Saint Nazaire. Im Bunker.
Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln.
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste
und Saint Nazaire an der Mündung der Loire.
Es ist Sonntag. Am Himmel über der Loire-Mündung zischen Jagdflugzeuge der französischen Luftwaffe im Tiefflug, drehen graziös in senkrechten Steigflug und malen als Rauchfahne die Farben der französischen Trikolore in den Himmel, bis sie im unermeßlichen Blau verschwunden sind. 50.000 Zuschauer säumen die Strände in der Bucht von Pornichet, wo ich mit Levje ankere. „Plein Vol“ heißt das Spektakel über dem Grande Plage, ein Amüsement für die ganze Familie, es beginnt am späten Nachmittag und endet kurz vor 22.00 Uhr.
Schon am frühen Morgen sind die Straßen gesperrt, Pornichet ist dicht. Männer in schwarzen Uniformen mit Maschinenpistolen bewachen jede Kreuzung. In den Hafen kommt niemand mehr rein und auch nicht raus. Die Anschläge von Paris und Nizza haben in Frankreich ihre Spuren hinterlassen.
Ich gehe schnellen Schrittes Richtung Bahnhof. Ich möchte nach Saint Nazaire zu den U-boot-Bunkern des II. Weltkriegs, mein Großvater war hier im Krieg, er hat vermutlich als einfacher Maurer an dem Bauwerk mitgearbeitet, ich möchte sehen, was er sah. Aber erstmal geht der Bus nicht. Ich lege die Strecke zum Bahnhof von Pornichet im Laufschritt zurück, für den TGV darf ich kein Ticket lösen, weil er ausverkauft ist. Ich steige dann doch ein, als ein freundlicher Kontrolleur mich trotzdem reinwinkt.
Saint Nazaire ist an diesem Sonntag wie ausgestorben. Ob französische Städte an Sonntag Vormittagen so sind? Oder fuhren die Einwohner Saint Nazaires nach Pornichet zum „Flieger kucken“. Ich irre durch die Stadt, kein Mensch weit und breit, am Hafen ein Dolmen, mit Graffiti beschmiert.
Als ich aus der Rue des Dolmen komme, liegt der Bunker vor mir am Meer. Alt und grau und böse, wie ein an diesem Ort verendetes Reptil, das es nicht mehr geschafft hat zurück ins Meer und wenige Meter davor einfach verendete. Monströs.
Monströs ist er allemal. Über drei Fußballfelder lang und eines breit. Kirchturmhoch. Um ihn zu bauen, wurden fast 500.000 Kubikmeter Beton an Ort und Stelle gerührt und vergossen. Fast 26 Millionen prall gefüllte Mörteleimer. Zeitweise arbeiteten bis zu 4.000 Arbeiter an dem Bau: Angehörige der Organisation Todt wie mein Großvater, die im Frieden Autobahnen und im Krieg Bunker bauten. Zwangsarbeiter. Franzosen, die als Freiwillige auf der Baustelle mitarbeiteten. Sie arbeiteten rund um die Uhr in zwei 12-Stunden-Schichten, von 7 bis 7. Der Bunker wurde in nicht einmal 18 Monaten fertig. Er wurde gebaut, um U-Boote zu warten, zu reparieren. Und um sie auszurüsten, bevor sie hinausfuhren, um britische und amerikanische Schiffe zu versenken.
Ich schließe mich einer Führung durch das Gebäude an. Unser Guide heißt Sebastien, er ist Ende 20, ein blonder Mann, offenes Gesicht und leises Lächeln, er könnte Norweger sein, doch er spricht jenes wunderschöne bilderreiche Französisch, das lässt keine Zweifel aufkommen.
Ob es denn wahr wäre, dass die Resistance dafür gesorgt hätte, das Bauwerk zu schwächen, indem man ungeeignetes Material dem Zement hinzugefügt hätte, möchte ein älterer Herr wissen. Davon sei ihm nichts bekannt, antwortet Sebastien höflich. Er spricht meist von „Les Allemands“, den Deutschen, die das beim Bau so oder so gemacht hätten. Tatsächlich komme ich angesichts von 500.000 Kubikmetern Beton und den zahllos in den Beton gelegten daumendicken Stahlarmierungen ins Grübeln, ob denn das tatsächlich alles „Les Allemands“ aus Deutschland herangekarrt und hier verbaut haben. In einem früheren Hafen in Royan las ich in einem französischen Buch, dass an den 8.119 Bunkern des Atlantikwalls über 3.000 französische Firmen mitgearbeitet hätten. Ob das stimmt? Doch gern gehört wird so etwas in Frankreich immer noch nicht. Allenthalben findet man Dokus über „La Resistance“. Doch offen über die französische Gesellschaft und deren Beteiligung am Krieg scheint man in Frankreich immer noch nicht zu sprechen, das Bild von „La Libération“, mit der ein vom Besatzern unterdrücktes Gemeinwesen „befreit“ wurde, bestimmt die Sicht. Und für die, die „Kollaborierten“, stehen Leute, die man unmittelbar nach dem Krieg dafür erschoss, öffentlich demütigte oder gerichtlich aburteilte. Erledigt also.
Sebastien erzählt derweil. Von „Les Allemands“. Von „Les Ü-Botts“. Von „Les Torpilles“, den Torpedos, die wie die gesamte Ausrüstung mit Güterzügen direkt in die Halle und an die U-Boote herangekarrt wurden. Eine perfekte Maschinerie, in der alles untergebracht war. Von der Brotbäckerei für die U-Bootbesatzungen bis zur Krankenabteilung zur Erstversorgung Verwundeter.
Auch Sebastien kommt nicht umhin, von dem Gigantismus der Maschinerie und der Monstrosität des Gebäudes fasziniert zu sein. Und steckt auch seine Zuhörer an. Die dreieinhalb Meter dicken Stahlbetondecken waren so stark, dass alliierte Bombardements ihnen nichts anhaben konnten. Selbst als mit den Kriegseintritt der USA plötzlich 5-Tonnen-Bomben auf das Dach abgeworfen wurden, konnten die dem Gebäude nichts anhaben. Dauerbombardements machten dem Bunker selbst nichts aus – die Stadt und ihre Zivilbevölkerung gingen im alliierten Bombenhagel unter – genauso wie in Brest, in La Rochelle, in Lorient, in Royan. In fast jedem der Orte, die ich besucht hatte.
Die alten Poller, an denen die U-Boote vertäut waren, rosten im Beton vor sich. Als die U-Boote, die rausfuhren, nicht mehr zurückkamen, weil sie draussen versenkt wurden, als sich das Blatt wendete mit der Landung der Alliierten, wurde der Bunker zur Festung. Er war eine Kleinstadt, in der die Besatzer geschützt waren – bis zur Kapitulation, während die Zivilbevölkerung weiter unter den Angriffen litt.
Die 70 Jahre alten deutschen Inschriften verblassen. Hier und dort ein Kürzel, „3. U-Fl.“ für die 3. U-Boot-Flottilie, die hier keine 3 Jahre beheimatet war. Sebastien erzählt, wie das mit dem Bunker weiterging. Daß man nach dem Krieg versuchte, das Gebäude zu sprengen. Doch das ging nicht – wie die Bomben vorher versagte der Sprengstoff. Oder er hätte die Stadt im Wiederaufbau in Mitleidenschaft gezogen. Dass man nicht wusste, was man mit dem Gebäude anfangen sollte. Es für die eigenen U-Boote nutzen? Es als Werft, als Lager, als Fabrik einsetzen? Von allem etwas. Doch die Hauptfrage war: Welche Rolle sollte denn nach dem Wiederaufbau der Stadt das Monstrum mitten in ihrem Zentrum spielen? Saint Nazaire entschied sich in den 90igern für eine eigenwillige Lösung: Der Bunker war nun mal Bestandteil der Stadt und ihrer Geschichte. Er sollte jetzt auch sichtbar ins neue städtebauliche Konzept integriert werden. Als Ort von gleich drei Museen. Als Ausstellungsfläche. Als Kunstobjekt und Heimat für Cafes und Bistros und Events.
Ein guter Ansatz. Die Museen sind entstanden. Und zeigen Saint Nazaire in bestem Licht. Der Flughafen Berlin Tempelhof hat der Stadt symbolisch einen ausgedienten Radar-Dom geschenkt. „Le Radom“ steht heute auf dem Dach des Bunkers und ist Tempel für moderne Kunst.
Doch ganz geglückt scheint mir der schwierige Versuch der Integration ins Stadtbild nicht. Saint Nazaire ist an diesem Sonntag wie ausgestorben. Auch der Bunker liegt verlassen, bis auf die Spaziergänger, die die Aussicht vom Dach genießen – und das kleine Häuflein, das sich um den blonden jungen Mann mit Namen Sebastien schart. Es ist nun mal nicht so einfach, „alt und grau und böse“ in dieser Monstrosität im Bild einer Stadt zu integrieren.
Noch schwerer ist es, es im Gedächtnis zu halten. Als Franzose. Aber auch als Deutscher.