Überfahrt II: Von Italien nach Sizilien. Vom Stiefel nach Syrakus.
Es dämmert draußen. Im Aufwachen sehe ich, wie die Dunkelheit draußen in milchiges Grau übergeht. LEVJE wiegt sich sanft in irgendeiner Welle. Ich halte die Uhr vor meine Augen. Viertel nach fünf. Das Boot eines Fischers, das knapp hinter LEVJE aus dem Hafen hinaus aufs Meer tuckert.
Es war spät geworden gestern, kurz nach elf, bis ich eine der wenigen Marinas an der Sohle des italienischen Stiefels erreicht hatte, Roccella Ionica. Ich war im Dunkel bis vor die Hafeneinfahrt gefahren. Hatte langsam drei Kreise gedreht. Und dann meinen Anker fallen lassen. Motor aus. Stille. Noch ein Bier. Dann ab ins Bett.
Jetzt im Grau des Morgens kann ich mehr erkennen, wo ich bin. Ich hatte meinen Anker genau vor dem langen Strand neben dem Hafen fallen lassen. Rechts der Hafen, mit den noch schlafenden Masten. Hinter mir die Mole, hinter der jetzt gerade die Sonne aufgeht. Links das offene Meer. Zeit aufzubrechen. Nach Sizilien.
Zwei Stunden später. Es ist windstill. Wir laufen unter Motor die Küste Kalabriens entlang. Es ist eine einsame Küste, ewig langer unentdeckter Sandstrand, kein Tourismus. Auch ein Platz, um tagelang aufs Wasser zu schauen. Und Frieden zu finden.
Gegen Mittag macht die Küste am Kap Spartivento einen Bogen von Südwesten nach Westen. Ich habe fast die Stiefelspitze erreicht, folge nun nicht weiter der Küste, sondern gehe hinaus in die Weite, ziele auf den weitest entfernten Ort auf Sizilien, nach Siracusa im Südosten der Insel, um nur ja eine lange, lange Überfahrt zu haben. Allein auf dem Meer. Für 170 Kilometer.
Wie lange braucht eigentlich eine Küste, bis sie hinter uns zu Schemen verblasst? Eine halbe Stunde? Eine? Zwei? Nein. Es dauert dreieinhalb Stunden, bis Kalabrien hinter mir verschwunden ist. Und ich fast nur noch von Wasser umgeben bin. Fast. Denn irgendwo weit rechts, hoch in den Wolken, ragt ein schwarzer Zipfel aus den Wolkenspitzen heraus. Der Gipfel des Ätna, der an dieser Stelle von Null auf über 3.000 Meter ansteigt und fast ein Zehntel der Fläche Siziliens für sich beansprucht.
Ich lasse ihn einfach rechts liegen. Und steuere hinaus in die Weite, wo ich nichts anderes mehr finde als unermessliche Weite und Geborgenheit in diesem fremden Element. Sie kann einen süchtig machen machen, diese Weite. Und die Geborgenheit dazu. Es ist fast windstill, keine fünf Knoten Wind von vorn. Das Glitzern auf dem Wasser., als wäre es ein Abbild des Sternhimmels. Das Rauschen links und rechts von LEVJE, die mit monotonem Brummen einfach immer weiter ins Nichts steuert. Ich bin noch nicht weit weg vom Land. Und doch habe ich das Gefühl, in die Weite eines fremden, unerforschten Kontinents hineinzusteuern, in dem die Regeln andere sind. So ganz andere als am Land.
Für einen Moment denke ich an München, die Stadt, in deren Nähe ich immer lebte. An die Lindwurmstraße, an den drängenden Verkehr, an das „Tu dies. Erledige das“, das über allem liegt. Von meinem Cutter, von Felix, der den Schnitt meines ANTALYA-Films besorgte, lernte ich das Wort „pushy“. „Ich war so pushy drauf“, sagte Felix einmal. Ob er mir recht geben würde, dass es die Stadt an sich ist, die „pushy“ drauf ist?
Ich sehe in der Seekarte nach. Das Meer ist an dieser Stelle 2.000 Meter tief. Weite also nicht nur nach links und rechts, so weit mein Auge reicht. Sondern auch nach unten. Jetzt, wo ich draußen bin, erscheint mir das Meer so unermesslich weit, dass mir selbst dies Europa von meinem augenblicklichen Standpunkt aus klein und winzig vorkommt, samt aller seiner Pracht und seinen Sorgen.
Vielleicht ist es das, was die Geborgenheit ausmacht. Nichts mehr, was bedrängt in diesem Augenblick. Nichts was drängelt. Nichts, was sagt: „Tu dies. Tu das.“ Das Meer ist einfach da, nur für sich und gänzlich desinteressiert an mir, wie es immer ist. Es nimmt keine Kenntnis von mir. Ist einfach nur unendlich weit. Und weil es so weit ist und ich in dieser Weite nur eines erkenne: Wie klein ich eigentlich bin; drum habe ich genau hier, mitten im Nichts, meinen Ort und Halt gefunden.
Es ist später Nachmittag, halb fünf. Eben habe ich auf die Tankuhr geschaut, beiläufig, und festgestellt, dass der Diesel im Tank zur Neige geht. Tankuhren sind tückisch. Sie brauchen lang, bis der Zeiger von voll auf ein halb zurück geht. Das war Vorgestern. Also dachte ich, alles ok. Und nun steht der Zeiger plötzlich auf „ein Achtel.“ Noch sechs Stunden übers offene Meer bis Siracusa.
Ich nehme meine Logbuch zur Hand und rechne nach. Eigentlich müssten ja noch dreißig Liter im Tank sein. Aber so genau weiß man das nicht. Weil ich es jetzt aber genau wissen muss, will ich nicht plötzlich mit stotterndem Motor in der Weite der Straße von Messina liegenbleiben, hole ich mir Werkzeug. Und gehe nach Achtern in meine Kammer, die sich über die Breite des Schiffes zieht. Unter meinem Bett ist neben dem 170 Liter Wassertank auch der 210-Liter Dieseltank. Ich nehme den Schraubenschlüssel, drehe in Windeseile die sieben Muttern der tortengroßen Insepktionsluke auf, und leuchte mit der Taschenlamp nach unten, ins Dunkel des Tanks. Tatsächlich. Da schwappen nur noch 3-5 Liter. Und keine dreißig. Das reicht noch für zwei, drei Stunden. Nicht mehr.
Ich denke nach. Es wäre nict schlimm, wenn der Motor ausgeht. Ein leises Lüftchen weht, fünf Knoten. Ich bräuchte 30 Stunden für die 50 Seemeilen bis Siracusa. Eigentlich kein Problem. Doch dann fällt mir ein, dass ich irgendwo noch einen 15-Liter-Kannister stehen habe. Tatsächlich. Er reicht für 10 Stunden. Ich hole das schwere Teil aus der Backskiste, hangle es nach oben, balanciere hinten auf den Treppenstufen von LEVJE herum, das Boot unvermindert weiterläuft., und fülle Diesel in die schmale Tanköffnung. Alles wieder gut.
Es ist die Weite, die mich glücklich macht. Diese unendliche Weite, die mich doch eigentlich ängstigen müsste, weil ich allein bin hier draußen und im Umkreis von 100, 150 Kilometern gerade niemand ist, der mir helfen könnte.
Vor wenigen Tagen starb Gudrun Calligaro, die in den Achziger Jahren mit 45 auf einem neun-Meter Boot die Erde umrundete. Und dabei nur sieben Mal das Bedürfnis hatte, an Land anzulegen. Sie war die erste, die in ihrem Buch EIN TRAUM WIRD WAHR über die Schönheit der Weite berichtete.
Es ist 18 Uhr. 12 Stunden nach meinem Aufbruch taucht vor mir das Land auf im Dunst. Noch dreieinhalb Stunden, dann bin ich da. Nein, es sind die Überfahrten wie diese und die vorangegangene über den Golf von Tarent, die den ungeheuren Reiz ausmachen.