. Das Leben: es geht seinen Gang.
Ich merke: sitze ich hier auf LEVJE und lese die internationale Berichterstattung: werde ich wütend, baue Vorurteile auf. Gehe ich nach der Lektüre raus und gehe „nachsehen“, ob es denn mit meinen Ängsten so richtig ist: dann entdecke ich, wie wichtig das Aufeinander-Zugehen, das simple Miteinander-Reden ist, um Dampf aus der Debatte zu nehmen.
Vor wenigen Wochen überraschte mich mein Freund Andreas in Deutschland mit dem einfachen Imperativ: „Nur gelebte Solidarität ist echte Solidarität.“ Da ist was dran – quatschen kann jeder. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die meisten der Strandbesucher weniger aus altruistischen, sondern aus Bedürfnissen nach „endlich Urlaub“ hier sind und sich ihren Jahresurlaub nicht nehmen lassen: So trägt der unverändert stete Besucherstrom sehr zur Beruhigung der aufgewühlten Lage bei. 
Das Leben, die Dinge: sie gehen ihren Gang. 
Trotzdem: Wie sehen die Menschen hier in Agios Nikolaos die Beschlüsse, die am Montag Morgen in Brüssel vereinbart wurden? Vorgestern gab es eine Demonstration auf dem großen Platz in Agios Nikolaos: „Aber da waren nicht viele Leute“, sagt Mikhalis Farsaris, Vorstand der MARINA AGIOS NIKOLAOS. Mit ihm hatte ich vergangene Woche ein erstes Interview geführt. 

                                                               Weiterlesen bei: Warum der Unternehmer sagt… Hier.

Als ich ihn zu einem zweiten Gespräch oberhalb der Marina treffe, sprechen wir über die Reaktion auf Brüssel hier in Agios Nikolaos:

MIKHALIS FARSARIS: „Jetzt ist eine erhebliche Menge Testosteron im Raum – und das haben wir provoziert. Wir haben eine Menge Ärger heraufbeschworen, und auch eine unangemessene Reaktion von Seiten der anderen Europäer.“ 

MARE PIU: „Wie geht es denn jetzt weiter hier in Agios Nikolaos: Hat sich etwas verändert?

MIKHALIS FARSARIS: „Wir haben immer noch sehr gute Besucherzahlen, sowohl an den Stränden hier, als auch in der Marina. Es ist einfach in der schwierigen Phase schön zu sehen, dass die Berichterstattung der Massenmedien hier bislang keinen Schaden anrichtet. Immerhin kommen mehr als 50% des Bruttosozialprodukts von Kreta aus dem Tourismus.
Und Wir? Wir haben uns daran gewöhnt, einmal täglich an den Geldautomaten zu gehen und 60 Euro abzuheben. Die Lebensmittelläden sind bestückt wie vor der Krise. Soweit läuft alles. Aber: Unser Alltag ist von den Umständen nach wie vor stark eingeschränkt. Vor allem die Unsicherheit ist belastend: Wir wissen nicht genau – sollte es zum Schlimmsten kommen – wie wir ohne Währung, ohne Geld auskommen werden. 
Wir wissen nicht, wie unsere Wirtschaft das aushält, keine Auslandsrechnung begleichen zu können. Bisher tun die Firmen das aus Reserven, die sie im Ausland aufgebaut haben. Aber irgendwann gehen auch die zur Neige.
Die Situation ist unverändert. Wir können einfach nur weitermachen.“

MARE PIU: „Was fürchten sie am meisten?“

MIKHALIS FARSARIS: „Mit den Ergebnissen von Brüssel kann niemand zufrieden sein. Aber: die Gefahr eines UNKOORDINIERTEN Grexit: die ist erstmal abgewendet. Und da standen wir letzte Woche unmittelbar davor. Das Problem ist: Selbst Island hatte ja zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs isländischer Banken einen Plan, wie es weitergehen sollte. Wir haben gar nichts dergleichen. Selbst wenn ein Grexit notwendig werden sollte: dann aber bitte mit Plan. Und koordiniert und mit Struktur und mit der Unterstützung unserer europäischen Partner.“

MARE PIU: „Und was denken Sie über die internationale Kritik an Wolfgang Schäuble?“

MIKHALIS FARSARIS: „Das war schon hart, als die Ergebnisse bekannt wurden. Aber noch einmal: Griechenland hat das provoziert. Und eigentlich denke ich wie die meisten anderen auch, die beim Referendum mit „Ja“ gestimmt hatten: ‚Wir sollten zuerst an unseren Problemen arbeiten. Und dann erst über die anderen urteilen‘.“

Am Donnerstag Nachmittag treffe ich den Arzt Dr. Aris Pagalis. Er praktiziert als HNO-Arzt und ist einer von etwa 50 Medizinern, die sich um die medizinische Versorgung von 28.000 Einwohnern im Bezirk Agios Nikolaos kümmern. Von Dr. Pagalis, der zugleich Präsident des örtlichen ROTEN KREUZES ist, will ich wissen, wie es um die Versorgung der Menschen steht. Aber der überrascht mich im Gespräch erstmal mit der Erkenntnis, dass es sich bei der bestehenden Krise auch um eine ökonomische, aber vor allem um eine WERTE-Krise in Europa handelt. „Wie konnte es dazu kommen?“, fragt Dr. Pagalis mich, der ich doch ihm mit einem Bündel an Fragen gegenübersitze und auf meine Fragen nach Antworten suche. „Das gute an der Krise“, stellt Dr. Pagalis fest“, ist: wir stehen in Griechenland am Abgrund. Visionen gab es so viele – dafür ist jetzt kein Platz mehr.“

Das ausführliche Interview mit Dr. Pagalis erscheint am Sonntag hier auf MARE PIU hier unter dem Titel: Heute in Griechenland (9). Was der Doktor sagt.

                           Wer mehr über die MARINA AGIOS NIKOLAOS auf Kreta erfahren möchte, wo ich                        mit LEVJE derzeit liege: Hier klicken.
     
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Vom Autor von MARE PIU: 


Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.
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