Kategorie: Mare Più

Unterwegs auf der Adria: Cres und das Geheimnis der Kapellen (I). Die steinernen Gesichter.

Gepostet auf der Insel Vis.

Nichts ist anders in Cres, dem Städtchen auf der gleichnamigen Insel, wie es vor sieben Jahren war. Alles ist, wie es immer war. Cres ist Ort der einfachen Sommerfreuden. Und die haben sich in sieben Jahren nicht verändert. Die Radfahrer, die vom Strand kommen, radeln vorsichtig immer noch auf dem ein Meter schmalen Streifen ums Hafenbecken. Die Restaurants rund um den kleinen Hafen haben immer noch dieselben tiefblauen Markisen – wer weiß, wer der verdienstvolle Mensch war, der in einem luziden Moment in der ungeschriebenen Geschichte dieser Stadt dafür sorgte, genau jenes tiefblauen Stoff zu verwenden, der heute das Bild um den alten Hafen prägt. Tiefblaue dunkle Markisen seit eh und je, auf denen die Namen der Restaurantsprangen. BUFFET REGATTA. PIZZERIA PALADA. HAMBI. NONO FRANE. BUFFET MARITTIMO. Nur der Mann mit dem kleinen Stand an der Hausmauer, der mir einst mein erstes Paar Croqs verkaufte, handelt heute nicht mehr mit Croqs. Sondern mit strohenen Hüten für Touristen. Man muss mit der Zeit gehen.

Ich ankere mit LEVJE, wo ich immer ankerte, auf Reede vor dem kleinen Kloster. Hier liegt man geschützt vor der Bora, die die nächsten Tage wehen soll. Auch hier beim Kloster hat sich nichts geändert. Eigentlich ankere ich ja hier nur wegen der Klosterglocken. Und weil ich nachsehen wollte, ob in der dickleibigen Wand des Klosterbaus mit den vielen Fenstern immer noch jeden Abend nur in einem einzigen Fenster das Licht angeht. Das im dritten Fenster von links im oberen Stockwerk. 

Und tatsächlich: Als wie jeden Abend um halb neun die Glocke des Klosters läutet. Und ihren dünnen Gesang über die Bucht schickt. Und es kaum dämmert: Geht auch schon das Licht im dritten Fenster des oberen Stockwerks an. Das Fenster steht offen. Der Vorhang bauscht sich leicht im Wind. Der Schein einer einfachen Lampe schimmert dazwischen.

Was wohl für ein Mensch in diesem Zimmer lebt? Ich stelle mir vor: Es wäre eine junge Frau. Sie arbeitet in der Küche des Klosters. Und jetzt, nachdem sie die drei letzten, steinalten Schwestern des Benediktinerinnen-Klosters versorgt hat, zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück. Weil es ein Kloster ist, sieht sie nicht fern. Wozu auch?

Cres, das einst venezianisch, dann französisch, dann österreichisch und noch kein Jahrhundert kroatisch ist, war und ist ein gläubiger Ort. Die Messe am Samstag Abend im Kloster ist gut besucht. „An irgend ebbes muaß ma glooba“, antwortete meine schwäbische Großmutter, als ich sie einst naseweis fragte, wozu sie denn an Gott glaubte. Von derlei Pragmatismus scheinen auch die Bewohner des Städtchens Cres beseelt zu sein. Der Weg vom Kloster in die Stadt führt an mindestens drei Kapellen vorbei, sie liegen nicht weit voneinander entfernt. Kleine, unscheinbare Bauten am Wegrand. Manche kaum gepflegt. Andere verfallen. Eine Kette vergessener Orte, die sich zwischen der Stadt und dem Kloster hinzieht, bis dort, wo auf dem Weg zur Marina die Plattenbauten aus der sozialistischen Zeit stehen. So oft ich in Cres war, sah ich mir jede einzelne der Kapellen an. Ich entdeckte im Schlußstein des Torbogens das pausbäckige, schieläugige Engelsgesicht oben, von denen es manche in Cres gibt. Ich habe sie wieder und wieder fotografiert, die steinernen Gesichter von Cres. Und manchmal, wenn ich nachts auf See in einer einsamen Bucht schlief, träumte ich von ihnen. Das heißt was. Denn eigentlich träume ich nie.

Sie gaben mir Rätsel auf, die pausbäckigen Engelsgesichter mit den auseinander stehenden Augen. Hatte der Künstler in den auseinander stehenden Augen das engelsgleiche symbolisiert? Was bedeuteten sie? Sie waren so markant. Sie waren in manchen Häusern in den Torbögen verbaut. Und sie steckten, die markanten Gesichter, auf den vier Seiten der Pfarrkirche, auf jeder Seite zwei. Man sieht sie, wenn man vor dem Kirchturm steht. Und den Kopf in den Nacken legt, ganz oben. Ich stelle mir vor: Irgendein Künstler, der hier lebte, muss sie geschaffen haben. 

Jahre später traf ich die Gesichter wieder. 600 Seemeilen, über 1.100 Kilometer von Cres entfernt. Ich war auf LEVJE über Korfu in die Türkei gesegelt. Ich stieß in einem kleinen Museum in Athen auf weitere Köpfe. Wie diesen: 

 Da waren sie plötzlich wieder – genauso, als wären sie vom selben Künstler. Oder aus derselben Schule. „Mourionia“ nannte der Museumstext sie. Oder „Gargoyles“. Wasserspeier. Stilisierte Gesichter, die von den Schlusssteinen von Gebäuden von der Insel Korfu stammten.  Und vielleicht im 17. Jahrhundert geschaffen worden waren.

Cres?
Korfu??
Was haben denn die beiden fast 500 Seemeilen auseinanderliegenden Inseln miteinander gemein, außer dass sie beide an der Ostseite der Adria liegen?

Das 17. Jahrhundert. Auf einer anderen Insel, die ebenfalls auf dieser Wegstrecke liegt, auf der Insel Levkas, stieß ich auf eine Antwort. Und die wiederum führt nach Kreta, ins 17. Jahrhundert:

Vielleicht war der Künstler – oder sie –  unter den vielen Venezianern, die auf Kreta heimisch geworden waren. Und unter jenen, die die Insel flohen, als Candia, das heutige Herklion, nach vierzigjähriger Belagerung in die Hände der Türken fiel. Es waren im Kreta dieser Jahre neben denen, die nicht unter türkischer Herrschaft leben mochten, vor allem die Intellektuellen und Künstler, die in Candia ihre Heimat verloren. Maler. Buchdrucker. Kupferstecher. Steinmetze. Candia führte zu einem Exodus. Und die Künstler und Kunsthandwerker, die aus ihrer Heimat Kreta geflohen waren: sie ließen sich überall entlang der langen Route nieder zwischen Kreta und Venedig. In Lefkas. In Korfu. In Sibenik. Und auch in Cres.

Vielleicht. Vielleicht hat hier ein Mensch – oder mehrere – eine sichtbare Spur seines Lebens hinterlassen. Von Insel. Zu Insel.

Unterwegs auf der Adria: Cres und das Geheimnis der Kapellen (II).

Gepostet auf der Insel Vis.


Wenn man den Weg vom Kloster in Cres, vor dem ich ankerte, zur Stadt geht, kommt man an drei Kapellen vorbei. Vielleicht ist es ein lauer Abend, so wie der heutige, an dem ich die von Jasmin und Oliven gesäumte Straße vom Kloster in die Stadt wandere. Und kaum, dass ich den Ort verlassen habe, reizt es mich, noch einmal herauszufinden: Ob sich denn in diesem Cres nun wirklich nichts geändert hat. Vor Jahren hatte ich, weinschwer, in der Dunkelheit die namenlose Kapelle entdeckt, die dort steht, wo sich der Weg aus der Stadt mit der Straße zum Kloster kreuzt. Von Neugier getrieben, wich ich ein paar Schritte vom Weg ab. Und lugte in der Dunkelheit mit Hilfe durch eine kleine Öffnung in der Tür ins Innere der Kapelle. 

Im Dunkel der Kapelle sah ich erst nichts. Dann erkannte ich im Schein meiner Taschenlampe den Körper einer antiken Amphore. Verstaubt. Verkrustet. Von Kalk-Adern überzogen, als wären sie lange im Meer gelegen. Mit einem Zettel mit einer handgeschriebenen Zahl an ihrem Hals. Erst eine. 

Dann sah ich noch eine. Und noch eine. Der kleine Kirchenraum war gesteckt voll mit Amphoren. Selbst vor und hinter dem verfallenden hölzernen Altartisch Amphoren, selbst auf ihm. Im Dunkel des Raumes kindergroße bauchige Tonbehälter aus der Antike. Eine Fracht aus einer längst untergegangenen Welt. Eine Amphore neben der anderen stehend, sich stützend, haltend, als wären sie nirgendwo anders als im Rumpf eines antiken Handelsschiffes. Nur stehen sie jetzt in der Kapelle, überkrustet von Ablagerungen, kalkübersät, narbig. Eine Handvoll von ihnen hat man, weil der Platz nicht reichte, sogar auf dem Altartisch gestapelt. Sie liegen überall. Der verfallende Raum ist voll von ihnen. Als hätte ein Händler vor 2000 Jahren sie hier, genau hier abgestellt, mit einem Zettel an der Tür: „Komme gleich wieder.“ Und wäre dann verschwunden, wie Merlin, der Zauberer, in der Weite von Zeit und Welt.

Ich habe sie jedes Mal besucht, wenn ich in Cres war, die Kapelle mit den Amphoren. Es war ein Ort, der in seiner Vergessenheit beständig war in einer schwankenden Welt. Das Geheimnis der Amphoren? Ich bin ihm nie nachgegangen. 

Sie liegen immer noch in der kleinen Kapelle, die Amphoren. Ich sah sie. Nur diesmal: ging ich ins kleine Museum von Cres. Es sind nur zwei Räume. Es kostet 10 Kuna, 1,50 Euro Eintritt. Im Unteren der beiden Räume fand ich drei Handvoll der Amphoren wieder. 

Ich fragte den Mann am Eingang nach den Amphoren in der Kapelle. Ja, die hier gezeigten seien auch welche aus der Kapelle. Es wäre ein griechisches Schiff gewesen mit einer Ladung voller Wein, das man draußen vor Kap Pernat gefunden hätte. Es wäre vor 2.500 Jahren draußen gesunken. Zerschellt am Kap Pernat, der Einfahrt in die Bucht von Cres.

Drinnen oder außen vor dem Kap?, frage ich. Draussen, sagt der Mann. „Sie haben es also gerade nicht geschafft, im aufziehenden Sturm in die Bucht. Und dann in den Hafen.“ Der Mann nickt. Er ist aus Cres. Er weiß, wie es sein kann, wenn plötzlich die Wolken von Nordosten aufziehen. Und innerhalb weniger Minuten die Bora mit sechs Windstärken weht. So wie an einem Tag vor zweieinhalb Tausend Jahren.

Unterwegs auf der Adria: Cres und das Geheimnis der Kapellen (I). Die steinernen Gesichter.

Gepostet auf der Insel Vis.

Nichts ist anders in Cres, dem Städtchen auf der gleichnamigen Insel, wie es vor sieben Jahren war. Alles ist, wie es immer war. Cres ist Ort der einfachen Sommerfreuden. Und die haben sich in sieben Jahren nicht verändert. Die Radfahrer, die vom Strand kommen, radeln vorsichtig immer noch auf dem ein Meter schmalen Streifen ums Hafenbecken. Die Restaurants rund um den kleinen Hafen haben immer noch dieselben tiefblauen Markisen – wer weiß, wer der verdienstvolle Mensch war, der in einem luziden Moment in der ungeschriebenen Geschichte dieser Stadt dafür sorgte, genau jenes tiefblauen Stoff zu verwenden, der heute das Bild um den alten Hafen prägt. Tiefblaue dunkle Markisen seit eh und je, auf denen die Namen der Restaurantsprangen. BUFFET REGATTA. PIZZERIA PALADA. HAMBI. NONO FRANE. BUFFET MARITTIMO. Nur der Mann mit dem kleinen Stand an der Hausmauer, der mir einst mein erstes Paar Croqs verkaufte, handelt heute nicht mehr mit Croqs. Sondern mit strohenen Hüten für Touristen. Man muss mit der Zeit gehen.

Ich ankere mit LEVJE, wo ich immer ankerte, auf Reede vor dem kleinen Kloster. Hier liegt man geschützt vor der Bora, die die nächsten Tage wehen soll. Auch hier beim Kloster hat sich nichts geändert. Eigentlich ankere ich ja hier nur wegen der Klosterglocken. Und weil ich nachsehen wollte, ob in der dickleibigen Wand des Klosterbaus mit den vielen Fenstern immer noch jeden Abend nur in einem einzigen Fenster das Licht angeht. Das im dritten Fenster von links im oberen Stockwerk. 

Und tatsächlich: Als wie jeden Abend um halb neun die Glocke des Klosters läutet. Und ihren dünnen Gesang über die Bucht schickt. Und es kaum dämmert: Geht auch schon das Licht im dritten Fenster des oberen Stockwerks an. Das Fenster steht offen. Der Vorhang bauscht sich leicht im Wind. Der Schein einer einfachen Lampe schimmert dazwischen.

Was wohl für ein Mensch in diesem Zimmer lebt? Ich stelle mir vor: Es wäre eine junge Frau. Sie arbeitet in der Küche des Klosters. Und jetzt, nachdem sie die drei letzten, steinalten Schwestern des Benediktinerinnen-Klosters versorgt hat, zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück. Weil es ein Kloster ist, sieht sie nicht fern. Wozu auch?

Cres, das einst venezianisch, dann französisch, dann österreichisch und noch kein Jahrhundert kroatisch ist, war und ist ein gläubiger Ort. Die Messe am Samstag Abend im Kloster ist gut besucht. „An irgend ebbes muaß ma glooba“, antwortete meine schwäbische Großmutter, als ich sie einst naseweis fragte, wozu sie denn an Gott glaubte. Von derlei Pragmatismus scheinen auch die Bewohner des Städtchens Cres beseelt zu sein. Der Weg vom Kloster in die Stadt führt an mindestens drei Kapellen vorbei, sie liegen nicht weit voneinander entfernt. Kleine, unscheinbare Bauten am Wegrand. Manche kaum gepflegt. Andere verfallen. Eine Kette vergessener Orte, die sich zwischen der Stadt und dem Kloster hinzieht, bis dort, wo auf dem Weg zur Marina die Plattenbauten aus der sozialistischen Zeit stehen. So oft ich in Cres war, sah ich mir jede einzelne der Kapellen an. Ich entdeckte im Schlußstein des Torbogens das pausbäckige, schieläugige Engelsgesicht oben, von denen es manche in Cres gibt. Ich habe sie wieder und wieder fotografiert, die steinernen Gesichter von Cres. Und manchmal, wenn ich nachts auf See in einer einsamen Bucht schlief, träumte ich von ihnen. Das heißt was. Denn eigentlich träume ich nie.

Sie gaben mir Rätsel auf, die pausbäckigen Engelsgesichter mit den auseinander stehenden Augen. Hatte der Künstler in den auseinander stehenden Augen das engelsgleiche symbolisiert? Was bedeuteten sie? Sie waren so markant. Sie waren in manchen Häusern in den Torbögen verbaut. Und sie steckten, die markanten Gesichter, auf den vier Seiten der Pfarrkirche, auf jeder Seite zwei. Man sieht sie, wenn man vor dem Kirchturm steht. Und den Kopf in den Nacken legt, ganz oben. Ich stelle mir vor: Irgendein Künstler, der hier lebte, muss sie geschaffen haben. 

Jahre später traf ich die Gesichter wieder. 600 Seemeilen, über 1.100 Kilometer von Cres entfernt. Ich war auf LEVJE über Korfu in die Türkei gesegelt. Ich stieß in einem kleinen Museum in Athen auf weitere Köpfe. Wie diesen: 

 Da waren sie plötzlich wieder – genauso, als wären sie vom selben Künstler. Oder aus derselben Schule. „Mourionia“ nannte der Museumstext sie. Oder „Gargoyles“. Wasserspeier. Stilisierte Gesichter, die von den Schlusssteinen von Gebäuden von der Insel Korfu stammten.  Und vielleicht im 17. Jahrhundert geschaffen worden waren.

Cres?
Korfu??
Was haben denn die beiden fast 500 Seemeilen auseinanderliegenden Inseln miteinander gemein, außer dass sie beide an der Ostseite der Adria liegen?

Das 17. Jahrhundert. Auf einer anderen Insel, die ebenfalls auf dieser Wegstrecke liegt, auf der Insel Levkas, stieß ich auf eine Antwort. Und die wiederum führt nach Kreta, ins 17. Jahrhundert:

Vielleicht war der Künstler – oder sie –  unter den vielen Venezianern, die auf Kreta heimisch geworden waren. Und unter jenen, die die Insel flohen, als Candia, das heutige Herklion, nach vierzigjähriger Belagerung in die Hände der Türken fiel. Es waren im Kreta dieser Jahre neben denen, die nicht unter türkischer Herrschaft leben mochten, vor allem die Intellektuellen und Künstler, die in Candia ihre Heimat verloren. Maler. Buchdrucker. Kupferstecher. Steinmetze. Candia führte zu einem Exodus. Und die Künstler und Kunsthandwerker, die aus ihrer Heimat Kreta geflohen waren: sie ließen sich überall entlang der langen Route nieder zwischen Kreta und Venedig. In Lefkas. In Korfu. In Sibenik. Und auch in Cres.

Vielleicht. Vielleicht hat hier ein Mensch – oder mehrere – eine sichtbare Spur seines Lebens hinterlassen. Von Insel. Zu Insel.

Unterwegs auf der Adria: Cres und das Geheimnis der Kapellen (II).

Gepostet auf der Insel Vis.


Wenn man den Weg vom Kloster in Cres, vor dem ich ankerte, zur Stadt geht, kommt man an drei Kapellen vorbei. Vielleicht ist es ein lauer Abend, so wie der heutige, an dem ich die von Jasmin und Oliven gesäumte Straße vom Kloster in die Stadt wandere. Und kaum, dass ich den Ort verlassen habe, reizt es mich, noch einmal herauszufinden: Ob sich denn in diesem Cres nun wirklich nichts geändert hat. Vor Jahren hatte ich, weinschwer, in der Dunkelheit die namenlose Kapelle entdeckt, die dort steht, wo sich der Weg aus der Stadt mit der Straße zum Kloster kreuzt. Von Neugier getrieben, wich ich ein paar Schritte vom Weg ab. Und lugte in der Dunkelheit mit Hilfe durch eine kleine Öffnung in der Tür ins Innere der Kapelle. 

Im Dunkel der Kapelle sah ich erst nichts. Dann erkannte ich im Schein meiner Taschenlampe den Körper einer antiken Amphore. Verstaubt. Verkrustet. Von Kalk-Adern überzogen, als wären sie lange im Meer gelegen. Mit einem Zettel mit einer handgeschriebenen Zahl an ihrem Hals. Erst eine. 

Dann sah ich noch eine. Und noch eine. Der kleine Kirchenraum war gesteckt voll mit Amphoren. Selbst vor und hinter dem verfallenden hölzernen Altartisch Amphoren, selbst auf ihm. Im Dunkel des Raumes kindergroße bauchige Tonbehälter aus der Antike. Eine Fracht aus einer längst untergegangenen Welt. Eine Amphore neben der anderen stehend, sich stützend, haltend, als wären sie nirgendwo anders als im Rumpf eines antiken Handelsschiffes. Nur stehen sie jetzt in der Kapelle, überkrustet von Ablagerungen, kalkübersät, narbig. Eine Handvoll von ihnen hat man, weil der Platz nicht reichte, sogar auf dem Altartisch gestapelt. Sie liegen überall. Der verfallende Raum ist voll von ihnen. Als hätte ein Händler vor 2000 Jahren sie hier, genau hier abgestellt, mit einem Zettel an der Tür: „Komme gleich wieder.“ Und wäre dann verschwunden, wie Merlin, der Zauberer, in der Weite von Zeit und Welt.

Ich habe sie jedes Mal besucht, wenn ich in Cres war, die Kapelle mit den Amphoren. Es war ein Ort, der in seiner Vergessenheit beständig war in einer schwankenden Welt. Das Geheimnis der Amphoren? Ich bin ihm nie nachgegangen. 

Sie liegen immer noch in der kleinen Kapelle, die Amphoren. Ich sah sie. Nur diesmal: ging ich ins kleine Museum von Cres. Es sind nur zwei Räume. Es kostet 10 Kuna, 1,50 Euro Eintritt. Im Unteren der beiden Räume fand ich drei Handvoll der Amphoren wieder. 

Ich fragte den Mann am Eingang nach den Amphoren in der Kapelle. Ja, die hier gezeigten seien auch welche aus der Kapelle. Es wäre ein griechisches Schiff gewesen mit einer Ladung voller Wein, das man draußen vor Kap Pernat gefunden hätte. Es wäre vor 2.500 Jahren draußen gesunken. Zerschellt am Kap Pernat, der Einfahrt in die Bucht von Cres.

Drinnen oder außen vor dem Kap?, frage ich. Draussen, sagt der Mann. „Sie haben es also gerade nicht geschafft, im aufziehenden Sturm in die Bucht. Und dann in den Hafen.“ Der Mann nickt. Er ist aus Cres. Er weiß, wie es sein kann, wenn plötzlich die Wolken von Nordosten aufziehen. Und innerhalb weniger Minuten die Bora mit sechs Windstärken weht. So wie an einem Tag vor zweieinhalb Tausend Jahren.

Über den Kvarner.


Vom Meer aus betrachtet, ist die Südspitze der Halbinsel Istrien ein Gleißen und Glimmen. Ein Funkeln, ein Glitzern oben auf dem felsigen Rücken, an dem ich LEVJE entlang weiter nach Süden auf die kleine Leuchtturm-Insel Porer und dann über den Kvarner zur Insel Cres steuern will. Das Kap: Es glitzert, weil hier im Sommer, wo es nichts gibt außer dem karg bewachsenen Felsrücken auf der Höhe alle Parkplätze belegt sind. Während ich LEVJE durch die Untiefen am Kap steuere, sehe ich die Badenden, die sich irgendwo am sandfarbenen Ufer zwischen den Felsen tummeln. Für einen Moment beneide ich sie. Auf LEVJE ist es jetzt gerade ziemlich heiß. Ich würde jetzt zu gerne für einen Moment ins Wasser springen. Später. Wenn ich draußen bin. Auf dem Kvarner.

Draußen weht ein leises Lüftchen. Ich lasse den Motor lieber aus. Motor: Das ist zwar ein schnelles, berechenbares Ankommen, allerdings nach vierstündigem Gebrumm. Das lasse ich heute lieber. Mir ist mehr danach, die Stille zu genießen. Auch um den Preis des schnellen Ankommens.

Also mühe ich mich, und zerre irgendwo aus LEVJEs Bauch deren größtes Segel nach oben. Ein riesiges, 55 Quadratmeter großes grüngelbes Ding. Die Größe zweier Studentenbuden. Ich mühe mich eine halbe Stunde damit. Zerre den schweren Segelsack an Deck. Zwänge ihn in der Hitze weiter mit mir aufs Vorschiff. Lege Leinen und Schoten des großen Segels an Deck aus, während LEVJE kaum Fahrt durchs Wasser macht und fast in der ölig daliegenden Weite vor dem glitzernden Kap zu liegen scheint. Entwirre Schoten, die mir kilometerlang vorkommen. Ziehe zuletzt das gelbgrüne Segel zwei Mal am Mast hoch, weil ich ein Gummiband oben an der Spitze erst entdecke, als ich das Segel schon oben habe. Die an Deck meistgehörte Wortkombination „Och neeeee!“ fällt im drei-Minuten-Takt.

1. Der Kvarner?



Er ist ein Meeresarm. Er trennt den Norden Kroatiens vom Süden und von den Inseln. Eigentlich ist der Kvarner nichts. Ein Meeresarm, bloß eine mit dem Wasser der Adria verfüllte 50 Meter tiefe Talsohle zwischen zwei Höhenrücken, die von Nord nach Süd laufen. Der eine Höhenrücken ist der Rand der Halbinsel Istrien. Das andere ist die Insel Cres. Und dazwischen liegt der Kvarner.

Und doch ist dieses Nichts alles. Die Region um den 35 Kilometer breiten Meeresarm heißt Kvarner – das Nichts in der Mitte als identitätstiftendes Element für die Bevölkerung. Zeitungen hießen früher nach ihm. Hotels sowieso. Der Kvarner ist mehr als nur eine geografische Erscheinung. Und vor allem ist er eine Grenze. Er trennt Istrien vom Süden. Wo der Kvarner endet,  hinter Cres, heißt das Seegebiet Kvarneric. Hier beginnen gleich die Inseln. Die großen: Krk. Pag. Rab. Aber auch die kleinen: Losinj. Unije. Susak. Und es fängt fulminant an, mit Cres, denn die ist für mich eine der schönsten.

2. Der Kvarner für Segler?



Aber nicht nur für Kroaten ist der Kvarner eine Grenze. Auch für alle, die ihre Schiffe irgendwo im Norden in und um Lignano oder im slowenischen Izola oder Portoroz liegen haben. „Über den Kvarner geh’ ich mit meinem Boot nicht. Das trau ich mich nicht“, sagen Leute, die seit Jahr und Tag ihr Boot in Istrien haben. Es ist purer Respekt, der aus Ihnen spricht. Auch die Motorbootleute, so sehr sie auch ihren den PS ihrer hochmotorisierten Gefährte auch vertrauen, haben beim Kvarner ein mulmiges Gefühl. „Da hats bei Bora so komische Wellen“, sagen sie. Ich habe schon beobachtet, wie prächtige, schwere Motoryachten in rascher Fahrt vom Norden Istriens angeprescht kamen. Mit unverminderter Geschwindigkeit in eleganter Kurve am Leuchtturm vorbei nach Nordost in den Kvarner drehten. Um dann schlagartig mit schreckgeweiteten Augen den Gashebel ganz ganz schnell wieder zurückzunehmen, weil die Wellen, die die Bora den Kvarner entlang nach Südwesten sendet, ein angenehmes Gleiten mit 50 Stundenkilometern in Sekundenschnelle in einen schmerzhaften Ritt auf einem unkontrolliert dahinhüpfenden Presslufthammer verwandeln.

Der Kvarner weiß, wie man sich Respekt verschafft. Selbst mein guter Sven, mit dem ich mir ein Jahrzehnt die JUANITA teilte, erzählt heute lachend, wie er mit der damals erworbenen JUANITA, stattlichen 37 Fuß, Mitte der Achziger zu seiner ersten Kvarner-Überquerung aufbrach. Nur für die knapp 20 Seemeilen lange Strecke (was eigentlich nicht mehr als fünf Stunden Überfahrt sind) packte er mit Freunden Proviant und Trinkwasser für 14 Tage ein. Wer konnte schon wissen, was einem auf dem Kvarner passiert?

Vielleicht beruht der Mythos des Kvarner auch darauf, dass viele Segelschüler ihre Scheine hier in und um dieses Seegebiet machen. Der Kvarner ist eine Grenze im Kopf. Und oft eine, auf die man hören sollte, wie die nachfolgende Geschichte aus sicherer Quelle zeigt. 

Sie  spielte sich vor einigen Jahren genauso hier ab. Eine Crew bricht auf ihrer gecharterten 45 Fuß-Yacht in Mali Losinj gen Norden auf, um den Kvarner zu überqueren. Der Rückgabetermin beim Vercharterer drängt zur Eile. Der Wetterbericht rät ab. Und der Hafenkapitäns in Mai Losinj auch. Es war Bora angesagt, nichts dramatisches. „Wir haben doch eine 45er. Fast ein 14 Meter langes Schiff. Und wir müssen sie morgen zurückgeben“, hat der Skipper wohl noch gesagt. Draußen auf dem Kvarner weht die Bora heftiger. Vielleicht geraten die Segel beim Reffen außer Kontrolle, wer weiß das schon. Das Schiff ruft per Funk um Hilfe. Ein aus Rijeka kommender Frachter legt sich neben das Schiff, um die mehrköpfige Besatzung abzubergen. Die Stahlwand des Frachters demoliert das Rigg, das in den Wellen an die Bordwand des Frachters schlägt. Beim Abbergen der Familie fällt ein Familienmitglied zwischen die Bordwände und ertrinkt. Der Rest schaffts auf den Frachter.

Doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte:
Die aufgegebene Yacht fand man etwa 24 Stunden später treibend vor dem italienischen Ancona. Das Rigg war demoliert. Aber der Motor lief noch. So wie die Crew das Schiff verlassen hatte.

3. Spaß auf dem Kvarner.

Ich setze frech mein großes gelbes Segel. Und segle, weil der Wind günstig steht, hinauf Richtung Cres, wie ein Schmetterling mit breit auseinandergestellten Segeln. Der Wind weht schwach, doch stabil nach Nordosten, immerhin mit etwas mehr als vier Knoten ging die Fahrt voran. Weil der Kurs die Temperatur auf LEVJE immer heißer werden ließ, beschloss ich, endlich baden zu gehen. Liess LEVJE laufen. Zog mich nackt aus. Klappte die Badeleiter aus. Und stieg die Badeleiter hinunter in das Jaccuzzi-Sprudeln, das unter LEVJES durchs tiefe Blau dahingleitenden Bauch hervorsprudelt in reichem Schwall. Ein Vergnügen. Wenn auch kein ungefährliches. Hätte ich den Halt verloren – selbst wo ich penibel darauf achtete, immer wie ein Bergsteiger mit mindestens drei Punkten am Schiff sicheren Halt zu haben – hätte ich den Halt verloren: Dann hätte mir wahrscheinlich auch der lange Festmacher wenig geholfen, den ich zur Sicherheit hinter LEVJE vorherausgebracht hatte. Hätte ich den Halt verloren: Dann hätte ich die zehn Kilometer zum felsigen Ufer von Cres schwimmen müssen.

Es ist pure Unvernunft. Und doch ist es auch Leben.

4. Ernst auf dem Kvarner.



Doch alles hat seinen Preis. Denn während ich hinten plantschte und meine Freude in den Schwällen hatte, frischte kurz der Wind auf. LEVJE zog noch schneller durch die Wellen, die ultimative Mutprobe, mich nur noch an den Händen von meinem Schiff durch die Wellen ziehen zu lassen: Die traute ich mich nicht mehr. Ich schaute nur nach hinten. Und sah nicht den Rand der Gewitterfront, die sich hinter dem großen gelben Segel im Nordosten über Cres aufbaute. 

Plötzlich stand LEVJE. Plötzlich war der Wind weg. Kurz vor der Einfahrt am Kap Pernat fiel das große gelbe Segel in sich zusammen. Da war die große Front. Keine schwarze Bedrohung. Nur ein riesiges Wolkengebilde. Ein Riesenaggregat an thermischer Kraft.

Mit einem Mal wehten die Böen aus dem Kvarner. Färbten das vorher tiefblaue Wasser aufgerauht Schwarz. Und kamen näher. 

„Einhand-Segeln ist: Viel zu wenig Zeit und zuwenig Hände für all das, was in dem einem Moment zu tun ist.“ sagt Einhandsegler Klaus Aktoprak auf seiner sehenswerten DVD, die er auf seinen Einhandtörns gedreht hat. Mit einer einzigen Bewegung versuchte ich in ein und demselben Moment,

das wild schlagende gelbe Ding zu bändigen
das Großsegel einzurollen
den Motor zu starten
den Leinenverhau auf dem Vordeck irgendwie unter Kontrolle zu bringen.

Für einen Moment treiben wir führungslos in den Böen durch die Wellen. Ich versuche, zunächst das große gelbe Ding zu retten. Und einzurollen. Bevor der Wind das bauchige Teil weiter knallen und schlagen oder gar die gefürchtete Sanduhr daraus formen würde. Als es nach einer Ewigkeit endlich sauber eingerollt war, zerrte ich es herunter. Und vertäute es an Deck, damit der Wind nicht noch mehr Unheil anstellen konnte.

Um die 20 Knoten zeigte der Windmesser. In Böen 30. Und das, wo doch der kroatische Wetterbericht derlei erst für nächsten Morgen vorhergesagt hatte. Aber so ist das: Für alles im Leben gibt es eine Rechnung. Und für Übermut hat das Leben für mich immer eine extra Rechnung parat.

Und der Kvarner? Wieder einmal hat sich das Nichts Respekt verschafft.

Über den Kvarner.

Gepostet auf der Insel Hvar.

Vom Meer aus betrachtet, ist die Südspitze der Halbinsel Istrien ein Gleißen und Glimmen. Ein Funkeln, ein Glitzern oben auf dem felsigen Rücken, an dem ich LEVJE entlang weiter nach Süden auf die kleine Leuchtturm-Insel Porer und dann über den Kvarner zur Insel Cres steuern will. Das Kap: Es glitzert, weil hier, wo es nichts gibt außer dem karg bewachsenen Felsrücken, im Sommer auf der Höhe alle Parkplätze belegt sind. Während ich LEVJE durch die Untiefen am Kap steuere, sehe ich die Badenden, die sich irgendwo am sandfarbenen Ufer zwischen den Felsen tummeln. Für einen Moment beneide ich sie. Auf LEVJE ist es jetzt gerade ziemlich heiß. Ich würde jetzt zu gerne für einen Moment ins Wasser springen. Später. Wenn ich draußen bin. Auf dem Kvarner.

Draußen weht ein leises Lüftchen. Ich lasse den Motor lieber aus. Motor: Das ist zwar ein schnelles, berechenbares Ankommen, allerdings nach vierstündigem Gebrumm. Das lasse ich heute lieber. Mir ist mehr danach, die Stille zu genießen. Auch um den Preis des schnellen Ankommens.

Also mühe ich mich, und zerre irgendwo aus LEVJEs Bauch deren größtes Segel nach oben. Ein riesiges, 55 Quadratmeter großes grüngelbes Ding. Die Größe zweier Studentenbuden. Ich mühe mich eine halbe Stunde damit. Zerre den schweren Segelsack an Deck. Zwänge ihn in der Hitze weiter mit mir aufs Vorschiff wie ein Raubtier in der Hitze seine viel zu große Beute. Lege Leinen und Schoten des großen Segels an Deck aus, während LEVJE kaum Fahrt durchs Wasser macht und durch die ölig daliegende Weite vor dem glitzernden Kap schleicht. Entwirre Schoten, die mir kilometerlang vorkommen. Ziehe zuletzt das gelbgrüne Segel mindestens zwei Mal am Mast hoch, weil ich ein Gummiband oben an der Spitze vergaß und erst entdecke, als ich das Segel schon oben habe. Die an Deck meistgehörte Lautkombination „Och neeeee!“ fällt im Minuten-Takt.

1. Der Kvarner?



Er ist ein Meeresarm. Er trennt den Norden Kroatiens vom Süden und von den Inseln. Eigentlich ist der Kvarner nichts. Ein Meeresarm, bloß eine mit dem Wasser der Adria verfüllte 50 Meter tiefe Talsohle zwischen zwei Höhenrücken, die von Nord nach Süd laufen. Der eine Höhenrücken ist der Rand der Halbinsel Istrien. Das andere ist die Insel Cres. Und dazwischen liegt der Kvarner.

Und doch ist dieses Nichts alles. Die Region um den 35 Kilometer breiten Meeresarm heißt Kvarner – das Nichts in der Mitte als identitätstiftendes Element für die Bevölkerung. Zeitungen hießen früher nach ihm. Hotels sowieso. Der Kvarner ist mehr als nur eine geografische Erscheinung. Und vor allem ist er eine Grenze. Er trennt Istrien vom Süden. Wo der Kvarner endet,  hinter Cres, heißt das Seegebiet Kvarneric. Hier beginnen gleich die Inseln. Die großen: Krk. Pag. Rab. Aber auch die kleinen: Losinj. Unije. Susak. Und es fängt fulminant an, mit Cres, denn die ist für mich eine der schönsten.

2. Der Kvarner für Segler?



Aber nicht nur für Kroaten ist der Kvarner eine Grenze. Auch für alle, die ihre Schiffe irgendwo im Norden in und um Lignano oder im slowenischen Izola oder Portoroz liegen haben. „Über den Kvarner geh’ ich mit meinem Boot nicht. Das trau ich mich nicht“, sagen Leute, die seit Jahr und Tag ihr Boot in Istrien haben. Es ist purer Respekt, der aus ihnen spricht. Auch die Motorbootleute, so sehr sie den PS ihrer hochmotorisierten Gefährte auch vertrauen, haben beim Kvarner ein mulmiges Gefühl. „Da hats bei Bora so komische Wellen“, sagen sie. Ich habe schon beobachtet, wie prächtige, schwere Motoryachten in rascher Fahrt vom Norden Istriens angeprescht kamen. Mit unverminderter Geschwindigkeit in eleganter Kurve am Leuchtturm vorbei nach Nordost in den Kvarner eindrehten. Und deren Skipper dann schlagartig mit schreckgeweiteten Augen den Gashebel ganz ganz schnell wieder zurückzunehmen, weil die Wellen, die die Bora den Kvarner entlang nach Südwesten sendet, ein angenehmes Gleiten mit 50 Stundenkilometern in Sekundenschnelle in einen schmerzhaften Ritt auf einem unkontrollierten Presslufthammer verwandeln.

Der Kvarner weiß, wie man sich Respekt verschafft. Selbst mein guter Sven, mit dem ich mir ein Jahrzehnt die JUANITA teilte, erzählt, wie er mit der damals erworbenen JUANITA, stattlichen 37 Fuß, Mitte der Achziger zu seiner ersten Kvarner-Überquerung aufbrach. Für die knapp 20 Seemeilen lange Strecke (was eigentlich nicht mehr als fünf Stunden Überfahrt sind) packte er mit Freunden Proviant und Trinkwasser für 14 Tage ein. Wer konnte schon wissen, was einem auf dem Kvarner passiert?

Vielleicht beruht der Mythos des Kvarner auch darauf, dass viele Segelschüler ihre ersten Ausbildungstörn hierher in und um dieses Seegebiet führt. Der Kvarner als etwas gaaaaanz großes, als man in die Welt noch mit kindlicher Neugier schaute. Und doch: Der Kvarner ist eine Grenze im Kopf. Und oft eine, auf die man achten sollte, wie die nachfolgende Geschichte zeigt, die ich aus sicherer Quelle habe. Sie  spielte sich vor einigen Jahren genauso hier ab. 

Eine Crew bricht auf ihrer gecharterten 45 Fuß-Yacht in Mali Losinj gen Norden auf, um den Kvarner zu überqueren. Der Rückgabetermin beim Vercharterer gebietet zur Eile. Der Wetterbericht rät ab. Und der Hafenkapitäns in Mai Losinj auch. Es war Bora angesagt, nichts dramatisches. „Wir haben doch eine 45er. Fast ein 14 Meter langes Schiff. Und wir müssen sie morgen zurückgeben“, mag der Skipper wohl noch gesagt haben. Draußen auf dem Kvarner weht die Bora heftiger. Böen fallen ein. Vielleicht gerät ein Segel beim Reffen außer Kontrolle, wer weiß das schon. Die Böen nehmen zu. Die Wellen auch. 
Das Schiff ruft per Funk um Hilfe. Ein aus Rijeka kommender Frachter legt sich neben das Schiff, um die mehrköpfige Besatzung vom Schiff. Die Stahlwand des Frachters demoliert das Rigg, das in den Wellen an die Bordwand des Frachters schlägt. Beim Abbergen der Familie fällt ein Familienmitglied zwischen die Bordwände und ertrinkt. Der Rest schaffts auf den Frachter.

Doch das ist nicht das Ende der Geschichte:
Die aufgegebene Yacht fand man etwa 24 Stunden später treibend vor dem italienischen Ancona. Bis auf das Rigg unbeschädigt. Und mit laufendem Motor im Standgas. So wie die Crew das Schiff verlassen hatte.

3. Spaß auf dem Kvarner.

Ich setze frech mein großes gelbes Segel. Und segle, weil der Wind günstig steht, hinauf Richtung Cres, wie ein Schmetterling mit breit auseinandergestellten Segeln. Der Wind weht schwach, doch stabil nach Nordosten, immerhin mit etwas mehr als vier Knoten ging die Fahrt voran. Weil der Kurs die Temperatur auf LEVJE immer heißer werden ließ, beschloss ich, endlich baden zu gehen. Liess LEVJE laufen. Zog mich nackt aus. Klappte die Badeleiter aus. Und stieg die Badeleiter hinunter in das Jaccuzzi-Sprudeln, das unter LEVJES durchs tiefe Blau dahingleitenden Bauch hervorsprudelt in reichem Schwall. Ein Vergnügen. Wenn auch kein ungefährliches. Hätte ich den Halt verloren – selbst wo ich penibel darauf achtete, immer wie ein Bergsteiger mit mindestens drei Punkten am Schiff sicheren Halt zu haben – hätte ich den Halt verloren: Dann hätte mir wahrscheinlich auch der lange Festmacher wenig geholfen, den ich zur Sicherheit hinter LEVJE nachschleppe, um ihn zu fassen. Hätte ich den Halt verloren: Dann hätte ich die zehn Kilometer zum felsigen Ufer von Cres schwimmen müssen.

Es ist pure Unvernunft. Und doch: es ist Leben.

4. Ernst auf dem Kvarner.



Doch alles hat seinen Preis. Denn während ich hinten plantschte und meine Freude in den Schwällen hatte, frischte kurz der Wind auf. LEVJE zog noch schneller durch die Wellen, die ultimative Mutprobe, mich nur noch an den Händen von meinem Schiff durch die Wellen ziehen zu lassen: Die traute ich mich nicht mehr. Ich schaute nur nach hinten. Und sah nicht den Rand der Gewitterfront, die sich hinter dem großen gelben Segel im Nordosten über Cres aufbaute. 

Plötzlich stand LEVJE. Plötzlich war der Wind weg. Kurz vor der Einfahrt am Kap Pernat fiel das große gelbe Segel in sich zusammen. Da war die große Front. Keine schwarze Bedrohung. Nur ein riesiges Wolkengebilde. Ein Riesenaggregat an thermischer Kraft.

Mit einem Mal wehten die Böen aus dem Kvarner. Färbten das vorher tiefblaue Wasser aufgerauht Schwarz. Und kamen näher. 

„Einhand-Segeln ist: Viel zu wenig Zeit und zuwenig Hände für all das, was in dem einem Moment zu tun ist.“ sagt Einhandsegler Klaus Aktoprak auf seiner sehenswerten DVD, die er auf seinen Einhandtörns gedreht hat. Mit einer einzigen Bewegung versuchte ich in ein und demselben Moment,

das wild schlagende gelbe Ding zu bändigen
das Großsegel einzurollen
den Motor zu starten
den Leinenverhau auf dem Vordeck irgendwie unter Kontrolle zu bringen.

Für einen Moment treiben wir führungslos in den Böen durch die Wellen. Ich versuche, zunächst das große gelbe Ding zu retten. Und einzurollen. Bevor der Wind das bauchige Teil weiter knallen und schlagen oder gar die gefürchtete Sanduhr daraus formen würde. Als es nach einer Ewigkeit endlich sauber eingerollt war, zerrte ich es herunter. Und vertäute es an Deck, damit der Wind nicht noch mehr Unheil anstellen konnte.

Um die 20 Knoten zeigte der Windmesser. In Böen 30. Und das, wo doch der kroatische Wetterbericht derlei erst für nächsten Morgen vorhergesagt hatte. Aber so ist das: Für alles im Leben gibt es eine Rechnung. Und für Übermut hat das Leben für mich immer eine extra Rechnung parat.

Und der Kvarner? Wieder einmal hat sich das Nichts Respekt verschafft.

Von Ravenna nach Pula. Einhand über die Adria. Oder: Das verbaute Meer.

Irgendwie ist es immer dasselbe: Wenn ich nach einem langen Segelschlag einen Hafen erreiche, dann freue ich mich. Doch nach zwei, drei Tagen wird mir das Liegen im Hafen zuviel. Ich will wieder hinaus, koste es, was es wolle, ich scheue keine Mühe, kein Risiko. „Du hast Angst vor Bindungen“, sagte mein Bruder einmal. Aber das traf es nicht. Meine Unrast ist etwas anderes. Es mag an meinem „Beruf“ liegen. Im Grunde genommen gibt es auf der Welt nicht mehr als knapp zwei Handvoll verschiedene Berufe. Keine zehn Berufe: Tätigkeiten, die irgendwann vor einer halben Million Jahre für das Überleben und die Fortexistenz eines umherwandernden Stammes von Bedeutung waren. Jäger. Sammler. Heiler. Lehrer. Händler. Anführer. Hand-Werker. Bauer. Die Acht. Natürlich auch in weiblicher Ausgabe. Mehr brauchte es an Berufen nicht, um die Menschheit, wie sie heute funktioniert, auf die Beine zu stellen. Und mehr Berufe gibt es wohl auch heute nicht. Denn alles andere ist nur Spielart des einen oder des anderen. IT-Expertin? Ist Hand-Werkerin – im Grunde. Journalist? Hat der Welt was zu sagen – Lehrer. Autoverkäufer? Jäger. Teamassistentin? Dahinter kann sich alles verbergen – doch irgendeiner der acht Berufe blitzt auch bei ihr im täglichen Tun durch.

Ich? Bin Händler. Eine Art übers Meer fahrender Sammler dingloser Sachen, die man Geschichten nennt. Bin ich nicht unterwegs, werde ich unleidlich. Ich schrumple innerlich wie eine Karotte, die man vergaß, in einem feuchten Tuch in den Kühlschrank zu packen. Die Welt wird mir zu eng.



Ich kann die Uhr danach stellen. Nach drei Tagen Hafen wird es mir zu eng, selbst die Aussicht, in schlimmes Wetter zu geraten, hält mich nicht fest. Ich muss raus. Ich muss die Leere da draußen sehen, wo nichts mehr ist, nur noch Wasser. Also bin ich heute morgen los. Und fahre hinüber von Ravenna. Nach Pula.

Das ist kein großer Akt. 65 Seemeilen sagt mir die elektronische Seekarte auf meinem Ipad, nicht mehr als 115 Kilometer. Gäbe es eine Autobahn, man bräuchte mit dem Wagen nur eineinhalb Stunden von Ravenna nach Pula. Aber es gibt sie nicht. Also werde ich erst irgendwann heute nach Mitternacht in Pula ankommen. 14 Stunden.

1. Ablegen.

Später, viel später als ich wollte, drehte ich Levjes Zündschlüssel, um den Motor zu starten. Ich liebe den Moment, wenn Levjes Motor anspringt. Ein dumpfes Grollen, wie tief im Inneren eines Berges. Ich liebe es, wenn der Motor mit unendlich langsamer Drehzahl startet, fast kann ich jede Umdrehung der Kurbelwelle mitzählen. Ich höre einen Moment zu. Dann springe ich hinunter auf die Pier. Löse die vier Leinen, die Levje gestern im Gewitterregen fest an der Pier hielten. Es ist immer ein wenig unheimliich, die Leinen seines Schiffes als Einhandsegler vom Land aus zu lösen. Schaffe ich es noch, nach dem Lösen der letzten Leine schnell hinüber auf mein Schiff zu springen? Bevor der Wind es von der Pier wegtreibt? Und der Spalt zu groß wird?

Ein Sprung hinüber. Den kurzen Moment hatte sich das Schiff schon fast einen Meter vom Ufer entfernt. Ein nettes Spiel. Ich stelle mich schnell hinters Steuerrad, und lege den Gashebel nach vorne. Der Motor verändert seine Drehzahl nicht, er klingt immer nach langsam, beruhigend, eine kraftvolles Wummern. Nur die Schraube ist jetzt eingekuppelt. Majestätisch beschleunigt das Schiff, es kostet den Motor keine Anstrengung. „Er spielt nur mit dem Schiff“, sagte mir der Mann, der das Schiff ersonnen hatte, ein eigenwilliger Techniker, der in seinem Leben mehr als 8.000 Schiffe gebaut hat, mit einem Grinsen. 

Langsam gleiten wir aus dem Hafen hinaus. Knurrend treibt der Motor das Schiff behäbig an den anderen Schiffen entlang, ich genieße den Moment. Die müssen hierbleiben. Ich: Darf jetzt raus, in die Weite, alles jubelt in mir, während ich 500 an diesem Tag ungenutzte, vergessene Schiffe im Hafen zurücklasse.

Ich schalte das Funkgerät auf Kanal 16, für alle Fälle. Sollte mich jemand per Funk anpreien, dann kann ich hören. Jetzt ist das Funkgerät still. Italienisches Hafengeplapper, hin und wieder. Sonst nichts.

Ich drehe LEVJE auf einen Kurs zwischen den beiden Molenfingern ein, die spitz zulaufen, und mache mich an die Arbeit. Das Deck nach dem Ablegen klarieren. Aufräumen. Erst die fünf, sechs Leinen, die noch herumliegen, sauber in Schlingen zusammenlegen. „Eine Leine aufschießen“, heißt das im Seglerdeutsch. Dann hole ich die Fender von draußen rein: Fünf große luftgefüllte Plastikwürste, die an der Bordwand hängen und davor sorgen, dass das Boot in den Gewitterböen nicht an die Pier schlägt. Und Schaden nimmt. Während all das geschieht, werfe ich alle zehn, zwanzig Sekunden einen Blick auf LEVJEs Kurs. Sie läuft zwar unter Autopilot. Aber in der engen Gasse zwischen den Molen laufen ständig Tanker, Schlepper, Stückgutfrachter ein und aus – zu blöd, wenn ich unachtsam wäre jetzt. Auf dem Meer fühle ich mich oft als Teil einer großen Gemeinschaft, wo einer auf den anderen achtet, die Ellbogen, die man auf deutschen Autobahnen kennt, gibt es selten. Dafür ist das Meer ein zu ungewisser, unsicherer Ort. Der, den Du heute unnötig verärgerst, könnte der sein, der Dich morgen im Sturm rauszieht. Nein, achtsam bleiben, während ich Leinen und Fender an der Reling festbinde, mein Schiff, während es langsam läuft, seeklar mache.



Dann habe ich die langen Molenfinger hinter mir. Bin draußen. Optisch ist alles frei vor mir, bis auf die zehn Ölplattformen vor mir, auf die ich zuhalte, von AGOSTINO-B im Norden bis CERVIA A-K-CLUSTER. Italien 135 solcher Plattformen im Meer. Hier vor Ravena, aber auch vor der Küste Siziliens. Alles sieht frei aus vor mir, auf der weiten glitzernden Fläche an diesem Morgen. Aber das ist es ganz und gar nicht. Die elektronische Seekarte sagt, dass ich mich mit LEVJE nur in bestimmten Bereichen der Wasserfläche bewegen darf. Hier ein Verkehrs-Trennungsgebiet, das Korridore für die gesamte Schiffahrt definiert, wie Ravenna angelaufen werden darf. Dort Sperrzonen um die zehn Ölplattformen herum, zwischen denen ein Kriegsschiff träge liegt wie ein dösender Wachhund. Weil sonst niemand unterwegs ist, haben die mich längst auf dem Schirm. „Also bau jetzt keinen Mist“, sage ich zu mir selber, während ich jetzt auf der elektronischen Seekarte meinen Kurs abstecke. Er sieht aus wie ein unnatürliches Zickzack nach Nordost, das ich abfahre, um alle Ge-bote und Ver-bote mit LEVJE einzuhalten.



Es kostet Mühe, den auf mich zukommenden Ölplattformen aus dem Weg zu gehen. Nein, natürlich fahre ich auf sie zu. Aber die Strömung, Windhauch, treiben mich immer näher heran, als ich will. Aber irgendwann habe ich AGOSTINO-B, die wie das Nest eines Blesshuhns auf hohen Stelzen aus dem Wasser ragt, seitlich querab. Jene AGOSTINO-B-Plattform, die vor einem Jahr italienische GREENPEACE-Aktivisten besetzten, um auf die schleichende Verseuchung des Meeresbodens mit aromatischen polizyklischen Kohlenwasserstoffen aufmerksam zu machen. Denn AGOSTINO-B arbeitet schon ein Weilchen. Die Plattform wurde 1980 in Betrieb genommen – 47 Jahre …

Irgendwann liegt AGOSTINO-B hinter mir. Zeit, mal nach dem Motor zu sehen. Ich gehe nach unten, wo LEVJE ein großes Badezimmer mit Dusche besitze. Und öffne eine kleine Tür in der Wand. Jetzt habe ich den Motor vor mir. Er arbeitet in einer eigenen kleinen Kammer. Ich schalte das Licht an in dem kleinen Geviert. Schaue, ob der Motor irgendwo Öl verliert. Oder Kühlwasser. Lege die Hand auf die Stopfbuchse, durch die die sich drehende Welle durch den Bootskörper nach draußen geführt ist. Ob sie heiß ist. Aber alles sieht gut aus. Nichts auffälliges. Ich schließe die Wandtür. 


Es ist zwölf geworden. Zeit, die Schleppangel hinten rauszuhängen, vielleicht beißt ja etwas an während der Fahrt. Und mir etwas zu Mittag etwas zu kochen: Eine Tortilla vielleicht, mit gerösteten Zwiebeln und geraspelten Zuccini. Ich lasse LEVJE einfach weiter ins grenzenlose Blau laufen, schalte den Gasherd an, setze Zwiebeln auf, hoble Parmesan und schlage Eier. Und werfe alle zwei Minuten einen Blick oben ringsum. Ob AGOSTINO-B nicht vielleicht doch auf mich zufährt. Oder der dösende Wachhund aufgewacht ist. Oder irgendwas anderes. 

2. Draußen.

Sie ist kein sonderlich tiefes Meer, die Adria. Auf der gedachten Linie, auf der ich jetzt gerade unterwegs bin, 100 Kilometer südlich der Nordküste, ist die Adria gerade mal 45 Meter tief. Das ist wenig, gemesssen am Mittelmeer und seiner tiefsten Stelle mit 5267. Jeder doofe Binnensee schafft da mehr. Der Bodensee 251 Meter. Der Starnberger See 128 Meter. Selbst der lumpige Ammersee ist fast doppelt so tief wie die Aria 100 km weit vom Nordufer entfernt. Im Grunde genommen ist die Adria eine breite, flache Senke. Eine Talsohle, die irgendwann erst spät in der Ausbildung dieses Mittelmeeres langsam voll Wasser lief, als es wärmer wurde und Gletscher und Polkappen zu schmelzen begannen und ihr Wasser die großen Ozeane füllte. Sie bleibt eine vollgelaufene Ebene, die Wassertiefe des Starnberger Sees erreicht sie erst weit im Süden, fast 300 Kilometer weiter südlich, irgendwo zwischen den Marken und der Insel Brac. Das Flache hat sie geprägt: Im Sommer heizt das Wasser der Adria schnell auf. Und im frühen November ist es in Grado in den Lagunen schon wieder so kalt, dass Baden im Meer nur etwas für harte Burschen ist.  


Ich sitze auf LEVJE an meinem Lieblingsschreibtisch, im Niedergang. Ich habe alle Instrumente vor mir: Den Geschwindigkeitsmesser, der mir sagt, wie schnell wir durchs Wasser unterwegs sind. Daneben den Tiefenmesser, der mehrmals in der Sekunden einen Laut nach unten sendet. Und anhand seines Echos errechnet, wie weit der Meeresgrund in diesem Augenblick entfernt ist. „40,3 Meter“, sagt die Anzeige. Rechts daneben der Windmesser, der den gefühlten Wind oben an der Mastspitze misst und nach unten die Windrichtung und Windstärke meldet. Rechts daneben den Radarbildschirm. Er tastet fast 50 Kilometer weit voraus den Horizont ab, ich entdecke sieben kleine gelbe Flecke. Schiffe vermutlich, denn ich bin jetzt weit draußen. 4 Seemeilen, mehr als sieben Kilometer bin ich vom nächsten Schiff entfernt. Wieder ein Stück rechts die elektronische Seekarte mit allen Daten über meinen Kurs, über meine Geschwindigkeit.

3. Die verbaute See.

Ein Kurs ist nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Ich hatte mir in der elektronischen Seekarte als Kurs eben diese kürzeste Linie zwischen dem italienischen Ravenna und dem kroatischen Pula eingetragen. Aber der kürzeste Weg war das mitnichten.

Ich hatte vor der Abfahrt vergessen, mit meine Wegstrecke in der elektronischen Seekarte näher heranzuzoomen – ein Fehler, der ja schon veritable VOLVO OCEAN-RACEr unvermutet auf Riffe geführt haben soll.  Mir kam kein Riff in die Quere. Sondern am späten Nachmittag, als endlich Wind aus der richtigen Richtung kam und das Meer besonders frei und grenzenlos aussah, verschiedenes in den Weg:

1. Ein großes Verkehrstrennungsgebiet.
2. Unmittelbar hinter der Grenze: Ein großes kroatische Sperrgebiet mit Ölförderplattformen.
3. Dann noch mal ein großes Verkehrstrennungsgebiet


Nix mit grenzenlos. Der kleine Fehler kostete mich zwei Stunden Umweg – ich wollte nicht riskieren, auf hoher See von einem kroatischen Wachhund zur Rede gestellt zu werden, was ich denn unter Segeln mitten im Sperrgebiet zwischen den Ölförderplattformen herumzukrauchen hätte.


Wohlgemerkt: Es gibt kein Schild, das auf so etwas aufmerksam macht. Keinen Zaun. Die Adria, das Meer sieht frei aus und grenzenlos an dieser Stelle. Sie ist es aber ganz und gar nicht. 

Und wird es auch auf absehbare Zeit nicht sein. Am nächsten Tag sollte in Pula über dieses Schmuckstück stolpern: Die 6.815 Tonnen schwere Ölbohrplattform Labin. 1985 in Pula gebaut. Jetzt seit drei Jahren zur Reparatur in der Werft. Und dann? Wieder hinaus… 

4. Die blaue Stunde.

Und irgendwann hatte ich dann das riesige Sperrgebiet hinter mir. Es war früher Abend. Und für diese Stunden liebe ich Kroatien. Die Abendstunden, in denen ein sanftes Lüftchen weht. Und eine tonnenschwere Yacht einfach nur dahingleiten, dahin schnüren lässt. Als wäre es kein totes Gewicht, sndern ein graziles Wesen, das jeden Lufthauch einfängt. Und in federleichte Bewegung und schwereloses Schweben wie die Falschschirme des Löwenzahns im Mai.

5. Die Nacht.

Sie ist so ganz anders. Plötzlich ist alles in tiefe Dunkelheit gehüllt. Ich höre das Brummen des Motors. Ich sehe auf der elektronischen Seekarte, dass wir unter Motor mit 7 Knoten dahinmarschieren. Sonst: Sehe ich nur die Instrumente. Vor mir: Nur Dunkelheit, bis auf die . Immer noch 40 Meter Wassertiefe, wie den ganzen Tag über schon. Ein leichter Wind von vorn. Der Rest des Abendseglers, alles, was von der Abendsegler-Brise noch übrig ist. Vor mir in der Dunkelheit die Richtungsanzeiger grün/rot.

Sonst sehe ich nichts. Nicht das Wasser, das uns trägt. Nicht die Wellen. Ich höre sie nur, ein großer Organismus, der neben LEVJE atmet. Ich sehe nur die Instrumente des Cockpits im Dämmer. Und sonst nichts.

Als ich eine Stunde später den Kopf nach draußen stecke, sind sie da: Mit einem Mal sind sie da, die Lichter am Horizont. Die Lichter der Brijuni-Inseln.

 6. Der Anleger im Dunkeln.

Es ist kurz vor Mitternacht. Ich schleiche mich langsam zwischen den südlichen Brijuni Inseln hindurch. Die Seekarte gibt zuverlässig einen winkeligen Weg zwischen den Inseln hindurch vor. Hier, in den südlichen Brijuni-Inseln, ist das Ankern verboten. Naturschutzgebiet. Doch ein Stück außerhalb, nach Osten, mündet ein Fluss. Und kurz davor, auf fünf Meter Wassertiefe, liegt man geschützt für Bora und Yugo. Rumpelt fällt der Anker in die Tiefe. Noch einmal kurz daran ziehen und mit Maschine langsam rückwärts. Ob er auch wirklich hält. Dann Motor aus.

Stille.

Was für ein Tag.

Hardfacts:
Was braucht man, um mal eben schnell 
die Adriaseite zu wechseln?

1 seetüchtiges Boot, möglichst mit Motor und ausreichend Sprit.
1 guter Wetterbericht (meteoam.it/Windyty.com/Windguru.cz
1 gute Seekarte.
… und die Lust auf 14 Stunden Einsamkeit auf dem Meer.

… und wem 14 Stunden Einsamkeit zu wenig
und sechs Monate allein auf See immer noch nicht genug ist:

Wer reinschnuppern will: 
Das Buch ist  bei AMAZON und anderen erhältlich. 
Es hat 320 Seiten und etwa 100 Fotos und noch mehr Links. 

Und wer mehr darüber erfahren will: Hier sind alle Links: auf www.millemari.de.
Oder direkt zu AMAZON: Hier.

Von Italien nach Kroatien. Einhand über die Adria. Oder: Das verbaute Meer.

Irgendwie ist es immer dasselbe: Wenn ich nach einem langen Segelschlag einen Hafen erreiche, dann freue ich mich. Doch nach zwei, drei Tagen wird mir das Liegen im Hafen zuviel. Ich will wieder hinaus, koste es, was es wolle, ich scheue keine Mühe, kein Risiko. „Du hast Angst vor Bindungen“, sagte mein Bruder einmal. Aber das traf es nicht. Meine Unrast ist etwas anderes. Es mag an meinem „Beruf“ liegen. Im Grunde genommen gibt es auf der Welt nicht mehr als knapp zwei Handvoll verschiedene Berufe. Keine zehn Berufe: Tätigkeiten, die irgendwann vor einer halben Million Jahre für das Überleben und die Fortexistenz eines umherwandernden Stammes von Bedeutung waren. Jäger. Sammler. Heiler. Lehrer. Händler. Anführer. Hand-Werker. Bauer. Die Acht. Natürlich auch in weiblicher Ausgabe. Mehr brauchte es an Berufen nicht, um die Menschheit, wie sie heute funktioniert, auf die Beine zu stellen. Und mehr Berufe gibt es wohl auch heute nicht. Denn alles andere ist nur Spielart des einen oder des anderen. IT-Expertin? Ist Hand-Werkerin – im Grunde. Journalist? Hat der Welt was zu sagen – Lehrer. Autoverkäufer? Jäger. Teamassistentin? Dahinter kann sich alles verbergen – doch irgendeiner der acht Berufe blitzt auch bei ihr im täglichen Tun durch.

Ich? Bin Händler. Eine Art übers Meer fahrender Sammler dingloser Sachen, die man Geschichten nennt. Bin ich nicht unterwegs, werde ich unleidlich. Ich schrumple innerlich wie eine Karotte, die man vergaß, in einem feuchten Tuch in den Kühlschrank zu packen. Die Welt wird mir zu eng.



Ich kann die Uhr danach stellen. Nach drei Tagen Hafen wird es mir zu eng, selbst die Aussicht, in schlimmes Wetter zu geraten, hält mich nicht fest. Ich muss raus. Ich muss die Leere da draußen sehen, wo nichts mehr ist, nur noch Wasser. Also bin ich heute morgen los. Und fahre hinüber von Ravenna. Nach Pula.

Das ist kein großer Akt. 65 Seemeilen sagt mir die elektronische Seekarte auf meinem Ipad, nicht mehr als 115 Kilometer sind es an dieser Stelle auf direktem Weg von Italien nach Kroatien. Gäbe es eine Autobahn, man bräuchte mit dem Wagen nur eineinhalb Stunden von Ravenna nach Pula. Aber es gibt sie nicht. Also werde ich erst irgendwann heute nach Mitternacht in Pula ankommen. 14 Stunden.

1. Ablegen.

Später, viel später als ich wollte, drehte ich Levjes Zündschlüssel, um den Motor zu starten. Ich liebe den Moment, wenn Levjes Motor anspringt. Ein dumpfes Grollen, wie tief im Inneren eines Berges. Ich liebe es, wenn der Motor mit unendlich langsamer Drehzahl startet, fast kann ich jede Umdrehung der Kurbelwelle mitzählen. Ich höre einen Moment zu. Dann springe ich hinunter auf die Pier. Löse die vier Leinen, die Levje gestern im Gewitterregen fest an der Pier hielten. Es ist immer ein wenig unheimliich, die Leinen seines Schiffes als Einhandsegler vom Land aus zu lösen. Schaffe ich es noch, nach dem Lösen der letzten Leine schnell hinüber auf mein Schiff zu springen? Bevor der Wind es von der Pier wegtreibt? Und der Spalt zu groß wird?

Ein Sprung hinüber. Den kurzen Moment hatte sich das Schiff schon fast einen Meter vom Ufer entfernt. Ein nettes Spiel. Ich stelle mich schnell hinters Steuerrad, und lege den Gashebel nach vorne. Der Motor verändert seine Drehzahl nicht, er klingt immer nach langsam, beruhigend, eine kraftvolles Wummern. Nur die Schraube ist jetzt eingekuppelt. Majestätisch beschleunigt das Schiff, es kostet den Motor keine Anstrengung. „Er spielt nur mit dem Schiff“, sagte mir der Mann, der das Schiff ersonnen hatte, ein eigenwilliger Techniker, der in seinem Leben mehr als 8.000 Schiffe gebaut hat, mit einem Grinsen. 

Langsam gleiten wir aus dem Hafen hinaus. Knurrend treibt der Motor das Schiff behäbig an den anderen Schiffen entlang, ich genieße den Moment. Die müssen hierbleiben. Ich: Darf jetzt raus, in die Weite, alles jubelt in mir, während ich 500 an diesem Tag ungenutzte, vergessene Schiffe im Hafen zurücklasse.

Ich schalte das Funkgerät auf Kanal 16, für alle Fälle. Sollte mich jemand per Funk anpreien, dann kann ich hören. Jetzt ist das Funkgerät still. Italienisches Hafengeplapper, hin und wieder. Sonst nichts.

Ich drehe LEVJE auf einen Kurs zwischen den beiden Molenfingern ein, die spitz zulaufen, und mache mich an die Arbeit. Das Deck nach dem Ablegen klarieren. Aufräumen. Erst die fünf, sechs Leinen, die noch herumliegen, sauber in Schlingen zusammenlegen. „Eine Leine aufschießen“, heißt das im Seglerdeutsch. Dann hole ich die Fender von draußen rein: Fünf große luftgefüllte Plastikwürste, die an der Bordwand hängen und davor sorgen, dass das Boot in den Gewitterböen nicht an die Pier schlägt. Und Schaden nimmt. Während all das geschieht, werfe ich alle zehn, zwanzig Sekunden einen Blick auf LEVJEs Kurs. Sie läuft zwar unter Autopilot. Aber in der engen Gasse zwischen den Molen laufen ständig Tanker, Schlepper, Stückgutfrachter ein und aus – zu blöd, wenn ich unachtsam wäre jetzt. Auf dem Meer fühle ich mich oft als Teil einer großen Gemeinschaft, wo einer auf den anderen achtet, die Ellbogen, die man auf deutschen Autobahnen kennt, gibt es selten. Dafür ist das Meer ein zu ungewisser, unsicherer Ort. Der, den Du heute unnötig verärgerst, könnte der sein, der Dich morgen im Sturm rauszieht. Nein, achtsam bleiben, während ich Leinen und Fender an der Reling festbinde, mein Schiff, während es langsam läuft, seeklar mache.



Dann habe ich die langen Molenfinger hinter mir. Bin draußen. Optisch ist alles frei vor mir, bis auf die zehn Ölplattformen vor mir, auf die ich zuhalte, von AGOSTINO-B im Norden bis CERVIA A-K-CLUSTER. Italien betreibt sage und schreibe 135 solcher Plattformen im Meer. Hier vor Ravena, aber auch vor der Küste Siziliens. Alles sieht frei aus vor mir, auf der weiten glitzernden Fläche an diesem Morgen. Aber das ist es ganz und gar nicht. Die elektronische Seekarte sagt, dass ich mich mit LEVJE nur in bestimmten Bereichen der Wasserfläche bewegen darf. Hier ein Verkehrs-Trennungsgebiet, das Korridore für die gesamte Schiffahrt definiert, wie Ravenna angelaufen werden darf. Dort Sperrzonen um die zehn Ölplattformen herum, zwischen denen ein Kriegsschiff träge liegt wie ein dösender Wachhund. Weil sonst niemand unterwegs ist, haben die mich längst auf dem Schirm. „Also bau jetzt keinen Mist“, sage ich zu mir selber, während ich jetzt auf der elektronischen Seekarte meinen Kurs abstecke. Er sieht aus wie ein unnatürliches Zickzack nach Nordost, das ich abfahre, um alle Ge-bote und Ver-bote mit LEVJE einzuhalten.



Es kostet Mühe, den auf mich zukommenden Ölplattformen aus dem Weg zu gehen. Nein, natürlich fahre ich auf sie zu. Aber die Strömung, Windhauch, treiben mich immer näher heran, als ich will. Doch irgendwann habe ich AGOSTINO-B, die wie das Nest eines Blesshuhns auf hohen Stelzen aus dem Wasser ragt, seitlich querab. Jene AGOSTINO-B-Plattform, die vor einem Jahr italienische GREENPEACE-Aktivisten besetzten, um auf die schleichende Verseuchung des Meeresbodens um die Plattformen mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen aufmerksam zu machen (Hier gehts zum Film der GREENPEACE-Aktion). AGOSTINO-B arbeitet schon ein Weilchen. Die Plattform wurde 1980 in Betrieb genommen – 47 Jahre …

Irgendwann liegt AGOSTINO-B hinter mir. Zeit, mal nach dem Motor zu sehen. Ich gehe nach unten, wo LEVJE ein großes Badezimmer mit Dusche besitze. Und öffne eine kleine Tür in der Wand. Jetzt habe ich den Motor vor mir. Er arbeitet in einer eigenen kleinen Kammer. Ich schalte das Licht an in dem kleinen Geviert. Schaue, ob der Motor irgendwo Öl verliert. Oder Kühlwasser. Lege die Hand auf die Stopfbuchse, durch die die sich drehende Welle durch den Bootskörper nach draußen geführt ist. Ob sie heiß ist. Aber alles sieht gut aus. Nichts auffälliges. Ich schließe die Wandtür. 


Es ist zwölf geworden. Zeit, die Schleppangel hinten rauszuhängen, vielleicht beißt ja etwas an während der Fahrt. Und mir etwas zu Mittag etwas zu kochen: Eine Tortilla vielleicht, mit gerösteten Zwiebeln und geraspelten Zuccini. Ich lasse LEVJE einfach weiter ins grenzenlose Blau laufen, schalte den Gasherd an, setze Zwiebeln auf, hoble Parmesan und schlage Eier. Und werfe alle zwei Minuten einen Blick oben ringsum. Ob AGOSTINO-B nicht vielleicht doch auf mich zufährt. Oder der dösende Wachhund aufgewacht ist. Oder irgendwas anderes. 

2. Draußen.

Sie ist kein sonderlich tiefes Meer, die Adria. Auf der gedachten Linie, auf der ich jetzt gerade unterwegs bin, 100 Kilometer südlich der Nordküste, ist die Adria gerade mal 45 Meter tief. Das ist wenig, gemesssen am Mittelmeer und seiner tiefsten Stelle mit 5.267 Metern. Jeder doofe Binnensee schafft da mehr. Der Bodensee 251 Meter. Der Starnberger See 128 Meter. Selbst der lumpige Ammersee ist fast doppelt so tief wie die Aria 100 km weit vom Nordufer entfernt. Im Grunde genommen ist die Adria eine breite, flache Senke. Eine Talsohle, die irgendwann erst spät in der Ausbildung dieses Mittelmeeres langsam voll Wasser lief, als es wärmer wurde und Gletscher und Polkappen zu schmelzen begannen und ihr Wasser die großen Ozeane füllte. Sie bleibt eine vollgelaufene Ebene, die Wassertiefe des Starnberger Sees erreicht sie erst weit im Süden, fast 300 Kilometer weiter südlich, irgendwo zwischen den Marken und der Insel Brac.  Erst zwischen Albanien und Bari fällt die Adria auf 1.260 Meter Tiefe ab. 

Das Flache hat sie geprägt: Im Sommer heizt das Wasser der Adria schnell auf. Und im frühen November ist es in Grado in den Lagunen schon wieder so kalt, dass Baden im Meer nur etwas für harte Burschen ist.  


Ich sitze auf LEVJE an meinem Lieblingsschreibtisch, im Niedergang. Ich habe alle Instrumente vor mir: Den Geschwindigkeitsmesser, der mir sagt, wie schnell wir durchs Wasser unterwegs sind. Daneben den Tiefenmesser, der mehrmals in der Sekunden einen Laut nach unten sendet. Und anhand seines Echos errechnet, wie weit der Meeresgrund in diesem Augenblick entfernt ist. „40,3 Meter“, sagt die Anzeige. Rechts daneben der Windmesser, der den gefühlten Wind oben an der Mastspitze misst und nach unten die Windrichtung und Windstärke meldet. Rechts daneben den Radarbildschirm. Er tastet fast 50 Kilometer weit voraus den Horizont ab, ich entdecke sieben kleine gelbe Flecke. Schiffe vermutlich, denn ich bin jetzt weit draußen. 4 Seemeilen, mehr als sieben Kilometer bin ich vom nächsten Schiff entfernt. Wieder ein Stück rechts die elektronische Seekarte mit allen Daten über meinen Kurs, über meine Geschwindigkeit.

3. Die verbaute See.

Ein Kurs ist nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Ich hatte mir in der elektronischen Seekarte als Kurs eben diese kürzeste Linie zwischen dem italienischen Ravenna und dem kroatischen Pula eingetragen. Aber der kürzeste Weg war das mitnichten.

Ich hatte vor der Abfahrt vergessen, mir meine Wegstrecke in der elektronischen Seekarte näher heranzuzoomen – ein Fehler, der im vergangenen VOLVO OCEAN-RACE eine der Rennyachten auf ein Riff mitten im nirgendwo der Ozeane führte.  Mir kam kein Riff in die Quere. Sondern am späten Nachmittag, als endlich Wind aus der richtigen Richtung kam und das Meer besonders frei und grenzenlos aussah, verschiedenes in den Weg:

1. Ein großes Verkehrstrennungsgebiet.
2. Unmittelbar hinter der Grenze: Ein großes kroatische Sperrgebiet mit weiteren Ölförderplattformen.
3. Dann noch mal ein großes Verkehrstrennungsgebiet


Nix mit grenzenlos. Der kleine Fehler kostete mich zwei Stunden Umweg – ich wollte nicht riskieren, auf hoher See von einem kroatischen Wachhund zur Rede gestellt zu werden, was ich denn unter Segeln mitten im Sperrgebiet zwischen den Ölförderplattformen herumzukrauchen hätte.


Wohlgemerkt: Es gibt kein Schild, das auf so etwas aufmerksam macht. Keinen Zaun. Die Adria, das Meer sieht frei aus und grenzenlos an dieser Stelle. Sie ist es aber ganz und gar nicht. 


Und wird es auch auf absehbare Zeit nicht sein. Am nächsten Tag sollte ich in Pula über dieses Schmuckstück stolpern: Die 6.815 Tonnen schwere Ölbohrplattform Labin. 1985 in Pula gebaut. Jetzt seit drei Jahren zur Reparatur in der Werft. Und dann? Wieder hinaus… 

4. Die blaue Stunde.

Und irgendwann hatte ich dann das riesige Sperrgebiet hinter mir. Es war früher Abend. Und für diese Stunden liebe ich Kroatien. Die Abendstunden, in denen ein sanftes Lüftchen weht. Und eine tonnenschwere Yacht einfach nur dahingleiten, dahin schnüren lässt. Als wäre es kein totes Gewicht, sondern ein graziles Wesen, das jeden Lufthauch einfängt. Und in federleichter Bewegung und schwerelosem Schweben wie die Fallschirme des Löwenzahns im Mai durch die Elemente gleiten lässt.

5. Die Nacht.

Sie ist so ganz anders. Stunden später ist alles in tiefe Dunkelheit gehüllt. Ich höre das Brummen des Motors. Ich sehe auf der elektronischen Seekarte, dass wir unter Motor mit 7 Knoten dahinmarschieren. Sonst: Sehe ich nur die Instrumente. Vor mir: Nur Dunkelheit, bis auf beiden Richtungslichter vorne im Bug. Das rote, das grüne, die anderen Schiffen in der Dunkelheit zeigen, in welche Richtung ich mich bewege. Immer noch 40 Meter Wassertiefe, wie den ganzen Tag über schon. Ein leichter Wind von vorn. Der Rest des Abendseglers, alles, was von der Abendsegler-Brise noch übrig ist. Vor mir in der Dunkelheit die Richtungsanzeiger grün/rot.

Sonst sehe ich nichts. Nicht das Wasser, das uns trägt. Nicht die Wellen. Ich höre sie nur, ein großer Organismus, der neben LEVJE atmet. Ich sehe nur die Instrumente des Cockpits im Dämmer. Und sonst nichts.

Als ich eine Stunde später den Kopf nach draußen stecke, sind sie da: Mit einem Mal sind sie da, die Lichter am Horizont. Die Lichter der Brijuni-Inseln.

 6. Der Anleger im Dunkeln.

Es ist kurz vor Mitternacht. Ich schleiche mich langsam zwischen den südlichen Brijuni Inseln hindurch. Die Seekarte gibt zuverlässig einen winkeligen Weg zwischen den Inseln hindurch vor. Hier, in den südlichen Brijuni-Inseln, ist das Ankern verboten. Naturschutzgebiet. Doch ein Stück außerhalb, nach Osten, mündet ein Fluss. Und kurz davor, auf fünf Meter Wassertiefe, liegt man geschützt für Bora und Yugo. Rumpelt fällt der Anker in die Tiefe. Noch einmal kurz daran ziehen und mit Maschine langsam rückwärts. Ob er auch wirklich hält. Dann Motor aus.

Stille.

Was für ein Tag.

Hardfacts:
Was braucht man, um mal eben schnell 
die Adriaseite zu wechseln?

1 seetüchtiges Boot, möglichst mit Motor und ausreichend Sprit.
1 guter Wetterbericht 
… in dieser Reihenfolge:
Meteomar (Kanal 68) der italienischen Luftwaffe
Seewetteramt Split
Windyty.com/Windguru.cz
1 gute Seekarte.
… und die Lust auf 14 Stunden Einsamkeit auf dem Meer.

… und wem 14 Stunden Einsamkeit zu wenig
und sechs Monate allein auf See immer noch nicht genug ist:

Wer reinschnuppern will: 
Das Buch ist  bei AMAZON und anderen erhältlich. 
Es hat 320 Seiten und etwa 100 Fotos und noch mehr Links. 

Und wer mehr darüber erfahren will: Hier sind alle Links: auf www.millemari.de.
Oder direkt zu AMAZON: Hier.

… und über dem Hafen von Ravenna geht eine lange Kette von Blitzen nieder…


 Mit Gewittern ist es nie so ganz einfach. Sie sind launisch. Unberechenbar. Sie entziehen sich jeder präzisen Ansage. Sie sind größer, viel viel größer, als wir denken. Und and am Ende bleibt nicht viel mehr festzuhalten als: Jedes Gewitter, das man erlebt, ist anders.

Der Tag war schwül gewesen. Keine Quellwolken, keine Wolke „höher als breit“, meine untrügliche Faustregel für Gewitterlagen. Einfach ein Tag, der feuchtwarme Luft herangetragen hatte. Und den Himmel mit schlierigen Wolken durchsetzt hatte. 

„Möglicherweise Gewitter“, orakelte der zuverlässige italienische Kanal 68. Und „Wind Nordost 4 bft. auffrischend“. Auch nichts Wildes. Nur die klugen Leute von WETTERONLINE hatten mich während eines Telefonats gewarnt. „Ravenna? Steht auf der Liste für Gewitterwarnungen“, und: „Ich würde nicht rausgehen. Da kommt mehr“.

Wie recht die Leute von WETTERONLINE hatten. Ich wollte es nicht glauben. Denn weil erst einmal nichts passierte und alles anders war als angesagt: Warf ich abends gegen acht die Leinen los, um draußen vor dem Hafen auf dem Meer zu übernachten. Aber kaum war ich draussen und hatte auf dem Meer vor dem Hafen geankert, frischte der Wind aus Nordost auf. Später als vorhergesagt. Mehr als vorhergesagt. Nach einer halben Stunde wurde mir das Geschaukel zu viel. Die Aussicht, auf eine lange Ankerwache war nichts, was ich jetzt wollte. Also zurück in den Hafen von Ravenna.


Alles friedlich. Nur der Leuchtturm schickt sein Licht in die Nacht. Das tut er eine Sekunde später immer noch. Aber da ist es mit einem Schlag nicht mehr Nacht:


Ein Blitz irgendwo in den Wolken erleuchtet den Hafen taghell. Ich sause unter Deck und schaue schnell auf www.blitzortung.org nach. Und stelle fest, was die WETTERONLINEs mir sagten „Da kommt noch mehr“: Das war nicht nur ein Gewitter. 


Sondern eine Kette von Gewittern, die von Südfrankreich bis nach Ostgriechenland reicht. Gewitter, die aufgereiht wie auf einer Perlenschnur nach Südosten ziehen. Und das dritte davon hatte uns eben erreicht:


Aber nicht bei jedem Blitz und jedem Knall, der unmittelbar darauf folgt, bleibt die Hand beim Fotografieren ruhig:


Es waren viele Blitze. Und ich fürchte, es werden diese Nacht noch viele weitere sein.


… und so sehr es auch aussehen mag: Als schlüge jeder dieser Blitze in irgendeines der Schiffe in der Marina von Ravenna ein. Nein, so ist es nicht. Hier jedenfalls nicht.

Aber wer kann das schon sagen. Bei Gewittern? Weiß man nie…

… und über dem Hafen von Ravenna geht eine lange Kette von Blitzen nieder…


 Mit Gewittern ist es nie so ganz einfach. Sie sind launisch. Unberechenbar. Sie entziehen sich jeder präzisen Ansage. Sie sind größer, viel viel größer, als wir denken. Und and am Ende bleibt nicht viel mehr festzuhalten als: Jedes Gewitter, das man erlebt, ist anders.

Der Tag war schwül gewesen. Keine Quellwolken, keine Wolke „höher als breit“, meine untrügliche Faustregel für Gewitterlagen. Einfach ein Tag, der feuchtwarme Luft herangetragen hatte. Und den Himmel mit schlierigen Wolken durchsetzt hatte. 

„Möglicherweise Gewitter“, orakelte der zuverlässige italienische Kanal 68. Und „Wind Nordost 4 bft. auffrischend“. Auch nichts Wildes. Nur die klugen Leute von WETTERONLINE hatten mich während eines Telefonats gewarnt. „Ravenna? Steht auf der Liste für Gewitterwarnungen“, und: „Ich würde nicht rausgehen. Da kommt mehr“.

Wie recht die Leute von WETTERONLINE hatten. Ich wollte es nicht glauben. Denn weil erst einmal nichts passierte und alles anders war als angesagt: Warf ich abends gegen acht die Leinen los, um draußen vor dem Hafen auf dem Meer zu übernachten. Aber kaum war ich draussen und hatte auf dem Meer vor dem Hafen geankert, frischte der Wind aus Nordost auf. Später als vorhergesagt. Mehr als vorhergesagt. Nach einer halben Stunde wurde mir das Geschaukel zu viel. Die Aussicht, auf eine lange Ankerwache war nichts, was ich jetzt wollte. Also zurück in den Hafen von Ravenna.


Alles friedlich. Nur der Leuchtturm schickt sein Licht in die Nacht. Das tut er eine Sekunde später immer noch. Aber da ist es mit einem Schlag nicht mehr Nacht:


Ein Blitz irgendwo in den Wolken erleuchtet den Hafen taghell. Ich sause unter Deck und schaue schnell auf www.blitzortung.org nach. Und stelle fest, was die WETTERONLINEs mir sagten „Da kommt noch mehr“: Das war nicht nur ein Gewitter. 


Sondern eine Kette von Gewittern, die von Südfrankreich bis nach Ostgriechenland reicht. Gewitter, die aufgereiht wie auf einer Perlenschnur nach Südosten ziehen. Und das dritte davon hatte uns eben erreicht:


Aber nicht bei jedem Blitz und jedem Knall, der unmittelbar darauf folgt, bleibt die Hand beim Fotografieren ruhig:


Es waren viele Blitze. Und ich fürchte, es werden diese Nacht noch viele weitere sein.


… und so sehr es auch aussehen mag: Als schlüge jeder dieser Blitze in irgendeines der Schiffe in der Marina von Ravenna ein. Nein, so ist es nicht. Hier jedenfalls nicht.

Aber wer kann das schon sagen. Bei Gewittern? Weiß man nie…

BIENNALE, Teil II. Unterwegs im Arsenale von Venedig.


Ein paar Schritte weiter hinter dem BIENNALE-Park, den „Giardini“ im Osten Venedigs lockt das Arsenale als zweiter großer Ausstellungsort. Das Arsenale: Geografisch nichts anderes als ein abgesperrtes Binnengewässer in der Osthälfte Venedigs, entstanden in den Sümpfen zwischen zwei Inseln im Osten der Stadt. Man legte die Gegend trocken, und sieben Jahrhunderte füllten sie mit Lagerhallen, Pulvertürmen, Eisengießereien, Seildrehereien, Werften für 1.000 Tonnen schwere Galeazzen, die gegen die Türken zogen. 

Für etwa 700 Jahre war das Arsenale wichtigste Werft und Waffenschmiede für Venedigs Handel und Flotte. Aber was tut man mit seinem solchen Gelände, wenn es nach 700 Jahren keiner mehr braucht? 

Während der BIENNALE jedenfalls ist ein Teil der Hallen im Arsenale auf der Fläche einer Kleinstadt für die Kunstmesse offen. Wie in den „Giardini“ präsentieren auch hier von Nationen ausgewählte Macher die Kunst der Gegenwart. Und machen die Ausstellung zu einem gelebten Happening.

Saudische Künstler zeigen ein überdimensionales Webmuster an der Wand. Eine Art Teppich, der sich über die Länge einer Wand hinzieht.

Und doch aus nichts anderem besteht als aus Tausendundeiner Tonkassette, auf hölzernen Serviertabletts zu einem Wandgemälde angeordnet.

Vielleicht ist es das: Sie ist so viel, die BIENNALE. Ein Spiegel. In dem sich die Welt spiegelt. Politisch. Und phantastisch. Und visionär. Und poetisch – wie das überdimensionale, aus Bambusstäben geflochtene Traumschiff im Pavillon Singapurs:


Ein Spiegel des nicht-organisierten „Anders-Denkens“ und der schillernd bunten Denkanstöße. Irgendwie konsumbefreit – soweit es den Kunstmarkt auf den beiden Ausstellungsparks angeht und nicht das große Anbieten und Feilschen in den Hunderten Gallerien, Vernissagen Venedigs.


In meinem vorigen Post über die BIENNALE schrieb ich bereits darüber, dass ich die größten Trouvaillen auf der BIENNALE abseits am Wegrand fand. In genau jenen Pavillions, wo ich mir sicher war, nicht hingehen zu müssen. Gerade da wartet Überraschendes. Also nahm ich – von Neugier getrieben – den kleinen blauen Vaporetto, der die Besucher über den Binnensee des Arsenale auf die andere Seite zu Füssen des Torre Nuovo hinüberbringt.


Nicht viele finden den Weg hierher auf die andere Seite, weil man sie nur mit dem Vaporetto erreicht. Aber da wartete auf mich, was mich am meisten faszinierte. In der Halle des „Libanesischen Pavillons“ ein abgedunkelter Raum, in den zwei freundliche Damen mit Taschenlampen wie Platzanweiserinnen im Kino den Besucher in eine abgedunkelte Halle führten. Hinein ins Dunkel, an das sich die Augen nur schwer gewöhnen. Eine Säule in der Mitte des abgedunkelten Raums. Getragene Männerbässe und Frauenstimmen aus Lautsprechern, ein Gesang, schwer wie ein Gebet. Licht, das langsam an Helligkeit gewinnt, nur für einen Moment während der elfminütigen Performance, und Zad Moultakas Säule des Sonnengottes für einen Moment in helles Licht taucht. Und die glitzernde Altarwand im Dunkel hinter der Säule. Die Performance im Dunkel: Ein 4.000 Jahre alter Gesang der Huldigung an Samas, den Gott der Sonne und der Gerechtigkeit.

Doch beides ist nicht, was es zu sein scheint. Das eine nicht Altar. Das andere nicht Gebetssäule. Das dritte nicht Huldigung, sondern Mahnung.


Was das Licht enthüllt, ist nicht Andachtssäule, sondern das meterhohe ROLLS-ROYCE-Strahltriebwerk eines Langstreckenbombers.


Und die glitzernde und gleissende Altarwand ist ein Mosaik aus 150.000 Geldmünzen. Der Krieg und das Geld, meint Zad Moultakas, sind unsere Götzen. Kann man dieses Gelände und unsere Gegenwart und Ost und West noch gelungener übereinander bringen? 


Und das Arsenale? Noch Mitte des 17. Jahrhunderts war das Gelände einer der größten vorindustriellen Industriekomplexe in Europa. Als längst portugiesische, spanische, britische und niederländische Rahsegler nicht nur den Atlantik, sondern auch das Mittelmeer vor Venedigs Haustür beherrschten, war das Arsenale immer noch ein perfekt funktionierender Produktionsbetrieb für – Galeeren. Sie lagerten – so wie man es in Jahrhunderten der Welt voraus entwickelt hatte – in Einzelteilen. Fertigkomponenten, die im Kriegsfall von den 10.000 Mitarbeitern des Arsenale innerhalb 24 Stunden zu einer Galeere zusammengebaut; ausgerüstet; bemannt; und seefertig aufs Meer geschickt wurden. Hier lagerten Einzelteile, um über Monate hinweg jeden Tag ein Schiff zu bauen.

Eine Galeere! Wo doch längst andere Meere, andere Schiffstypen für den Fernhandel wichtig geworden waren.

Im 19. Jahrhunderte kam das Arsenale in die Krise. Andere Werften – Triest, Riejeka, Pula – waren besser ausgerüstet. Und zeitgemäßer. Welt ist Wandel.

Trotzdem bauten sie weiter hier Schiffe. Im kleineren Umfang. Im kleineren Maßstab. 

Was sie wohl dächten – sie, die vor 100 Jahren in der Werft Barkassen, Schlepper, kleine Stahlrümpfe bauten. Und auch Kinder für die Arbeit in den Heizkesseln einsetzten.

Was sie wohl dächten, jeder einzelne, der uns über in Jahrhundert hinweg so unendlich und zukunftsgewiss in die Augen schaut? Wenn sie uns sähen?

Wie komm ich mit dem Boot 
zur BIENNALE? 
Die Hardfacts:

Die BIENNALE dauert noch 
bis Ende November 2017

Marinas für die Anreise mit dem Boot 
und in Laufweite zur BIENNALE:

Empfohlen: 
Marina Sant’Elena 
Gleich neben dem BIENNALE-Park. Zu Fuß zehn Minuten. 
Liegepreise: Für 37 Fuß ca. 75 €. 
Nicht billig. Gepflegt. Ruhig. 
tel. +39 041 520 26 75

Ebenfalls gut: 
DIPORTO VELICO VENEZIANO gleich nördlich.
Liegepreise: Für 37 Fuß ca. 52 €. 
Günstig. In Laufweite. Nicht ganz so gepflegt.
tel. +39 041 523 19 27

Ebenfalls möglich, 
doch mit happigen Kosten für Vaporetto zu Zweit verbunden 
(Einzelfahrt ca. 7 €/Tagesticket 20 €/Zweitagesticket 30€ pro Person) 
sind die übrigen Marinas in Venedig:

• MARINA DI LIO GRANDE, ca. 700 Meter von der Vaporetto-Station bei Punta Sabbioni. 
37 Fuß: 42 €
• IZOLA SAN GIORGIO, 1 Vaporetto-Station von San Marco entfernt. 
Spektakulär. Im Zentrum. Klein. Teuer.
• MARINA VENTO DI VENEZIA

Eintrittspreis BIENNALE für zwei Tage Giardini/Arsenale: 25€. 
Was gemessen an sonstigen Museumspreisen in Venedig geschenkt ist.

BIENNALE, Teil II. Unterwegs im Arsenale von Venedig.


Ein paar Schritte weiter hinter dem BIENNALE-Park, den „Giardini“ im Osten Venedigs lockt das Arsenale als zweiter großer Ausstellungsort. Das Arsenale: Geografisch nichts anderes als ein abgesperrtes Binnengewässer in der Osthälfte Venedigs, entstanden in den Sümpfen zwischen zwei Inseln im Osten der Stadt. Man legte die Gegend trocken, und sieben Jahrhunderte füllten sie mit Lagerhallen, Pulvertürmen, Eisengießereien, Seildrehereien, Werften für 1.000 Tonnen schwere Galeazzen, die gegen die Türken zogen. 

Für etwa 700 Jahre war das Arsenale wichtigste Werft und Waffenschmiede für Venedigs Handel und Flotte. Aber was tut man mit seinem solchen Gelände, wenn es nach 700 Jahren keiner mehr braucht? 

Während der BIENNALE jedenfalls ist ein Teil der Hallen im Arsenale auf der Fläche einer Kleinstadt für die Kunstmesse offen. Wie in den „Giardini“ präsentieren auch hier von Nationen ausgewählte Macher die Kunst der Gegenwart. Und machen die Ausstellung zu einem gelebten Happening.

Saudische Künstler zeigen ein überdimensionales Webmuster an der Wand. Eine Art Teppich, der sich über die Länge einer Wand hinzieht.

Und doch aus nichts anderem besteht als aus Tausendundeiner Tonkassette, auf hölzernen Serviertabletts zu einem Wandgemälde angeordnet.

Vielleicht ist es das: Sie ist so viel, die BIENNALE. Ein Spiegel. In dem sich die Welt spiegelt. Politisch. Und phantastisch. Und visionär. Und poetisch – wie das überdimensionale, aus Bambusstäben geflochtene Traumschiff im Pavillon Singapurs:


Ein Spiegel des nicht-organisierten „Anders-Denkens“ und der schillernd bunten Denkanstöße. Irgendwie konsumbefreit – soweit es den Kunstmarkt auf den beiden Ausstellungsparks angeht und nicht das große Anbieten und Feilschen in den Hunderten Gallerien, Vernissagen Venedigs.


In meinem vorigen Post über die BIENNALE schrieb ich bereits darüber, dass ich die größten Trouvaillen auf der BIENNALE abseits am Wegrand fand. In genau jenen Pavillions, wo ich mir sicher war, nicht hingehen zu müssen. Gerade da wartet Überraschendes. Also nahm ich – von Neugier getrieben – den kleinen blauen Vaporetto, der die Besucher über den Binnensee des Arsenale auf die andere Seite zu Füssen des Torre Nuovo hinüberbringt.


Nicht viele finden den Weg hierher auf die andere Seite, weil man sie nur mit dem Vaporetto erreicht. Aber da wartete auf mich, was mich am meisten faszinierte. In der Halle des „Libanesischen Pavillons“ ein abgedunkelter Raum, in den zwei freundliche Damen mit Taschenlampen wie Platzanweiserinnen im Kino den Besucher in eine abgedunkelte Halle führten. Hinein ins Dunkel, an das sich die Augen nur schwer gewöhnen. Eine Säule in der Mitte des abgedunkelten Raums. Getragene Männerbässe und Frauenstimmen aus Lautsprechern, ein Gesang, schwer wie ein Gebet. Licht, das langsam an Helligkeit gewinnt, nur für einen Moment während der elfminütigen Performance, und Zad Moultakas Säule des Sonnengottes für einen Moment in helles Licht taucht. Und die glitzernde Altarwand im Dunkel hinter der Säule. Die Performance im Dunkel: Ein 4.000 Jahre alter Gesang der Huldigung an Samas, den Gott der Sonne und der Gerechtigkeit.

Doch beides ist nicht, was es zu sein scheint. Das eine nicht Altar. Das andere nicht Gebetssäule. Das dritte nicht Huldigung, sondern Mahnung.


Was das Licht enthüllt, ist nicht Andachtssäule, sondern das meterhohe ROLLS-ROYCE-Strahltriebwerk eines Langstreckenbombers.


Und die glitzernde und gleissende Altarwand ist ein Mosaik aus 150.000 Geldmünzen. Der Krieg und das Geld, meint Zad Moultakas, sind unsere Götzen. Kann man dieses Gelände und unsere Gegenwart und Ost und West noch gelungener übereinander bringen? 


Und das Arsenale? Noch Mitte des 17. Jahrhunderts war das Gelände einer der größten vorindustriellen Industriekomplexe in Europa. Als längst portugiesische, spanische, britische und niederländische Rahsegler nicht nur den Atlantik, sondern auch das Mittelmeer vor Venedigs Haustür beherrschten, war das Arsenale immer noch ein perfekt funktionierender Produktionsbetrieb für – Galeeren. Sie lagerten – so wie man es in Jahrhunderten der Welt voraus entwickelt hatte – in Einzelteilen. Fertigkomponenten, die im Kriegsfall von den 10.000 Mitarbeitern des Arsenale innerhalb 24 Stunden zu einer Galeere zusammengebaut; ausgerüstet; bemannt; und seefertig aufs Meer geschickt wurden. Hier lagerten Einzelteile, um über Monate hinweg jeden Tag ein Schiff zu bauen.

Eine Galeere! Wo doch längst andere Meere, andere Schiffstypen für den Fernhandel wichtig geworden waren.

Im 19. Jahrhunderte kam das Arsenale in die Krise. Andere Werften – Triest, Riejeka, Pula – waren besser ausgerüstet. Und zeitgemäßer. Welt ist Wandel.

Trotzdem bauten sie weiter hier Schiffe. Im kleineren Umfang. Im kleineren Maßstab. 

Was sie wohl dächten – sie, die vor 100 Jahren in der Werft Barkassen, Schlepper, kleine Stahlrümpfe bauten. Und auch Kinder für die Arbeit in den Heizkesseln einsetzten.

Was sie wohl dächten, jeder einzelne, der uns über in Jahrhundert hinweg so unendlich und zukunftsgewiss in die Augen schaut? Wenn sie uns sähen?

Wie komm ich mit dem Boot 
zur BIENNALE? 
Die Hardfacts:

Die BIENNALE dauert noch 
bis Ende November 2017

Marinas für die Anreise mit dem Boot 
und in Laufweite zur BIENNALE:

Empfohlen: 
Marina Sant’Elena 
Gleich neben dem BIENNALE-Park. Zu Fuß zehn Minuten. 
Liegepreise: Für 37 Fuß ca. 75 €. 
Nicht billig. Gepflegt. Ruhig. 
tel. +39 041 520 26 75

Ebenfalls gut: 
DIPORTO VELICO VENEZIANO gleich nördlich.
Liegepreise: Für 37 Fuß ca. 52 €. 
Günstig. In Laufweite. Nicht ganz so gepflegt.
tel. +39 041 523 19 27

Ebenfalls möglich, 
doch mit happigen Kosten für Vaporetto zu Zweit verbunden 
(Einzelfahrt ca. 7 €/Tagesticket 20 €/Zweitagesticket 30€ pro Person) 
sind die übrigen Marinas in Venedig:

• MARINA DI LIO GRANDE, ca. 700 Meter von der Vaporetto-Station bei Punta Sabbioni. 
37 Fuß: 42 €
• IZOLA SAN GIORGIO, 1 Vaporetto-Station von San Marco entfernt. 
Spektakulär. Im Zentrum. Klein. Teuer.
• MARINA VENTO DI VENEZIA

Eintrittspreis BIENNALE für zwei Tage Giardini/Arsenale: 25€. 
Was gemessen an sonstigen Museumspreisen in Venedig geschenkt ist.