Monat: September 2015

Die vergessenen Inseln: Spetses. Und der Heilige der kleinen Boote.

Wir sind in Spetses, etwas östlich des Peloponnes, und mit einem Schlag ist hier alles anders: Noch vor wenigen Tagen, am Wochenende, war es voll auf Spetses. Doch nun ist der August passé, und mit ihm die „Ferie Augusti“, der italienische „Ferragosto“; und die Bewohner der Mittelmeerstädte sind heimgekehrt. Es ist ruhiger, auf der Hafenmole von Spetses. Oder nicht?

Tatsächlich haben sich die Bewohner von Spetses heute nur in einem anderen Winkel versammelt, bei der Kirche des heiligen Mamas. Sie steht genau am Meer, ein kleines Kirchlein, in dem von der Decke Schiffsmodelle hängen, ein Kirchlein, einmal im Jahr: Im Mittelpunkt. Es ist die Nacht von Mamas, des Heiligen, der gut zu den Kindern ist. Und deshalb gedenken die Kinder und mit ihnen die Einwohner von Spetses heute des Heiligen in ganz besonderer Weise. Die Kinder bauen in den Tagen vor dem Fest Schiffe mit Lichtern darauf, und heute, am Festtag des Heiligen, zünden sie auf ihren Schiffen die Kerzen an. Und setzen sie vor der Kirche des Heiligen aufs Meer.

Schon weit vor der Kirche von Mamas ist die Hafenmole voller Menschen und verstopft. Die Fiaker, die sonst ihre Kutschen im Trab lässig über die Hafenmole treiben, haben Mühe, ihre Pferde durchs Gedrängel zu bringen. Vor der Kirche: Eine Messe, Gesänge, Litaneien der beiden Priester, diesmal nicht schwarzen Soutanen, sondern in weißen Gewändern. Alte Frauen auf Klappstühlen drumherum. Kinder, die aufgeregt hin und her rennen und vor allem ihre verschiedenen Schiffe ans Meer bringen: Kleine, aus Papier, mit einem Teelicht drin. Autoreifengroße, aus Obstkisten gefertigt. Manche aus halben Kürbissen herausgeschält, eine Kerze bringt sie innen rot zum Leuchten. Manche groß wie eine Männerhand, aus Strohhalmen und Binsen zusammengebunden. Andere aus Broten herausgeschält, ausgehöhlte Sesam-Baguettes, die im Inneren von Kerzen erleuchtet nun aufs Meer hinausstreben. Wieder andere Pyramiden mit hängenden Lichtern. Oder Modelle der Kirche. Rahsegler, manche gleich mit 10 Teelichtern drauf.

Den langen Abend lang bringen Kinder immer neue Schiffe. Manche bekommen nach wenigen Sekunden Schlagseite und versinken zischend. Andere werden von den Wellen an der Mauer zusammengetrieben, ein unentwirrbarer Knäuel voller Kerzenlichter, der in einer Ecke im Strudel wogt. Andere schaffen es hinaus aufs Meer, weit hinaus in die Bucht. Wo sie plötzlich Feuer fangen, ein aufloderndes Lagerfeuer im leichten Abendwind plötzlich mitten auf dem Meer, ein Jauchzen der Kinder, Eltern, die neue Schiffe bringen, große grüne, drei kleine, herzförmige, jede mit einem Licht und alle drei mit einem Faden verbunden. Und den Namen der Kinder darauf. Ein kleines, von innen heraus rot leuchtendes, das über dem Kies auf dem Meeresgrund Fahrt aufnimmt und langsam in die Bucht treibt. Immer neue Boote in allen erdenklichen Formen, als plötzlich ein Feuerwerk über dem Strand losbricht, laut knallend zerspritzen aufsteigende Sterne und stieben, hundert Kometen gleich, über den Himmel über der Bucht. Kaum angefangen, endet das laute Spektakel auch gleich, sekundenlang noch Pulverdampf, der reglos über die Bucht zieht, in der hundert kleine Lichter in den Wellen schaukeln.

Und Mamas, der Heilige? Es gibt verschiedene Legenden über ihn – aber alle führen in den Osten. Er gehörte wohl in die Welle der ersten Christenverfolgung, Mitte des 3. Jahrhunderts. Geboren im Gefängnis des römischen Gangra, heute türkisch Cankiri, weil seine Eltern Christen waren. Sein Vater, der ihn nie sah, weil ermordet, bevor Mamas zur Welt kam. Mit 15 ebenfalls Christ, gefangengenommen, gefoltert, später schwer verletzt und auf der Flucht gestorben. Einer, der den wilden Tieren predigte. Eine andere Geschichte erzählt, wie er einmal, von Häschern zum Gerichtssaal geführt, einem Löwen begegnete, der ein Schaf jagte. Mamas rief den Löwen zu sich – und ritt auf dessen Rücken zum Richter, das Schaf in seinen Armen haltend. Weshalb Mamas auch heute noch auf Ikonen zu erkennen ist als der Heilige, der auf einem Löwen reitet.

Vielleicht ist das so: Jedes Meer hat seine Heiligen. Die Bretagne, Irland, das nordspanische Galizien – und die vergessenen Inseln haben ihre. Es sind eigene Traditionen, Geschichten, die mit Schiffen und Seefahrern, Kriegern und Kreuzrittern, Pilgern und Priestern, Verschleppten und Verprengten irgendwie, den großen Strömungen auf dem Meer gleich, die Heiligen samt ihrer Geschichte von Ost nach West trugen. Und niemand, wirklich niemand kann sagen, wann ein Heiliger wie Mamas denn nun wo zum ersten Mal an Land kam. Und Menschen ihm und keinem anderen im französischen Langres oder in St Mamès oder in Finningen bei Neu-Ulm eine Kirche weihten.

_________________________________________________________________________________

Vom Autor von MARE PIU:

Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.

Mehr erfahren: Hier.