Galiziens wilde Küsten: Santiago de Compostela. Am Ende eines langen Weges.
Seit Mitte Mai bin ich in von Sizilien aus unterwegs, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln.
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal bin ich im Moment an der nordspanischen Küste
in A Coruna. Keine Zugstunde entfernt liegt Santiago de Compostela –
für die, die ankommen, Ziel und Ende eines langen Weges.
Eines haben alle gemeinsam, wie weit und aus welchen Motiven sie immer hierher zu Fuß gingen: Wenn sie ankommen, sind sie erschöpft. Erschöpft und glücklich, es bis hierher geschafft zu haben. Glücklich, das Ziel, das sie sich selber setzten, erreicht zu haben.
An diesem Sonntag Nachmittag sind es Hunderte, die vor der Kathedrale des Heiligen Jakob eintreffen, nach wochenlanger Wanderung einander erst in die Arme und wenig später zu Boden sinken. Es herrscht Ausgelassenheit. Freude. Erschöpfung. Erleichterung. Es fühlt sich bunt an, und nach Happening, auf dem Platz vor der Kathedrale.
Wenige Schritte neben mir ist Jean-Francois auf das warme Steinpflaster des Kathedralenplatzes gesunken und betrachtet frohgemut die heruntergelaufene Sohle seines rechten Trekkingschuhs. 1.550 Kilometer ist er in knapp zehn Wochen hierher gelaufen. Allein am heutigen Tag waren es 38 Kilometer. Auch er ist erschöpft. Aber nicht wirklich. Wenn Neuankömmlinge ihn bitten, doch von ihnen das obligate Ankunfts-Selfie mit der Kathedrale im Hintergrund zu schießen, ist er schneller auf den Beinen als ich.
Jean-Francois ist aus Quebeq. Und den Weg geht er nun schon zum 4. Mal. Was ihm so eine Reise bringt, frage ich Jean-Francois. „Das eine ist: Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Für mich. Und für jede meiner Entscheidungen. In jeder Minute, die ich auf dem Weg unterwegs bin. Ich bin nicht mehr ferngesteuert hier von irgendeinem ‚Sei um 8 hier. Erledige das‘. Ich bin verantwortlich für das, was geschieht.
Das andere ist: Selbstvertrauen. Vor allem das. Ich weiß mittlerweile, ich schaffe das. Und wenn ich es will, dann schaff ich es wieder.“
Über seine Antwort bin ich erstaunt. Sie unterscheidet sich in nichts von dem, was ich antworten würde, wenn mich jemand fragte, was mir denn sechs Monate Segeln um Europa brächte. Ist meine Reise eine Pilgerschaft? Bin ich ein Pilger wie Jean-Francois?
„Ich brauche nicht viel zum Leben. Na klar: Hin und wieder ein Flugzeug. Irland. Kroatien. Wenn ich als Kanadier Schengen-Land für kurze Zeit verlassen muss. Aber sonst: Ich brauche nicht viel.“
Alles an ihm sieht professionell aus. Und wenig derangiert, wie man nach 1.550 Kilometern erwarten könnte. Sauberes Hemd. Gepflegte Hände. Ein Mann, der Hochschul-Lehrer sein könnte, wache kleine Augen hinter der Hornbrille. Wen er denn auf seiner Reise getroffen hätte, frage ich ihn.
„Man trifft vier Gruppen von Menschen. Da sind zum einen die christlichen Pilger. Die gibt es nach wie vor. Und dann sind da Leute, die den Weg aus spirituellen Gründen gehen. Egal, ob sie eine Auszeit suchen oder einfach nach Selbsterfahrung.
Die dritte Gruppe sind Leute, die das aus rein sportlichen Gründen machen. ‚Kilometer Laufleistung‘ zählt – und von den christlichen Pilgern sondern sie sich strikt ab, mit denen wollen sie nichts zu tun haben.
Und dann gibt es da noch eine vierte Gruppe. Leute, die das rein aus touristischen Gründen machen. Eine Wallfahrt ist eigentlich die günstigste Art von Reise, die man unternehmen kann. Übernachten für 6 Euro. Mittag- und Abendessen für 3 Euro. Man trifft gerade diese letzte Gruppe immer häufiger an. Aber vielleicht war die Wallfahrt ja immer so. Der Weg war immer derselbe. Die Gründe, ihn zu gehen, waren doch immer ganz unterschiedliche. Da ist sich der Jakobsweg in den 1.200 Jahren seiner Geschichte treu geblieben.“
Und er, der den Weg nun schon zum vierten Mal gegangen ist?
„Ich mag die Landschaft. Ich mag die Stimmung. Ich kann allein gehen, wenn ich es mag. Oder mit Menschen reden. Santiago selber hat für mich mittlerweile keine Bedeutung mehr. Hier aber haben alle nur eben dieses eine Ziel: Und das ist Santiago de Compostela. Ich bin auch schon in Japan den Shikoku-Pilgerweg gewandert, mit seinen 88 Schreinen. Da ist es anders. Jeder einzelne Schrein ist das Ziel. Es gibt kein übergeordnetes Ziel. Jeder der Orte auf dem Weg ist zugleich das Ziel.“
Wieder frage ich mich, ob Jean-Francois und mich nicht mehr verbindet, als ich denke. Ob nicht nur er, der Katholik aus Quebeq ein Pilger ist.
Jean-Francois ist kein strenger Katholik. Er schätzt die Traditionen, er schätzt den Wert der Riten. Sie sind wichtig. Doch auch er hat auf seinen Reisen seine Erfahrungen mit der Religion gemacht.
„Der Katholizismus ist nicht nur in Spanien ist streng. Ich habe erlebt, dass Leute auf dem Jakobsweg eher ausgeschlossen wurden: ‚Du bist nicht katholisch. Du darfst am Abendmal nicht teilnehmen‘. Der Buddhismus, wie ich ihn auf dem japanischen Pilgerweg erlebte, ist da offener. Auf dem Shikoku-Weg lassen Japaner auch einen Nicht-Buddhisten an jeder Zeremonie teilnehmen. Sie leiten ihn sogar während der Zeremonie an.“
Wir plaudern, während wir auf den warmen Steinen sitzen. Dann ist es Zeit für uns zu gehen. Mein Weg führt zurück zum Zug. Jean Francois möchte noch weiter, der Jakobsweg ist in Santiago de Compostela noch nicht zu Ende. Er will noch weiter nach Muxia, bis zur Kirche auf den Klippen, vor denen ich im Nebel ankerte.
Nicht vergessen werde ich, wie Jean-Francois sich verabschiedete. „Bis bald“, sagt er mit heiterer Gewissheit, „Wir sehen uns wieder.“ Er sagt das nicht als Floskel. Sondern so, als blieben wir durch unser Gespräch, unsere Begegnung für immer verbunden.