Monat: August 2018

Galiziens wilde Küsten: Santiago de Compostela. Am Ende eines langen Weges.

Seit Mitte Mai bin ich in von Sizilien aus unterwegs, um einhand 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal bin ich im Moment an der nordspanischen Küste 
in A Coruna. Keine Zugstunde entfernt liegt Santiago de Compostela –
für die, die ankommen, Ziel und Ende eines langen Weges.

Eines haben alle gemeinsam, wie weit und aus welchen Motiven sie immer hierher zu Fuß gingen: Wenn sie ankommen, sind sie erschöpft. Erschöpft und glücklich, es bis hierher geschafft zu haben. Glücklich, das Ziel, das sie sich selber setzten, erreicht zu haben.

An diesem Sonntag Nachmittag sind es Hunderte, die vor der Kathedrale des Heiligen Jakob eintreffen, nach wochenlanger Wanderung einander erst in die Arme und wenig später zu Boden sinken. Es herrscht Ausgelassenheit. Freude. Erschöpfung. Erleichterung. Es fühlt sich bunt an, und nach Happening, auf dem Platz vor der Kathedrale.

Wenige Schritte neben mir ist Jean-Francois auf das warme Steinpflaster des Kathedralenplatzes gesunken und betrachtet frohgemut die heruntergelaufene Sohle seines rechten Trekkingschuhs. 1.550 Kilometer ist er in knapp zehn Wochen hierher gelaufen. Allein am heutigen Tag waren es 38 Kilometer. Auch er ist erschöpft. Aber nicht wirklich. Wenn Neuankömmlinge ihn bitten, doch von ihnen das obligate Ankunfts-Selfie mit der Kathedrale im Hintergrund zu schießen, ist er schneller auf den Beinen als ich.

Jean-Francois ist aus Quebeq. Und den Weg geht er nun schon zum 4. Mal. Was ihm so eine Reise bringt, frage ich Jean-Francois. „Das eine ist: Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Für mich. Und für jede meiner Entscheidungen. In jeder Minute, die ich auf dem Weg unterwegs bin. Ich bin nicht mehr ferngesteuert hier von irgendeinem ‚Sei um 8 hier. Erledige das‘. Ich bin verantwortlich für das, was geschieht.
Das andere ist: Selbstvertrauen. Vor allem das. Ich weiß mittlerweile, ich schaffe das. Und wenn ich es will, dann schaff ich es wieder.“

Über seine Antwort bin ich erstaunt. Sie unterscheidet sich in nichts von dem, was ich antworten würde, wenn mich jemand fragte, was mir denn sechs Monate Segeln um Europa brächte. Ist meine Reise eine Pilgerschaft? Bin ich ein Pilger wie Jean-Francois?

„Ich brauche nicht viel zum Leben. Na klar: Hin und wieder ein Flugzeug. Irland. Kroatien. Wenn ich als Kanadier Schengen-Land für kurze Zeit verlassen muss. Aber sonst: Ich brauche nicht viel.“

Alles an ihm sieht professionell aus. Und wenig derangiert, wie man nach 1.550 Kilometern erwarten könnte. Sauberes Hemd. Gepflegte Hände. Ein Mann, der Hochschul-Lehrer sein könnte, wache kleine Augen hinter der Hornbrille. Wen er denn auf seiner Reise getroffen hätte, frage ich ihn.

„Man trifft vier Gruppen von Menschen. Da sind zum einen die christlichen Pilger. Die gibt es nach wie vor. Und dann sind da Leute, die den Weg aus spirituellen Gründen gehen. Egal, ob sie eine Auszeit suchen oder einfach nach Selbsterfahrung.

Die dritte Gruppe sind Leute, die das aus rein sportlichen Gründen machen. ‚Kilometer Laufleistung‘ zählt – und von den christlichen Pilgern sondern sie sich strikt ab, mit denen wollen sie nichts zu tun haben.

Und dann gibt es da noch eine vierte Gruppe. Leute, die das rein aus touristischen Gründen machen. Eine Wallfahrt ist eigentlich die günstigste Art von Reise, die man unternehmen kann. Übernachten für 6 Euro. Mittag- und Abendessen für 3 Euro. Man trifft gerade diese letzte Gruppe immer häufiger an. Aber vielleicht war die Wallfahrt ja immer so. Der Weg war immer derselbe. Die Gründe, ihn zu gehen, waren doch immer ganz unterschiedliche. Da ist sich der Jakobsweg in den 1.200 Jahren seiner Geschichte treu geblieben.“

Und er, der den Weg nun schon zum vierten Mal gegangen ist?

„Ich mag die Landschaft. Ich mag die Stimmung. Ich kann allein gehen, wenn ich es mag. Oder mit Menschen reden. Santiago selber hat für mich mittlerweile keine Bedeutung mehr. Hier aber haben alle nur eben dieses eine Ziel: Und das ist Santiago de Compostela. Ich bin auch schon in Japan den Shikoku-Pilgerweg gewandert, mit seinen 88 Schreinen. Da ist es anders. Jeder einzelne Schrein ist das Ziel. Es gibt kein übergeordnetes Ziel. Jeder der Orte auf dem Weg ist zugleich das Ziel.“

Wieder frage ich mich, ob Jean-Francois und mich nicht mehr verbindet, als ich denke. Ob nicht nur er, der Katholik aus Quebeq ein Pilger ist.

Jean-Francois ist kein strenger Katholik. Er schätzt die Traditionen, er schätzt den Wert der Riten. Sie sind wichtig. Doch auch er hat auf seinen Reisen seine Erfahrungen mit der Religion gemacht.
„Der Katholizismus ist nicht nur in Spanien ist streng. Ich habe erlebt, dass Leute auf dem Jakobsweg eher ausgeschlossen wurden: ‚Du bist nicht katholisch. Du darfst am Abendmal nicht teilnehmen‘. Der Buddhismus, wie ich ihn auf dem japanischen Pilgerweg erlebte, ist da offener. Auf dem Shikoku-Weg lassen Japaner auch einen Nicht-Buddhisten an jeder Zeremonie teilnehmen. Sie leiten ihn sogar während der Zeremonie an.“

Wir plaudern, während wir auf den warmen Steinen sitzen. Dann ist es Zeit für uns zu gehen. Mein Weg führt zurück zum Zug. Jean Francois möchte noch weiter, der Jakobsweg ist in Santiago de Compostela noch nicht zu Ende. Er will noch weiter nach Muxia, bis zur Kirche auf den Klippen, vor denen ich im Nebel ankerte.

Nicht vergessen werde ich, wie Jean-Francois sich verabschiedete. „Bis bald“, sagt er mit heiterer Gewissheit, „Wir sehen uns wieder.“ Er sagt das nicht als Floskel. Sondern so, als blieben wir durch unser Gespräch, unsere Begegnung für immer verbunden.

Cuicocha – eine Kraterwanderung

So.,22.Jul.18, Ecuador/Otavalo, Tag 1513, 13.337 sm von HH

Vierzehn Kilometer Wanderung. Sechshundert Meter Aufstieg. Vierhundert Meter Abstieg. Auf einer Höhe von 3.500 Metern. Das stinkt nach Ciudad Perdida-dem höllischen Tag zwei.
Wir riskieren es trotzdem. Zählt diese Wanderung doch zu den schönsten Ecuadors. Und trainiert haben wir ja schließlich auch.

Der schlimmste Anstieg von vierhundert Metern kommt gleich am Anfang. Der ist überlebbar. Die Wege sind gut, wo es sehr steil ist, sind Treppen gebaut. Schmale Sandwege ohne Stein- und Wurzelfallen. Der Blick auf die beiden Inseln, etliche Meter unter uns, ist herrlich. Wie Grießklöße in einem Kirschsuppen-Teller schwimmen die Inseln in der blauen Lagune.

Cuicocha-Lagune mit den zwei Inseln

Cuicocha-Lagune mit den zwei Inseln

Orchideen säumen den Weg, Bromelien sitzen auf den letzten verbliebenen Bäumen. Und dann das Pampas-Gras. Unverschämt grinst es jedem Hobby-Gärtner ins Gesicht. Welcher Gartenbesitzer und Gräser-Freund hätte noch nicht versucht, sich diese Zicken unter den Gräsern in den heimischen Beeten anzupflanzen? Vergeblich versucht. Spätestens nach dem zweiten Winter hat man nur noch Matschpampe statt anmutiger Wedel. Hier ist es anders. 10, 100, 1000, unendliche Pampasgras-Wedel wachsen in den Himmel.

Pampas-Gras

Orchideen

Orchideen

Pampas-Gras

Die Wege sind einfach zu laufen

Die Wege sind einfach zu laufen

Sechseinhalb Stunden brauchen wir für die ‚kleine‘ Wanderung. Fit, wie wir Cockpit-Sitz-Schlaffies inzwischen sind, benötigen wir nur 30 Minuten mehr als der Wanderführer verspricht. Na, geht doch.
Allerdings hat Achim mich bis zur Hälfte ganz schön gescheucht.
Um 15:00 Uhr wartet ein verabredetes Taxi auf uns. Typisch deutsch wollen wir da ja wohl nicht zu spät kommen. Unser Hostal hat den Fahrer gleich für fünf Gäste organisiert. Mit uns fahren noch ein Spanisches Pärchen und eine Tschechin, so dass wir uns die 25 USD für Hin-Und Rückweg teilen können. Praktisch. Zu Beginn der Tour waren die direkt nach fünf Minuten verschwunden. Komisch, immer sind alle sind schneller als ich. :roll:
Mit der ‚Ciudad Perdida‘ ist das hier aber nicht zu vergleichen. Da habe ich meine ganze Kraft für die schlechten Wege verbraucht und konnte einfach nicht mehr. Diese Wanderung ist unschwierig, nur braucht es ab und an ein Päuschen zum Luftschnappen.

Der Anfang beißt in der Lunge - 400 Meter höher auf 3500

Der Anfang beißt in der Lunge – 400 Meter höher auf 3500

Immer am Kraterrand entlang

Immer am Kraterrand entlang

Der eigentliche Vulkan, der Cotacachi, überragt seine Lagune noch um 1.500 Meter. Vor uns hüllt er sich heute schüchtern in Wolken. Der Cotacachi ist einer der ersten Berge in den Anden, der seinen Gletscher verloren hat.
Die Legenden der Indigenas berichten, dass der Vulkan Imbambura und der Cotacachi ein Liebespaar seien. Wenn morgens Schnee auf dem Gipfel des Cotacachi lag, hatte Mama Cotacachi nachts Besuch von Imbabura. Die ältere Bevölkerung sieht in dem Verlust des Gletschers eine Bestrafung von Mama Cotacachi. Die jungen Leute sehen darin die Folge der Erderwärmung.

Ein paar Bäume wurden noch übrig gelassen

Ein paar Bäume wurden noch übrig gelassen

Schöne Lagune im Naturschutzgebiet Cotacachi

Schöne Lagune im Naturschutzgebiet Cotacachi

Ankerplätze melden mit Gewinnspiel

ADAC Kapitäne gewinnen doppelt: Clubmitglieder und Inhaber des IBS vom ADAC können seit Juli im neuen Skipper-Portal Ankerplätze melden – damit können wertvolle Erfahrungen und Geheimtipps mit Gleichgesinnten ausgetauscht werden. Unter allen veröffentlichten Beiträgen werden nützliche Gewinne zum Ankern verlost.
Mit dem Dighi von Ankerplatz an den Traumstrand der Costa de Rei auf Sardinien.Ankerplatz melden und einen von vielen wertvollen Preisen gewinnen.

Ob mit der Motoryacht vor Sardinien, mit dem Hausboot auf der Müritz oder mit der Segelyacht auf der Ostsee – für viele Skipper und Crews ist die Nacht vor Anker die Krönung eines jeden Törns.

Was Freizeitkapitäne über mehrere Wochen im Jahr an Ankerplätzen erkunden, ist eine nützliche Ergänzung zu den Hafenbeschreibungen der geschulten ADAC Marina-Inspekteure und setzt dort an, wo klassische Hafenhandbücher aufhören.

ADAC Mitglieder und Inhaber des Internationalen Bootsscheins (IBS) vom ADAC haben seit Juli die Möglichkeit, Ankerplätze zu melden und dabei Gleichgesinnten wichtige Hinweise zur Ansteuerung, zum Ankergrund zu nautischen Besonderheiten sowie zur Infrastruktur an Land zu geben. Gleichzeitig profitieren Clubmitglieder dabei von den Tipps und Erfahrungen fremder Bootsmannschaften.

Die Meldung erfolgt über ein Online-Formular, dieses kann bei entsprechender Zoomstufe auch bequem durch einen Klick in die Seekarte aufgerufen werden. Jeder bis Mitte September gemeldete und freigegebene Ankerplatz nimmt an der Verlosung toller Gewinne zum Ankern teil!

Zu gewinnen gibt es einen 1000€-Gutschein für eine Charter über die ADAC Yachtcharter-Suche, so können auch künftig Traumbuchten erkundet werden. Zweimal jeweils eine Free 100 von Secumar (Wert jeweils 109€), damit sind Schwimm- und Stand-Up-Paddling-Aktivitäten am Ankerplatz noch sicherer. Ein GPS 73 von Garmin zur digitalen Ankerwache (Wert 179€).

Für die Teilnahme am Gewinnspiel einfach im Ankerplatz-Meldeformular die Teilnahmebedingungen und Datenschutzhinweise akzeptieren, dabei stellt jeder freigegebene Ankerplatz ein Gewinnlos dar – viel melden erhöht also die Gewinnchancen!

 

Galiziens wilde Küsten. A Coruna. Der Strand. Und die Austern.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus unterwegs, 
um einhand für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas 
bis in die Bretagne zu segeln. 
Fast bis Ende Juli war ich in Portugal unterwegs, bevor ich Spaniens Nordküste erreichte.

Es ist der Zeitpunkt gekommen, mich heute zu outen mit einer finsteren Leidenschaft, die manchem meiner Leser übel aufstossen wird und die selbst meine liebe Frau, die geduldig Mucken wie mich und meine halbjährliche Abwesenheiten erträgt, verständnislos dreinschauen lässt. Ich esse gerne Austern.

Wie mit jeder Unart, tue ich das meistens heimlich. Und irgendwo. Wo mich niemand kennt. Es ist keineswegs so, dass ich mich dafür schämen würde. Austern sind in den Augen der meisten Menschen nun mal was anderes als Bratkartoffeln. Austern polarisieren. Sie lassen niemanden gleichgültig. Die einen lieben sie. Den anderen sind sie pures Luxus-Geschlabber, den dritten sind sie nur letzteres. Bei meiner Frau und meinen Freund Josef, beide sonst Freunde guter Lebensart, sind Austern nach jeweils heftigen Salmonellen-Vergiftungen vor vier Jahrzehnten der blanke Schrecken. Also tue ich, was ich tue, meistens heimlich. Und esse halt Austern, wenn gerade niemand dabei ist. Eigentlich esse ich Austern nur, weil ich dabei an einen Menschen und seine Geschichte denken will, so wie jedem von uns bei einem bestimmten Gericht ein ganz bestimmter Mensch und eine Begebenheit dazu einfällt. Meine Geschichte von dem Mann mit dem Austern trage ich seit Jahren mit mir herum. Doch eine gute Geschichte will erzählt werden. Also heute: Austern. In Coruna.

Auf meinen Wanderungen zum Torre de Hercules, der am anderen Ende der Stadt liegt und über den ich gestern schrieb, lernte ich Coruna kennen. Ich stolperte in die schönsten Ecken der Stadt: Von den weißen Erkern und Veranden der Häuser rund um die Marina, denen man in Coruna wieder und wieder begegnet, bis zum Sandstrand auf dem Foto ganz oben, der sich einsam und doch wie ein Kleinod unmittelbar vor der Stadt erstreckt. Denn welche Großstadt – Coruna hat immerhin eine Viertelmillion Einwohner – kann schon von sich behaupten, sie hätte unmittelbar am Stadtzentrum einen derart prächtigen und Sandstrand wie die Playa de Riazor – die noch dazu an der Stelle liegt, die das alte Coruna auf seiner Insel über Jahrhunderte mit dem Festland verband.

Und dann entzückten mich noch manch andere Gebäude in Coruna, über deren Äußeres man streiten mag, aber deren Baukörper so harmonisch in die Rundung über der Bucht gesetzt war, dass es eine Freude war. Wenige Schritte von dem Gebäude oben liegt in einem abgelegenen Winkel, fast zwischen Mietskasernen und Feuerwehrhaus, eines der besten Fischrestaurants Corunas, die A PEIXARIA . Sie sah einfach aus von außen, und wie ein Ort, an den man seine Gäste schon mit besonderer Küche und nicht mal eben mit simplem Meerblick überzeugen und bei der Stange halten musste. Weils drinnen laut war, nahm ich draußen Platz, saß allein, neben mir nur ein paar jugendliche Schlemmer, die ihre wenigen Kröten für ein gutes Abendessen zu dritt mit Freunden zusammengekratzt hatten.

Auf der Speisekarte: 15 Fischgerichte. 5 Vorspeisen. Austern darunter. Ich überlegte. Erwog den Wochentag, denn Montags würde ich keinen Fisch essen, weil die Fischer ja zum Wochenende nie auf dem Meer wären und es eigentlich erst frühestens ab Dienstag fangfrischen Fisch gäbe. Erwog die alte Regel mit den Monaten ohne „r“, in denen man keine Muscheln essen sollte. Aber mein Münchner Fisch- und Muschelhändler, der – was Austern angeht – meine finstere Leidenschaft teilt, hatte diese Regel längst auf den Sperrmüll antiquierter Meinungen geworfen, weil sie aus Zeiten stammen würde, in denen Kühlung und Transportwege längst noch nicht so kontrolliert und  organisiert waren wie heute. Nach Hin und Her im Kopf wagte ich mich an meine Bestellung. Als Vorspeise: Zwei Austern. Ein leichter Weißwein dazu. Hurra.

Was dann kam, verblüffte mich. Nicht nur, dass die Muscheln für den Sommer ungewöhnlich fett waren und nicht mager, weil Muscheln wie Menschen in der Hitze eben nicht viel zu sich nehmen mögen, nein: Sie stammten auch hier aus der Gegend, ein paar Kilometer nördlich von Coruna. Und waren in einer leichten Vinaigrette mit einer Kugel Vanilleeis angerichtet, das leicht in der kalten Austernschale schmolz. Ich machte mich etwas zögerlich an die Arbeit. Vanilleeis mit Auster in Vinaigrette? Aber der Geschmack war der Hammer. Der intensive Geschmack des kalten Meeres, den die Auster in sich trug, mit der zarten salzigen Säure der Vinaigrette und der schmelzenden Vanillesüße der Eiskugel hinterher. Das war ein ungeahntes Erlebnis.

Jetzt ging alles ganz schnell: Die zweite Auster war schneller vom Teller, als mir lieb war. Ich winkte dem Kellner, es war mir etwas unangenehm, ob er mit dem Hauptgang noch warten könne. Ich würde noch gerne von den Austern nehmen…

Ich dachte dabei an Claude Lanzmann, den vor wenigen Wochen verstorbenen Regisseur des legendären Films SHOA, voller Respekt. Und einem seiner Austern-Gelage, bei dem er und seine zwei Mitstreiter an einem Abend 60 Austern verspeist hatten. Und ich dachte an den Mann aus dem Dorf in Oberbayern, in dem ich aufgewachsen war, und wegen dem ich eigentlich überhaupt hier saß. Und Austern aß.

Er war Landarzt gewesen, in meinem Dorf. Und „Jahrgang ’20“. Grob. Schroff. Doch hinter der Grobheit seines kantigen Äußeren eine ungeheure Menge Empathie verborgen, als wolle sie geschützt sein wie ein Neugeborenes. Aber das sagte mir damals noch nichts, als ich zum ersten Mal mit 14 in der kleinen Praxis am Bahnhof mit einem Dorn in der Ferse saß. Er beugte seinen kahlen Schädel in dem zu eng sitzenden Arztkittel über meine Ferse und besah sich die Sache. Griff nach hinten, wo in einer Petrischale ein Skalpell wartete. „Wollen Sie die Stelle nicht vorher betäuben?“ fragte meine Mutter, deren Griff an meiner Schulter schlagartig fest wurde. Der Kahlkopf blickte kurz auf. „Aah baaaah“, hörte ich ihn sagen. Und dann stach auch schon das Skalpell blitzschnell in meine schmerzende Ferse, ehe ich überhaupt wusste, was er da tat. Ich machte einen Satz Richtung Decke, vor plötzlichem Schmerz, vor Überraschung, zum Umfallen bleich und doch zu bleich, um wütend zu sein, was der Doktor da mit mir machte.

Doch die grobe Kur des Doktors zeigte Wirkung. Sie war die Richtige gewesen. Zwei Tage später konnte ich wieder normal laufen – der Dorn war rausgespült, alles war gut. Ich dachte an den Doktor mit gemischten Gefühlen. Er hatte gewusst, was er da tat, kein Zweifel. Und hatte mir geholfen. Aber ob ich das so noch mal brauchte?

Jahre später. Ich war längst aus dem Dorf, das eine Kleinstadt geworden war, weggezogen. Da erzählte mir meine Mutter vom Doktor. Dass er vielen auf seine einfache, kantige Art geholfen hatte und nur bei einer Sorte Patienten wirklich grob wurde: Wenn sie weinerlich waren. Dass er selbst an Leukämie erkrankt war und die Krankheit ihn innerhalb eines Viertel Jahres dahingerafft hatte. Aber noch ans Krankenbett, noch in der Krankheit, in der ihm niemand helfen konnte, hatte er sich von seiner Frau erbeten, ihm einmal wöchentlich ein, zwei frische Austern zu bringen, die er so sehr liebte. Der Geruch des kalten Meeres…

Aber damit endet die Geschichte vom Doktor und den Austern noch nicht. „Jahrgang ’20“. Er war, wie mein Schwiegervater, 1920 geboren. Einer von denen wie mein Schwiegervater, die als  Medizinstudenten im 3. Semester sich plötzlich an irgendeiner Front in einem Zelt wiederfanden, um sich über die zerschossenen und zerfetzten Leiber Gleichaltriger zu beugen und sie irgendwie wieder zusammenzuflicken. Um ihnen zu helfen. Mit wenig mehr zur Hand als einem Skalpell und Nadel und Faden. Einer von denen, die lebenslang die Frage mit sich herumtrugen, warum ausgerechnet sie als einer von drei des Jahrgangs ’20 das Gemetzel überlebt hatten. Und die anderen zwei nicht.

Zum „Jahrgang ’20“ gehörte es, niemals über diese Frage zu sprechen. Und niemals über das Grauen, das ihre Augen gesehen hatten. Und es doch niemals zu vergessen. Der Doktor, der in der Gemeinde ein geachteter Mann war, hatte vor seinem Tod zum Kopfschütteln aller verfügt, dass er nicht in einem Sarg bestattet werden wollte. Sondern in einer einfachen Kiste aus Birkenbrettern. So wie diejenigen, so sagte er es, denen er nicht hatte helfen können, die man einfach verscharrt hatte, irgendwo.

Durch die anbrechende Dunkelheit schlenderte ich zurück in den Hafen von Coruna. Ich denke gelegentlich an den Doktor. Vielleicht esse ich ja auch die Austern nur, damit ich ihn nicht vergesse. Es gibt schlechtere Gründe, Austern zu essen, als die Erinnerung an einen Menschen zu bewahren. Ich weiß, ich werde auf meiner Reise in die Bretagne sicher noch öfter Austern essen. Und an den Doktor denken. Und seine Geschichte.